Beschluss vom 09.07.2002 -
BVerwG 4 B 14.02ECLI:DE:BVerwG:2002:090702B4B14.02.0

Beschluss

BVerwG 4 B 14.02

  • Thüringer OVG - 21.08.2001 - AZ: OVG 1 KO 1240/97

In der Verwaltungsstreitsache hat der 4. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 9. Juli 2002
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht
Dr. P a e t o w und die Richter am Bundesverwaltungs-
gericht H a l a m a und Prof. Dr. R o j a h n
beschlossen:

  1. Die Beschwerde der Klägerin gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Urteil des Thüringer Oberverwaltungsgerichts vom 21. August 2001 wird zurückgewiesen.
  2. Die Klägerin trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
  3. Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwerdeverfahren auf 500 000 € festgesetzt.

I


Die Beteiligten streiten darüber, ob der von der Klägerin auf dem Gebiet der Beklagten betriebene "Holz- und Baumarkt" einen großflächigen Einzelhandelsbetrieb darstellt, der wegen seiner Auswirkungen auf die städtebauliche Entwicklung und Ordnung der Beklagten nach § 11 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 BauNVO (1990) an seinem Standort unzulässig ist. Der Klägerin wurde eine Baugenehmigung zur Errichtung eines Holz- und Baubedarfs-Handelsbetriebs mit dem Zusatz "als Großhandel mit Einzelhandelsteilfunktion" erteilt. Sie begehrt die Verpflichtung der Beklagten, ihr diese Baugenehmigung uneingeschränkt und ohne den Zusatz zu erteilen. Sie ist der Ansicht, dass der "Holz- und Baumarkt" an seinem Standort als Einzelhandelsbetrieb zulässig sei.
Die Verpflichtungsklage der Klägerin war vor dem Verwaltungsgericht erfolgreich. Das Oberverwaltungsgericht hat auf die Berufung das erstinstanzliche Urteil abgeändert und die Klage abgewiesen: Der Betrieb liege im unbeplanten Innenbereich der Beklagten. Seine nähere Umgebung stelle sich als "faktisches Gewerbegebiet" dar (§ 34 Abs. 2 BauGB i.V.m. § 8 BauNVO). An diesem Standort sei der zum Zwecke des Einzelhandels genutzte Baumarkt bauplanungsrechtlich unzulässig. Die Geschossfläche betrage mehr als 5 000 m². Nach § 11 Abs. 3 Satz 3 BauNVO sei deshalb anzunehmen, dass sich der Betrieb nicht nur unwesentlich auf die städtebauliche Entwicklung und Ordnung auswirken könne. Diese Vermutungsregel finde zwar gemäß § 11 Abs. 3 Satz 4 BauNVO bei atypischer Fallgestaltung keine Anwendung. Ein atypischer Fall liege hier aber nicht vor.
Die Beschwerde der Klägerin richtet sich gegen die Nichtzulassung der Revision durch das Berufungsgericht.

II


Die auf § 132 Abs. 2 Nrn. 1 und 3 VwGO gestützte Beschwerde bleibt erfolglos. Aus dem Beschwerdevorbringen ergibt sich kein Grund für eine Zulassung der Revision.
1. Die Beschwerde rügt, das Oberverwaltungsgericht habe den von der Klägerin in der mündlichen Verhandlung gestellten Beweisantrag zu der Frage, ob von dem Vorhaben tatsächlich die in § 11 Abs. 3 BauNVO genannten Auswirkungen ausgegangen sind bzw. oder noch eintreten werden, zu Unrecht und mit einer fehlerhaften Begründung abgelehnt. Das verletze § 86 Abs. 1 und 2 VwGO. Diese Verfahrensrüge greift nicht durch.
Das Berufungsgericht hat den Beweisantrag der Klägerin mit der Begründung abgelehnt, eine weitere Aufklärung des Sachverhalts komme erst dann in Betracht, wenn die Vermutung des § 11 Abs. 3 Satz 3 BauNVO nicht greife, weil die Voraussetzungen des § 11 Abs. 3 Satz 4 BauNVO erfüllt seien. Zur Begründung verweist die Vorinstanz auf das Urteil des beschließenden Senats vom 3. Februar 1984 - BVerwG 4 C 54.80 – (BVerwGE 68, 342 <345>), in dem die Reichweite der Vermutungsregel in § 11 Abs. 3 Satz 3 BauNVO 1977 in grundsätzlicher Weise geklärt worden ist. Auf der Grundlage dieser Rechtsprechung war es nicht verfahrensfehlerhaft, den Beweisantrag der Klägerin abzulehnen.
§ 11 Abs. 3 Satz 3 BauNVO 1977/1990 geht in einer typisierenden Betrachtungsweise ("in der Regel") davon aus, dass bei großflächigen Einzelhandelsbetrieben mit einer Geschossfläche von mehr als 1 500 m² (1977) bzw. 1 200 m² (1990) Auswirkungen auf die städtebauliche Ordnung und Entwicklung - insbesondere auf die infrastrukturelle Ausstattung, auf den Verkehr und auf die Versorgung der Bevölkerung im Einzugsbereich dieser Betriebe - eintreten können. Betriebe, die die maßgebliche Geschossfläche überschreiten und dieser Regelvermutung des Verordnungsgebers unterliegen, sind außer in Kerngebieten nur in für sie festgesetzten Sondergebieten zulässig (§ 11 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 BauNVO 1990). Greift die Regelvermutung ein, erübrigt sich eine Beweisaufnahme zu den möglichen Auswirkungen des Betriebes. Die Vermutung des § 11 Abs. 3 Satz 3 BauNVO 1977/1990 ist allerdings widerleglich; sie kann entkräftet werden. § 11 Abs. 3 Satz 4 BauNVO 1990 bestimmt daher, dass die Regel des Satzes 3 nicht gilt, wenn Anhaltspunkte dafür bestehen, dass Auswirkungen der genannten Art bereits bei weniger als 1 200 m² Geschossfläche vorliegen oder bei mehr als 1 200 m² Geschossfläche nicht vorliegen; dabei sind in Bezug auf die genannten Auswirkungen insbesondere die Gliederung und Größe der Gemeinde und ihrer Ortsteile, die Sicherung der verbrauchernahen Versorgung der Bevölkerung und das Warenangebot des Betriebs zu berücksichtigen (§ 11 Abs. 3 Satz 4 Halbsatz 2 BauNVO 1990). Das entspricht den im Senatsurteil vom 3. Februar 1984 (a.a.O., S. 345 f.) aufgestellten Grundsätzen. Greift die Vermutungsregel wegen des Vorliegens einer atypischen Fallgestaltung nicht ein, ist im Hinblick auf die tatsächlichen Umstände des Einzelfalls - ggf. auch im Wege richterlicher Beweisaufnahme - aufzuklären, ob der zur Genehmigung gestellte großflächige Einzelhandelsbetrieb mit Auswirkungen der in § 11 Abs. 3 Satz 2 BauNVO genannten Art verbunden sein wird oder kann.
Der Beweisantrag der Klägerin berücksichtigt die Geltungskraft der Regelvermutung in § 11 Abs. 3 Satz 3 BauNVO nicht. Der Beweisantrag zielt auf die Klärung betrieblicher Auswirkungen, die aufgrund der Regelvermutung des Verordnungsgebers nicht klärungsbedürftig sind. Die Regelvermutung kann nicht in der Weise "ausgehebelt" werden, dass die tatsächlichen Auswirkungen eines großflächigen Einzelhandelsbetriebs, deren Vorliegen kraft rechtlicher Anordnung vermutet wird, zum Gegenstand einer richterlichen Beweisaufnahme gemacht werden. Der beschließende Senat verkennt nicht, dass die tatsächlichen Umstände, die nach § 11 Abs. 3 Satz 4 BauNVO 1990 Anhaltspunkte für das Bestehen einer atypischen Fallgestaltung bieten, beweisbedürtig sein können. Einen Antrag, der das Vorliegen b e s t i m m t e r atypischer Abweichungen von der der Regelvermutung zugrunde liegenden typischen betrieblichen oder städtebaulichen Situation unter Beweis stellt, hat die Klägerin jedoch nicht gestellt. Das ergibt sich eindeutig aus dem in der Niederschrift über die mündliche Verhandlung vor dem Berufungsgericht am 31. Januar 2001 wiedergegebenen Wortlaut des Beweisantrags.
2. Die Rechtssache hat auch nicht die grundsätzliche Bedeutung, die ihr die Klägerin beimisst.
2.1 Die Beschwerde wirft als grundsätzlich bedeutsam die Frage auf, ob das Gericht einen Beweisantrag zur Einholung eines Sachverständigengutachtens zu den in § 11 Abs. 3 Satz 2 BauNVO genannten Auswirkungen bereits deshalb ablehnen kann, weil aus seiner Sicht keine Anhaltspunkte für die Widerlegung der Vermutungsregel des § 11 Abs. 3 Satz 3 BauNVO bestehen. Diese Frage ist, soweit sie überhaupt in verallgemeinerungsfähiger Weise geklärt werden kann, auf der Grundlage der vorstehenden Ausführungen zu § 11 Abs. 3 Satz 3 BauNVO ohne weiteres zu bejahen. Die Frage ist deshalb in einem Revisionsverfahren nicht klärungsbedürftig.
Die Klägerin sieht revisionsgerichtlichen Klärungsbedarf, weil die Vermutungsregel vorrangig nur für die Frage des Umfangs der Ermittlungen von Amts wegen von Bedeutung sei, das Beweiserhebungsrecht der Prozessparteien jedoch nicht einschränke. Diese Ansicht ist mit der Rechtsnatur und dem Regelungszweck der Vermutung in § 11 Abs. 3 Satz 3 BauNVO nicht vereinbar. Die Beschwerde verkennt wiederum die rechtliche Tragweite der typisierenden Betrachtungsweise, die dieser Norm zugrunde liegt. Die großflächigen Einzelhandelsbetriebe, die vom Typ her, d.h. im Regelfall, die Auswirkungen haben, die § 11 Abs. 3 Satz 2 BauNVO beispielhaft benennt, sind bei Überschreitung einer bestimmten Geschossfläche (1 200 m²) infolge der Regelvermutung außerhalb von Kern- und Sondergebieten unzulässig. Im Grundsatz auf der gleichen Ebene liegt die typisierende Umschreibung der Nutzungsarten in den Baugebieten der §§ 2 bis 9 BauNVO (vgl. hierzu Senatsurteil vom 3. Februar 1984, a.a.O., S. 346 ff.). Die Vermutungsregel in § 11 Abs. 3 Satz 3 BauNVO hat zwar auch den Zweck, Genehmigungsbehörden und Verwaltungsgerichte nach Art einer Beweiserleichterung im Einzelfall von schwierigen Ermittlungen bei der Überprüfung der Auswirkungen eines großflächigen Einzelhandelsbetriebs zu entlasten. Darin erschöpft sich ihre rechtliche Bedeutung jedoch nicht. In ihrem Anwendungsbereich stellt die Vermutungsregel eine Zulässigkeitsschranke auf, die für Genehmigungsbehörden und Gerichte gleichermaßen verbindlich ist.
2.2 Die Beschwerde formuliert ferner als grundsätzlich bedeutsam die Frage, ob auch einer baulichen Anlage, die nicht dem ständigen Aufenthalt von Menschen dienen soll, im Hinblick auf das Einfügungsgebot nach § 34 Abs. 1 BauGB prägende Wirkung zukommen kann. Diese Frage wäre in einem Revisionsverfahren nicht klärungsbedürftig, da sie nicht entscheidungserheblich wäre. Das Berufungsgericht hat als planungsrechtliche Beurteilungsgrundlage § 34 Abs. 2 BauGB i.V.m. § 8 BauNVO herangezogen und hierzu u.a. ausgeführt, dass das benachbarte Kleingartengelände mit den dort auch befindlichen größeren Lauben dem Außenbereich zuzurechnen sei. In der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ist im Übrigen geklärt, dass die Grundsätze zur Abgrenzung des Innenbereichs vom Außenbereich, die zu § 34 Abs. 1 BauGB entwickelt worden sind, auf die Abgrenzung der näheren Umgebung im Sinne von § 34 Abs. 2 BauGB sinngemäß übertragen werden können (vgl. Senatsbeschluss vom 11. Februar 2000 - BVerwG 4 B 1.00 - Buchholz 406.11 § 34 BauGB Nr. 197). Das gilt auch für die Frage nach einem Bebauungszusammenhang in der näheren Umgebung des geplanten Vorhabens. Unter den Begriff der Bebauung im Sinne von § 34 Abs. 1 und 2 BauGB fällt nicht jede beliebige bauliche Anlage. Gemeint sind Bauwerke, die für die angemessene Fortentwicklung der vorhandenen Bebauung maßstabsbildend sind. Hierzu zählen grundsätzlich nur Bauwerke, die dem ständigen Aufenthalt von Menschen dienen. Baulichkeiten, die wie z.B. Wochenend- und Gartenhäuser nur vorübergehend zu Freizeitzwecken genutzt werden, prägen die Siedlungsstruktur der näheren Umgebung in aller Regel nicht. Das schließt Abweichungen im Einzelfall nicht aus. Es obliegt letztlich der tatrichterlichen Würdigung, ob ein Kleingartengelände mit seinen Gartenlauben aufgrund seiner optisch wahrnehmbaren Eigenart Bestandteil eines Bebauungszusammenhangs ist und in die Eigenart der näheren Umgebung im Sinne von § 34 Abs. 2 BauGB einzubeziehen ist (vgl. hierzu Senatsbeschluss vom 2. März 2000 - BVerwG 4 B 15.00 - Buchholz 406.11 § 34 BauGB Nr. 198 = ZfBR 2000, 428 m.w.N.).
3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO, die Festsetzung des Streitwerts auf § 14 Abs. 3, § 13 Abs. 1 Satz 1 GKG.