Beschluss vom 08.02.2011 -
BVerwG 10 B 1.11ECLI:DE:BVerwG:2011:080211B10B1.11.0
Leitsatz:
Mit einer Gefahrenprognose (hier: Ablehnung einer Extremgefahr gemäß § 60 Abs. 7 Satz 1 und 3 AufenthG in verfassungskonformer Anwendung) verfehlt das Berufungsgericht nicht deswegen das von § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO geforderte Regelbeweismaß der Überzeugungsgewissheit, weil seine Wahrscheinlichkeitsaussage auch andere Geschehensverläufe nicht auszuschließen vermag.
Beschluss
BVerwG 10 B 1.11
- OVG für das Land Nordrhein-Westfalen - 28.10.2010 - AZ: OVG 4 A 1010/06.A
- VG Köln - 13.02.2006 - AZ: VG 5 K 7195/05.A
In der Verwaltungsstreitsache hat der 10. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 8. Februar 2011
durch die Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Dörig, Richter und Prof. Dr. Kraft
beschlossen:
- Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe und Beiordnung einer Rechtsanwältin wird abgelehnt.
- Die Beschwerde der Klägerinnen gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Urteil des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 28. Oktober 2010 wird zurückgewiesen.
- Die Klägerinnen tragen die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
Gründe
1 Den Klägerinnen, Mutter und Tochter, kann die beantragte Prozesskostenhilfe nicht bewilligt werden, weil ihre Beschwerde - wie sich aus den nachstehenden Ausführungen ergibt - keine Aussicht auf Erfolg hat (§ 166 VwGO i.V.m. §§ 114 ff. ZPO). Die Beschwerde, mit der Verfahrensmängel (§ 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO) geltend gemacht werden, ist unbegründet.
2 1. Die Beschwerde rügt als Verfahrensmangel die Verletzung des § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO. Das Berufungsgericht habe sich bei seiner Prognose zu § 60 Abs. 7 Satz 1 und 3 AufenthG nicht die notwendige Überzeugungsgewissheit davon gebildet, dass die Klägerinnen bei einer Rückkehr nach Kinshasa mit Sicherheit mit der Unterstützung von Familienangehörigen oder Nichtregierungsorganisationen rechnen könnten. Genauso verhalte es sich mit den Feststellungen des Berufungsgerichts zu der Frage, ob die Klägerinnen bei einer Rückkehr in den Großraum Kinshasa alsbald mit hoher Wahrscheinlichkeit an einer dort verbreiteten Infektionskrankheit (vor allem Malaria) ernsthaft erkranken und infolgedessen sterben oder doch zumindest schwerste Gesundheitsschäden davontragen würden. Die Rügen greifen nicht durch.
3 a) Die Grundsätze der Beweiswürdigung sind revisionsrechtlich nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts regelmäßig nicht dem Verfahrensrecht, sondern dem sachlichen Recht zuzuordnen (vgl. nur Beschlüsse vom 12. Januar 1995 - BVerwG 4 B 197.94 - Buchholz 406.12 § 22 BauNVO Nr. 4 S. 4 = NVwZ-RR 1995, 310; vom 2. November 1995 - BVerwG 9 B 710.94 - Buchholz 310 § 108 VwGO Nr. 266 S. 18 f. = NVwZ-RR 1996, 359 und vom 18. April 2008 - BVerwG 8 B 105.07 - ZOV 2008, 168, jeweils m.w.N.). Ein Verfahrensfehler kann aber ausnahmsweise dann gegeben sein, wenn die Beweiswürdigung objektiv willkürlich ist, gegen die Denkgesetze verstößt oder einen allgemeinen Erfahrungssatz missachtet (Beschlüsse vom 25. Juni 2004 - BVerwG 1 B 249.03 - Buchholz 402.25 § 1 AsylVfG Nr. 284 und vom 16. Juni 2003 - BVerwG 7 B 106.02 - Buchholz 303 § 279 ZPO Nr. 1 = NVwZ 2003, 1132 <1135>, jeweils m.w.N.). Auch das Vorbringen, das Gericht habe den Sachverhalt „aktenwidrig“ festgestellt, kann einen Verfahrensmangel gemäß § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO betreffen, wenn zwischen den in der angegriffenen Entscheidung getroffenen tatsächlichen Annahmen und dem insoweit unumstrittenen Akteninhalt ein offensichtlicher, keiner weiteren Beweiserhebung bedürftiger „zweifelsfreier“ Widerspruch vorliegt (Beschlüsse vom 19. November 1997 - BVerwG 4 B 182.97 - Buchholz 406.11 § 153 BauGB Nr. 1 und vom 16. März 1999 - BVerwG 9 B 73.99 - Buchholz 310 § 108 Abs. 2 VwGO Nr. 7). Ein Verfahrensmangel bei der Beweiswürdigung liegt aber nur dann vor, wenn der gerügte Fehler sich hinreichend eindeutig von der materiellrechtlichen Subsumtion, d.h. der korrekten Anwendung des sachlichen Rechts abgrenzen lässt und der Tatrichter den ihm bei der Tatsachenfeststellung durch den Grundsatz freier Beweiswürdigung gemäß § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO eröffneten Wertungsrahmen verlassen hat. Das kann auch dadurch geschehen, dass die Vorinstanz bei der Tatsachenfeststellung das Regelbeweismaß richterlicher Überzeugungsgewissheit gemäß § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO verfehlt hat (Beschluss vom 14. Juli 2010 - BVerwG 10 B 7.10 - NVwZ 2011, 55). Ein solcher Fall ist hier aber entgegen der Auffassung der Beschwerde nicht gegeben.
4 b) Das Berufungsgericht ist - in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des beschließenden Senats (zuletzt Urteil vom 29. Juni 2010 - BVerwG 10 C 10.09 - NVwZ 2011, 48) - davon ausgegangen, die Durchbrechung der in § 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG angeordneten Sperrwirkung im Wege verfassungskonformer Auslegung und Anwendung setze voraus, dass die drohenden Gefahren nach Art, Ausmaß und Intensität von einem solchen Gewicht sind, dass sich daraus bei objektiver Betrachtung für den Ausländer die begründete Furcht ableiten lässt, selbst in erheblicher Weise ein Opfer der extremen allgemeinen Gefahrenlage zu werden. Bezüglich der Wahrscheinlichkeit des Eintritts der drohenden Gefahren hat es im Vergleich zum Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit einen erhöhten Maßstab zugrunde gelegt und zudem verlangt, dass sich die geltend gemachten Gefahren alsbald nach der Rückkehr realisieren (UA S. 9 ff.).
5 Unter Zugrundelegung dieser Maßstäbe hat das Berufungsgericht auf der Grundlage seiner tatsächlichen Feststellungen zur allgemeinen Versorgungslage in der Demokratischen Republik Kongo keine individuellen Umstände festgestellt, die die Annahme rechtfertigen könnten, dass die Klägerinnen mit hoher Wahrscheinlichkeit alsbald nach ihrer Rückkehr nach Kinshasa verhungern oder verelenden würden. Im Gegenteil spreche vieles dafür, dass sie Unterstützung durch Verwandte erhielten, erforderlichenfalls aber auch unabhängig davon in der Lage seien, für das Lebensnotwendigste zu sorgen. Diese Annahme hat das Berufungsgericht darauf gestützt, dass jedenfalls eine Nichte der Klägerin zu 1 in Kinshasa und vier ihrer Geschwister in Brazzaville lebten; von ihnen könne die Klägerin zu 1 Hilfe bei ihrer Rückkehr erhalten, wie dies offenbar in der Vergangenheit bereits der Fall gewesen sei. Schließlich erscheine es aufgrund ihrer eigenen Angaben als wahrscheinlich, dass sie und ihre Familie in Kinshasa vergleichsweise gut situiert gewesen seien und sich mit den dortigen Lebensverhältnissen arrangiert hätten (UA S. 21 f.). Auch vor dem Hintergrund der allgemeinen Feststellungen zum Gesundheitswesen in der Demokratischen Republik Kongo könne nicht von einer „Extremgefahr“ für die Klägerinnen ausgegangen werden. Dass sie nach Rückkehr mangels finanzieller Mittel in einem Slumviertel leben müssten und von der gesundheitlichen Versorgung ausgeschlossen wären, sei wenig wahrscheinlich (UA S. 28).
6 c) Die Beschwerde hält dem entgegen, das Berufungsgericht bringe mit diesen Ausführungen nur die Möglichkeit zum Ausdruck, dass es sich so wie von ihm beschrieben verhalten könne; möglich sei aber auch der gegenteilige Sachverhalt. Die darauf gestützte Rüge der Verletzung des § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO ist unbegründet.
7 d) Die Verpflichtung zur Feststellung eines Abschiebungsverbots gemäß § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG verlangt die Erstellung einer Gefahrenprognose. Dazu zieht der Tatrichter auf der Basis von Erkenntnissen, die er aus Vergangenheit und Gegenwart gewonnen hat, zukunftsorientierte Schlussfolgerungen. Diese Projektion ist als Vorwegnahme zukünftiger Geschehnisse - im Unterschied zu Aussagen über Vergangenheit und Gegenwart - typischerweise mit Unsicherheiten belastet. Zu einem zukünftigen Geschehen ist nach der Natur der Sache immer nur eine Wahrscheinlichkeitsaussage möglich. Dieser Befund ändert jedoch nichts daran, dass der Tatrichter sich gemäß § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO die volle Überzeugungsgewissheit von der Richtigkeit sowohl der Prognosebasis als auch der zu treffenden Prognose zu verschaffen hat.
8 Hinsichtlich der vergangenen und gegenwärtigen Prognosegrundlagen gilt der allgemeine Grundsatz, dass das Gericht keine unerfüllbaren Beweisanforderungen stellen und keine unumstößliche Gewissheit verlangen darf, sondern sich in tatsächlich zweifelhaften Fällen mit einem für das praktische Leben brauchbaren Grad von Gewissheit begnügen darf, der Zweifeln Schweigen gebietet, auch wenn sie nicht völlig auszuschließen sind (Urteil vom 16. April 1985 - BVerwG 9 C 109.84 - BVerwGE 71, 180 <181> zu den Grundlagen der asylrechtlichen Verfolgungsprognose mit Verweis auf BGHZ 53, 245 <256>). Im Hinblick auf die - verfahrensfehlerfrei gewonnene - zukunftsbezogene Prognose selbst kann ein „voller Beweis“ nicht erbracht werden. Insoweit reicht - wie sich bereits aus dem Gefahrbegriff ergibt - im Rahmen des § 60 Abs. 7 Satz 1 und 3 AufenthG im Regelfall die beachtliche - und bei verfassungskonformer Anwendung der Vorschriften zur Durchbrechung der Sperrwirkung des Satzes 3 eine erhöhte - Wahrscheinlichkeit des angenommenen zukünftigen Geschehensverlaufs aus. Davon muss das Gericht voll überzeugt sein (Urteil vom 16. April 1985 a.a.O. S. 182).
9 e) Legt man diese Maßstäbe zugrunde, hat das Berufungsgericht § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO nicht verletzt. Nach seinen Feststellungen zu den Bedingungen bei der Rückkehr können „… die Klägerinnen zur Überzeugung des Senats auf familiären Rückhalt im Kongo bauen …“ (UA S. 21). Hinsichtlich der dafür erheblichen tatsächlichen Grundlagen, der Anwesenheit von Familienmitgliedern im Heimatland, hat es sich nicht mit der Möglichkeit begnügt, dass es sich so verhalten könnte, sondern ist auf der Grundlage des Sachvortrags der Klägerinnen positiv davon ausgegangen. Lediglich missverständlich erscheint in diesem Zusammenhang die Aussage des Berufungsgerichts: „Darüber hinaus erscheint es angesichts ihrer Angaben vor dem Bundesamt wahrscheinlich, dass sie und ihre Familie in Kinshasa vergleichsweise gut situiert waren …“ (UA S. 22); denn auch diese Hilfsfeststellung baut vollständig auf dem Vortrag der Klägerin zu 1 auf und wird vom Berufungsgericht der Sache nach nicht in Zweifel gezogen. Mit der getroffenen Gefahrenprognose, die auf diesen tatsächlichen Grundlagen aufbaut, verfehlt das Berufungsgericht nicht deswegen das Regelbeweismaß der Überzeugungsgewissheit, weil die von ihm getroffene Wahrscheinlichkeitsaussage auch andere Geschehensverläufe nicht auszuschließen vermag. Das gilt in gleicher Weise für das Risiko einer Malariaerkrankung und die Möglichkeit einer Behandlung in der Demokratischen Republik Kongo.
10 2. Die Revision zum Bundesverwaltungsgericht kann - von Sonderregelungen wie § 127 Nr. 1 BRRG abgesehen - nur aufgrund der in § 132 Abs. 2 VwGO abschließend genannten Gründe zugelassen werden; die von der Beschwerde erhobene „allgemeine Sachrüge“ ist insoweit unbehelflich.
11 Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO. Gerichtskosten werden gemäß § 83b AsylVfG nicht erhoben. Der Gegenstandswert ergibt sich aus § 30 Satz 1 RVG.