Beschluss vom 11.01.2022 -
BVerwG 4 BN 24.21ECLI:DE:BVerwG:2022:110122B4BN24.21.0

  • Zitiervorschlag

    BVerwG, Beschluss vom 11.01.2022 - 4 BN 24.21 - [ECLI:DE:BVerwG:2022:110122B4BN24.21.0]

Beschluss

BVerwG 4 BN 24.21

  • OVG Magdeburg - 15.04.2021 - AZ: OVG 2 K 69/19

In der Normenkontrollsache hat der 4. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 11. Januar 2022
durch die Vorsitzende Richterin am Bundesverwaltungsgericht Schipper
und die Richter am Bundesverwaltungsgericht Brandt und Dr. Hammer
beschlossen:

  1. Die Beschwerde des Antragstellers gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Urteil des Oberverwaltungsgerichts des Landes Sachsen-Anhalt vom 15. April 2021 wird zurückgewiesen.
  2. Der Antragsteller trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
  3. Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwerdeverfahren auf 7 500 € festgesetzt.

Gründe

1 Die Beschwerde bleibt ohne Erfolg. Die Revision ist nicht wegen der geltend gemachten Verfahrensfehler zuzulassen. Ein Verfahrensmangel ist im Sinne des § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO nur dann bezeichnet, wenn er sowohl in den ihn (vermeintlich) begründenden Tatsachen als auch in seiner rechtlichen Würdigung substantiiert dargetan wird (vgl. BVerwG, Beschluss vom 19. August 1997 - 7 B 261.97 - Buchholz 310 § 133 VwGO <n.F.> Nr. 26 S. 14). Dem wird das Vorbringen des Antragstellers nicht gerecht.

2 1. Die Rüge, der Verwaltungsgerichtshof habe gegen den Überzeugungsgrundsatz (§ 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO) und seine Aufklärungspflicht (§ 86 Abs. 1 Satz 1 VwGO) verstoßen, weil er seine Entscheidung auf unzureichende Sachverhaltsfeststellungen gestützt habe, greift nicht durch.

3 a) Nach § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO entscheidet das Gericht nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung. Als prozessrechtliche Vorschrift enthält diese Bestimmung Vorgaben, die die Sachverhalts- und Beweiswürdigung des Gerichts als Vorgang steuern und deren Verletzung folglich als Verfahrensfehler rügefähig ist. Hierzu zählen etwa gesetzliche Beweisregeln, allgemeine Erfahrungssätze und die Denkgesetze. Des Weiteren hat das Gericht seiner Überzeugungsbildung das Gesamtergebnis des Verfahrens zugrunde zu legen. Darunter ist der Prozessstoff des gerichtlichen Verfahrens in seiner Gesamtheit zu verstehen, wie er sich am Schluss der letzten mündlichen Verhandlung dargestellt hat. Hierzu gehören alle Umstände, die durch das gerichtliche Verfahren zutage getreten sind, insbesondere das gesamte mündliche und schriftliche Vorbringen der Beteiligten, der Inhalt der Gerichtsakten sowie der vom Gericht beigezogenen Akten und Unterlagen, die Ergebnisse einer Beweisaufnahme und tatsächliche Feststellungen des vorinstanzlichen Gerichts (vgl. BVerwG, Urteil vom 2. Februar 1984 - 6 C 134.81 - BVerwGE 68, 338 <339>).

4 Nach § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO ist das Gericht berechtigt und verpflichtet, diesen Prozessstoff auszuschöpfen. Dem wird das Gericht zum einen dann nicht gerecht, wenn es den Prozessstoff nur unvollständig oder unzutreffend erfasst und folglich seiner Entscheidung einen unzulänglichen Sachverhalt zugrunde legt. Es darf festgestellte Umstände nicht übergehen, deren Entscheidungserheblichkeit sich ihm hätte aufdrängen müssen. Zum anderen darf es seiner Entscheidung nur solche Umstände zugrunde legen, die zum Prozessstoff gehören. Die Sachverhaltswürdigung und die rechtliche Beurteilung des festgestellten Sachverhalts müssen sich auf den Prozessstoff zurückführen lassen. Das Gericht verstößt gegen den Überzeugungsgrundsatz, wenn es bei seiner Überzeugungsbildung von einer Sachverhaltsunterstellung ausgeht, die nicht durch ausreichende tatsächliche Feststellungen getragen wird, und seine Überzeugung nicht auf eine hinreichende Tatsachengrundlage stützt (stRspr, vgl. BVerwG, Beschluss vom 25. August 2021 - 4 B 3.21 - juris Rn. 13 m.w.N.).

5 Nach diesen Maßstäben ist nicht dargetan, dass das Oberverwaltungsgericht einen Abwägungsfehler mit nicht tragfähigen Erwägungen verneint hat. Die Annahme, dass das Grundstück des Antragstellers im Außenbereich nach § 35 BauGB gelegen ist, konnte sich ersichtlich auf die vorliegenden Pläne stützen. Im Übrigen wurde diese Einordnung nicht nur von der unteren Bauaufsichtsbehörde in der vom Antragsteller vorgelegten Baugenehmigung vom 28. Juni 2016 für das Wohnhaus (Gerichtsakte Bl. 35R), sondern vom Prozessbevollmächtigten des Antragstellers im Schriftsatz vom 23. März 2021 (Gerichtsakte Bl. 92R) selbst als zutreffend erachtet. Es ist auch nichts dafür dargetan, dass die Feststellung des Oberverwaltungsgerichts, das Grundstück liege in einem von der zuständigen Wasserbehörde ordnungsgemäß festgesetzten Überschwemmungsgebiet (UA S. 14), unzutreffend sein könnte.

6 b) Mit der Aufklärungsrüge dringt die Beschwerde ebenso wenig durch. Zu deren Erfolg bedarf es der substantiierten Darlegung, welche Tatsachen auf der Grundlage des materiell-rechtlichen Standpunktes des Tatsachengerichtes aufklärungsbedürftig waren, welche für erforderlich oder geeignet gehaltenen Aufklärungsmaßnahmen hierfür in Betracht kamen, welche tatsächlichen Feststellungen dabei voraussichtlich getroffen worden wären und inwiefern das unterstellte Ergebnis zu einer dem Beschwerdeführer günstigeren Entscheidung hätte führen können. Weiterhin muss entweder dargelegt werden, dass bereits im Verfahren vor dem Tatsachengericht, insbesondere in der mündlichen Verhandlung, auf die Vornahme der Sachverhaltsaufklärung, deren Unterbleiben nunmehr gerügt wird, durch einen unbedingten Beweisantrag oder jedenfalls eine sonstige Beweisanregung hingewirkt worden ist und die Ablehnung der Beweiserhebung im Prozessrecht keine Stütze findet, oder aufgrund welcher Anhaltspunkte sich dem Gericht die bezeichneten Ermittlungen auch ohne ein solches Hinwirken hätten aufdrängen müssen (stRspr, siehe etwa BVerwG, Urteil vom 17. Oktober 2019 - 4 CN 8.18 - BVerwGE 166, 378 Rn. 29). Daran fehlt es. Der Antragsteller hat weder die Einnahme eines Augenscheins zur Aufklärung der örtlichen Verhältnisse in der näheren Umgebung seines Grundstücks beantragt, noch zeigt er substantiiert auf, dass sich eine solche Beweiserhebung dem Oberverwaltungsgericht hätte aufdrängen müssen. Insbesondere der Hinweis auf die vorhandene Bebauung auf der anderen Seite des Mühlgrabens führt insoweit nicht weiter.

7 2. Zu Unrecht rügt der Antragsteller in diesem Zusammenhang, das Oberverwaltungsgericht habe den Anspruch auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG, § 108 Abs. 2 VwGO) verletzt, indem es unter Verstoß gegen seine richterliche Hinweispflicht (§ 86 Abs. 3 VwGO) eine unzulässige Überraschungsentscheidung getroffen habe.

8 Der Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs soll sicherstellen, dass ein Verfahrensbeteiligter Einfluss auf den Gang des gerichtlichen Verfahrens und dessen Ausgang nehmen kann. Zu diesem Zweck muss er Gelegenheit erhalten, sich zu allen Tatsachen und Rechtsfragen zu äußern, die für die Entscheidung erheblich sein können. Zwar korrespondiert mit diesem Äußerungsrecht keine umfassende Frage- und Hinweispflicht des Gerichts. Vielmehr kann regelmäßig erwartet werden, dass die Beteiligten von sich aus erkennen, welche rechtlichen und tatsächlichen Gesichtspunkte Bedeutung für den Fortgang des Verfahrens und die abschließende Sachentscheidung des Gerichts erlangen können, und entsprechend vortragen. Der Schutz vor einer Überraschungsentscheidung verbietet es aber, dass das Gericht auf einen Gesichtspunkt abstellt, mit dem auch ein gewissenhafter und kundiger Prozessbeteiligter nach dem bisherigen Verlauf des Verfahrens und unter Berücksichtigung der Vielfalt der vertretenen Rechtsauffassungen nicht zu rechnen brauchte (stRspr, vgl. etwa BVerwG, Urteile vom 15. November 2012 - 7 C 1.12 - [insoweit in Buchholz 404 IFG Nr. 10 nicht abgedruckt] juris Rn. 16, 18 und vom 31. Juli 2013 - 6 C 9.12 - Buchholz 421.2 Hochschulrecht Nr. 180 Rn. 38 jeweils m.w.N.). Die Garantie des rechtlichen Gehörs kann deshalb auch dann verletzt sein, wenn das Gericht im Laufe des Verfahrens seine Rechtsauffassung oder die beabsichtigte Würdigung des Prozessstoffs in hinreichend eindeutiger Weise zu erkennen gegeben hat und dann − ohne vorherigen Hinweis − von dieser wieder abrückt, so dass den Prozessbeteiligten ein Vortrag zur geänderten Auffassung nicht mehr möglich ist (vgl. BVerwG, Beschlüsse vom 16. Januar 2018 - 7 B 3.17 - juris Rn. 6 und vom 5. Dezember 2019 - 4 B 22.19 - juris Rn. 8, jeweils m.w.N.).

9 Ein solcher Verfahrensfehler wird mit dem Verweis auf den gerichtlichen Hinweis vom 23. Februar 2021 (Gerichtsakte Bl. 66) nicht dargetan. Darin hat der Berichterstatter zum Rechtsschutzinteresse für das Normenkontrollverfahren Stellung genommen und ausgeführt, dass der Antragsteller nach einem Erfolg des Normenkontrollantrags insbesondere auf der Grundlage eines neuen Bebauungsplans mit für ihn günstigeren Festsetzungen das Ziel einer Legalisierung der ohne Baugenehmigung errichteten Ferienhäuser erreichen könne. Zur Frage der Zulässigkeit der Ferienhäuser bei Fehlen eines Bebauungsplans verhält sich der Hinweis hingegen nicht; von der Lage des Grundstücks des Antragstellers im Außenbereich ist das Oberverwaltungsgericht im Hinweis allerdings ausgegangen.

10 Soweit der Antragsteller meint, ihm sei die Möglichkeit eines Vortrags zu einer nach § 78 Abs. 5 WHG ausnahmsweise gegebenen Bebauungsmöglichkeit im Überschwemmungsgebiet abgeschnitten worden, fehlt es angesichts der Ausführungen des Oberverwaltungsgerichts zur bauplanungsrechtlichen (Un-)Zulässigkeit der Ferienhäuser nach § 35 Abs. 2 BauGB bereits an der Darlegung der Entscheidungserheblichkeit des behaupteten Verfahrensfehlers. Des Weiteren legt der Antragsteller auch nicht − wie geboten − dar, was er nach dem als erforderlich erachteten gerichtlichen Hinweis vorgetragen hätte.

11 Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO. Die Festsetzung des Streitwerts folgt aus § 47 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 3 i.V.m. § 52 Abs. 1 GKG.