Beschluss vom 10.07.2019 -
BVerwG 1 B 45.19ECLI:DE:BVerwG:2019:100719B1B45.19.0

  • Zitiervorschlag

    BVerwG, Beschluss vom 10.07.2019 - 1 B 45.19 - [ECLI:DE:BVerwG:2019:100719B1B45.19.0]

Beschluss

BVerwG 1 B 45.19

  • VG Köln - 02.12.2014 - AZ: VG 5 K 5221/13
  • OVG Münster - 26.02.2019 - AZ: OVG 18 A 44/15

In der Verwaltungsstreitsache hat der 1. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 10. Juli 2019
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Berlit, die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Fricke und
den Richter am Bundesverwaltungsgericht Böhmann
beschlossen:

  1. Auf die Beschwerde des Beklagten wird das Urteil des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 26. Februar 2019 aufgehoben. Die Sache wird zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das Oberverwaltungsgericht zurückverwiesen.
  2. Die Entscheidung über die Kosten in der Hauptsache bleibt der Schlussentscheidung vorbehalten.
  3. Die Entscheidung über die Kosten des Beschwerdeverfahrens folgt der vorbehaltenen Kostenentscheidung in der Hauptsache.
  4. Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwerdeverfahren auf 10 000 € festgesetzt.

Gründe

1 Die Beschwerde des Beklagten gegen die Nichtzulassung der Revision ist begründet. Er macht mit Erfolg einen entscheidungserheblichen Verfahrensmangel geltend. Dieser führt gemäß § 133 Abs. 6 i.V.m. § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung der Sache an das Oberverwaltungsgericht.

2 1. Die Beschwerde rügt mit Recht einen Verstoß gegen die Pflicht des Oberverwaltungsgerichts zur Sachverhaltsaufklärung (§ 86 Abs. 1 VwGO), auf dem das Urteil des Oberverwaltungsgerichts auch beruhen kann.

3 a) Eine Aufklärungsrüge erfordert die substantiierte Darlegung, welche Tatsachen auf der Grundlage des materiell-rechtlichen Standpunkts des Oberverwaltungsgerichts aufklärungsbedürftig waren, welche für erforderlich oder geeignet gehaltenen Aufklärungsmaßnahmen hierfür in Betracht kamen, welche tatsächlichen Feststellungen dabei voraussichtlich getroffen worden wären und inwiefern das unterstellte Ergebnis zu einer dem Beschwerdeführer günstigeren Entscheidung hätte führen können. Weiterhin muss entweder dargelegt werden, dass bereits im Verfahren vor dem Tatsachengericht, insbesondere in der mündlichen Verhandlung, auf die Vornahme der Sachverhaltsaufklärung, deren Unterbleiben nunmehr gerügt wird, durch einen unbedingten Beweisantrag oder jedenfalls eine sonstige Beweisanregung hingewirkt worden ist und die Ablehnung der Beweiserhebung im Prozessrecht keine Stütze findet, oder aufgrund welcher Anhaltspunkte sich dem Gericht die bezeichneten Ermittlungen auch ohne ein solches Hinwirken hätten aufdrängen müssen (vgl. BVerwG, Beschlüsse vom 28. Mai 2013 - 7 B 46.12 - juris Rn. 4 und vom 14. Januar 2016 - 7 B 19.15 - juris Rn. 4 m.w.N.).

4 b) Das Oberverwaltungsgericht hat den Behördenzeugnissen des Bundesamtes für Verfassungsschutz (BfV) zu den Aktivitäten des Klägers im Zusammenhang mit der PKK, die der Beklagte zur Begründung der Ausweisung des Klägers eingeführt hat, als sekundäre Beweismittel nur eingeschränkten Beweiswert zugemessen (UA S. 16). Die aufgrund des Beweisbeschlusses vom 13. April 2017 erlangten Erkenntnisse des BfV zu den Funktionen des Klägers innerhalb der PKK hat es mangels der für erforderlich gehaltenen Überprüfbarkeit der Validität der anonymisierten Quellen unberücksichtigt gelassen und - auch insoweit - die Ausweisung rechtfertigende zwingende Gründe der nationalen Sicherheit oder öffentlichen Ordnung im Sinne von § 53 Abs. 1 AufenthG verneint; es sehe trotz erteilter Hinweise an die Beteiligten (zur Erforderlichkeit der Überprüfung der Quellen) keine erfolgversprechenden weiteren Ermittlungsansätze (UA S. 18 f.).

5 Hiergegen wendet die Beschwerde zutreffend ein, dass der Beklagte das Berufungsgericht wiederholt schriftsätzlich ersucht hat, das BfV um Benennung eines Zeugen zu ersuchen, welcher zu den Behördenzeugnissen Stellung beziehen sowie zu den zugrundeliegenden Sachverhalten, insbesondere zur Tätigkeit des Klägers als Funktionär der PKK, nähere Angaben machen könne. Da der Beweisbeschluss nicht auf eine Zeugenvernehmung gerichtet war, hatte das BfV bei Übersendung der hiervon erfassten Akten auch keine Veranlassung, von sich aus Zeugen zu benennen. Zudem hat der Beklagte im Berufungsverfahren darauf hingewiesen, dass das BfV einen Zeugen erst nach Aufforderung durch das Gericht benennen werde. Zwar liegt die Beweislast für das der Ausweisungsverfügung zugrunde gelegte Verhalten des Klägers bei der beklagten Ausländerbehörde. Es ist jedoch zu berücksichtigen, dass es sich um Erkenntnisse des BfV handelt, zu denen der Beklagte selbst keine Zeugen benennen kann. Auch wenn der Beklagte nach seiner Erklärung im Schriftsatz vom 22. November 2018 unter Verweis auf sein bisheriges Vorbringen keinen ausdrücklichen Beweisantrag stellen wollte und einen solchen - insbesondere gerichtet auf die Vernehmung von Zeugen des BfV - auch nicht gestellt hat, bestand dennoch ein Ermittlungsansatz und hätte sich dem Oberverwaltungsgericht bei dieser Sachlage eine weitere Sachverhaltsaufklärung bezüglich der Validität der Quellen zu den durch die Behördenzeugnisse des Verfassungsschutzes bestätigten Meldungen über die Funktionen des Klägers innerhalb der PKK durch das vom Beklagten angeregte Ersuchen des Gerichts an das BfV zur Benennung von Zeugen aufdrängen müssen.

6 c) Auf diesem Verfahrensmangel kann die Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts auch beruhen. Es erscheint nicht ausgeschlossen, dass das Oberverwaltungsgericht den Beweiswert der Angaben in den Behördenzeugnissen des BfV bei einer Überprüfung der Validität der Quellen anders beurteilt und seiner Überzeugungsbildung hinsichtlich des Bestehens eines Ausweisungsinteresses und des Anspruchs auf Verlängerung bzw. Erteilung eines Aufenthaltstitels zugrunde gelegt hätte.

7 2. Auf die von dem Beklagten weiter erhobene Grundsatzrüge kommt es danach nicht mehr an. Im Übrigen ist die von der Beschwerde für grundsätzlich klärungsbedürftig gehaltene Frage nach dem Beweiswert von Behördenzeugnissen des Verfassungsschutzes im verwaltungsgerichtlichen Verfahren in der höchstrichterlichen Rechtsprechung geklärt.

8 Der Grundsatz der freien Beweiswürdigung gemäß § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO enthält keine generellen Maßstäbe für den Aussage- und Beweiswert einzelner zum Prozessstoff gehörender Beweismittel, Erklärungen und Indizien. Insbesondere besteht keine Rangordnung der Beweismittel; diese sind grundsätzlich gleichwertig. Die Verwaltungsgerichte müssen den Aussage- und Beweiswert der verschiedenen Bestandteile des Prozessstoffes nach der inneren Überzeugungskraft der Gesamtheit der in Betracht kommenden Erwägungen bestimmen. Dabei sind sie lediglich an Logik (Denkgesetze) und Naturgesetze gebunden und müssen gedankliche Brüche und Widersprüche vermeiden. Die Vorlage "schlichter" Behördenzeugnisse, die sich in pauschalen Behauptungen erschöpfen und nicht durch Angabe konkreter, eine Einschätzung der Verlässlichkeit ermöglichender Tatsachen untermauert werden, können dem Tatrichter regelmäßig nicht die volle Überzeugung von der Wahrheit substantiiert bestrittener Tatsachenbehauptungen vermitteln. Werden dem Gericht für entscheidungserheblich gehaltene Unterlagen von der Behörde nach § 99 Abs. 1 Satz 2 VwGO aus Gründen der Geheimhaltungsbedürftigkeit nicht vorgelegt und unterbleibt die Vorlage auch als Ergebnis eines gerichtlichen Zwischenverfahrens nach § 99 Abs. 2 VwGO, ist die Möglichkeit der nach § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO zu bildenden Überzeugung nach dem Gesamtergebnis aus gesetzlichen Gründen eingeschränkt. Dies darf weder zum Nachteil der Behörde gewertet werden noch wird dadurch der Grundsatz der freien Beweiswürdigung durch eine gesetzliche Beweisregel zu Gunsten des Beklagten eingeschränkt. Unter solchen Umständen wird es vielmehr in der Regel des ergänzenden Rückgriffs auf andere Erkenntnisquellen bedürfen, die das Tatsachengericht zusammen mit dem Inhalt des Behördenzeugnisses im Rahmen seiner Überzeugungsbildung umfassend zu würdigen hat (vgl. BVerwG, Urteil vom 21. Mai 2008 - 6 C 13.07 - BVerwGE 131, 171 Rn. 28 ff.). Auch wenn es sich bei Behördenzeugnissen der Verfassungsschutzämter des Bundes und der Länder regelmäßig nur um sekundäre Beweismittel handelt, welche die unmittelbaren Quellen der dort wiedergegebenen Erkenntnisse nicht oder nur unvollständig offenlegen und daher einer vorsichtigen Würdigung und der Heranziehung weiterer zur Verfügung stehender Erkenntnismöglichkeiten bedürfen, nimmt dies Behördenzeugnissen nicht von vornherein jeglichen Beweiswert. Der Umfang ihrer Beweiskraft bedarf vielmehr einer Prüfung im Einzelfall. Soweit in den Behördenzeugnissen der Inhalt primärer Beweismittel wiedergegeben wird, beurteilt sich die Zuverlässigkeit dieser Angaben nach allgemeinen Grundsätzen. Insoweit kann etwa die Konkretheit der Ausführungen ebenso von Bedeutung sein wie deren Umfang oder Objektivierung anhand weiterer, unmittelbar vorliegender Beweismittel (BGH, Beschluss vom 12. August 2015 - StB 8/15 - NStZ 2016, 370). Eine Maßnahme kann aber nicht allein mit staatlichen Organen vorliegenden Erkenntnissen gerechtfertigt werden, die dem Gericht im Einzelnen nicht unterbreitet werden. Insbesondere können substantiiert bestrittene Tatsachenbehauptungen der Behörde, die auf nachrichtendienstlichen Erkenntnissen und Einschätzungen beruhen und gerichtlicher Beweiserhebung wegen der Verweigerung der Vorlage der entsprechenden Vorgänge nicht zugänglich sind, lediglich die durch andere Erkenntnisse gestützte Überzeugung des Gerichts im Sinne einer Abrundung des Gesamtbilds bestätigen, jedoch für die gerichtliche Überzeugungsbildung ohne eine weitergehende Sachverhaltsaufklärung selbst dann nicht ausschlaggebend sein, wenn sie plausibel sind. Dies gilt auch, wenn die Behörde statt ihrer Akten sogenannte Behördenzeugnisse überreicht, in denen nicht näher belegte Tatsachen behauptet werden (vgl. zum Vereinsverbot: BVerwG, Urteil vom 3. Dezember 2004 - 6 A 10.02 - Buchholz 402.45 VereinsG Nr. 41 S. 79 f.). Neuerlichen oder weitergehenden Klärungsbedarf zeigt die Beschwerde nicht auf.

9 4. Der Senat sieht von der Zulassung der Revision auf Grund der durchgreifenden Verfahrensrüge ab und macht stattdessen von der Möglichkeit Gebrauch, den Rechtsstreit unter Aufhebung des angefochtenen Urteils zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen (§ 133 Abs. 6 VwGO).

10 5. Die Entscheidung über die Kosten bleibt der Schlussentscheidung vorbehalten. Die Festsetzung des Streitwertes ergibt sich aus § 47 Abs. 1 und 3, § 52 Abs. 2 GKG, wobei für die Ausweisung und die Titelerteilung jeweils der Auffangwert anzusetzen war.