Verfahrensinformation

Die 1994 und 1996 geborenen Kläger türkischer Staatsangehörigkeit, die bei ihrer Großmutter in der Türkei leben, begehren Visa zum Familiennachzug zu ihrem seit 1996 in Deutschland lebenden Vater. Dieser, ebenfalls ein türkischer Staatsangehöriger, ist mit einer Deutschen verheiratet und besitzt eine Aufenthaltserlaubnis. Im Februar 2006 übertrug das zuständige türkische Amtsgericht das Sorgerecht für die Kläger von der Mutter auf ihn. Die daraufhin auf § 32 Abs. 3 AufenthG gestützten Visaanträge der Kinder lehnte die Deutsche Botschaft in Ankara ab, weil nicht von einer wirksamen Sorgerechtsübertragung ausgegangen werden könne. Die Klagen hatten vor dem Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg Erfolg. Dieses geht davon aus, dass die Entscheidung des türkischen Familiengerichts zu respektieren sei, da sie weder verfahrensrechtlich noch materiellrechtlich gegen den deutschen ordre public verstoße. Das Oberverwaltungsgericht hat die Revision wegen grundsätzlicher Bedeutung der Frage zugelassen, ob „rein ausländerrechtlich und ökonomisch motivierte“ Sorgerechtsübertragungen ausländischer Gerichte wegen Verstoßes gegen den ordre public die Anerkennung zu versagen ist.


Pressemitteilung Nr. 114/2012 vom 29.11.2012

Sorgerechtsentscheidungen ausländischer Stellen sind grundsätzlich anzuerkennen

Deutsche Behörden und Gerichte müssen ausländische Sorgerechtsentscheidungen im Visumverfahren grundsätzlich anerkennen. Sie dürfen diese nur dann außer Acht lassen, wenn ihre Anwendung mit der öffentlichen Ordnung offensichtlich unvereinbar ist. Das hat das Bundesverwaltungsgericht in Leipzig heute entschieden. 


Das Bundesverwaltungsgericht hatte über mehrere Fälle zu entscheiden, in denen minderjährige Ausländer zu einem in Deutschland lebenden Elternteil nachziehen wollen. In drei Fällen war dem im Bundesgebiet lebenden Vater durch eine Entscheidung eines türkischen Gerichts, in einem Fall einer hier lebenden mongolischen Mutter das alleinige Sorgerecht übertragen worden.


Die Anträge auf Erteilung von Visa zum Zweck des Kindernachzugs wurden von den zuständigen deutschen Auslandsvertretungen abgelehnt. Das Auswärtige Amt war der Auffassung, dass die in § 32 Abs. 3 des Aufenthaltsgesetzes (AufenthG) enthaltene Nachzugsvoraussetzung der alleinigen Personensorgeberechtigung bei dem im Bundesgebiet lebenden Elternteil nicht vorliege. Die ausländischen Sorgerechtsentscheidungen seien nicht anzuerkennen, da sie mit der öffentlichen Ordnung (ordre public) unvereinbar seien. In den die Türkei betreffenden Fällen hätten weder die Voraussetzungen für die Übertragung des Sorgerechts nach den Vorschriften des türkischen Familienrechts vorgelegen noch sei das Kindeswohl der Kläger von den türkischen Stellen ausreichend berücksichtigt worden. In dem Fall der Sorgerechtsübertragung in der Mongolei sei die bereits 14jährige Klägerin im gerichtlichen Verfahren nicht angehört worden, was mit rechtsstaatlichen Grundsätzen nicht vereinbar sei.


In den Verfahren der türkischen Kläger hat das Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg die Bundesrepublik Deutschland zur Erteilung der beantragten Visa verpflichtet bzw. die Berufung der Beklagten zurückgewiesen. Das Bundesverwaltungsgericht ist der Rechtsauffassung des Berufungsgerichts zur Anerkennung der Sorgerechtsentscheidungen gefolgt. Es hat seine Entscheidung darauf gestützt, dass diese Sorgerechtsentscheidungen mit dem deutschen ordre public zu vereinbaren und deshalb aufenthaltsrechtlich zu respektieren sind. Nach Art. 16 des hier anzuwendenden Haager Minderjährigenschutz-Übereinkommens kann eine von einem ausländischen Gericht getroffene Sorgerechtsentscheidung nur dann unbeachtet bleiben, wenn die Anwendung mit der öffentlichen Ordnung offensichtlich unvereinbar ist. Dieser ordre public-Vorbehalt schließt es grundsätzlich aus, ausländische Entscheidungen auf ihre Richtigkeit hin zu überprüfen. Von Bedeutung ist bei einer ausländischen Sorgerechtsübertragung nur, ob das Entscheidungsergebnis in einem so starken Widerspruch zu dem Grundgedanken des Kindeswohls steht, dass es untragbar erscheint, oder die Entscheidung in einem Verfahren zustande gekommen ist, das grundlegenden rechtsstaatlichen Anforderungen nicht genügt. Daran gemessen sind die hier zugrundeliegenden Sorgerechtsentscheidungen der türkischen Gerichte nicht zu beanstanden. Die Kläger sind angehört worden und haben - wie auch ihre Mütter - der Sorgerechtsübertragung zugestimmt. Die zugrundeliegende wirtschaftliche Motivation, dem Kind durch die Übersiedlung nach Deutschland eine bessere Förderung und Ausbildung zu bieten, spricht nicht gegen das Kindeswohl.


Der 10. Senat des Bundesverwaltungsgerichts hat zwei der Berufungsurteile allerdings teilweise aufgehoben und die Sachen zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückverwiesen, weil die Berechnungen zur Sicherung des Lebensunterhalts (§ 5 Abs. 1 Nr. 1 i.V.m. § 2 Abs. 3 AufenthG) Anlass zur Beanstandung gaben.


Im Fall der Klägerin aus der Mongolei hat das Bundesverwaltungsgericht die strittige Sorgerechtsentscheidung nicht anerkannt. Denn es ist mit Grundprinzipien des deutschen Verfahrensrechts unvereinbar, im Sorgerechtsverfahren dem Kind keine Gelegenheit zur Äußerung einzuräumen. Vielmehr hat eine Anhörung entweder unmittelbar vor dem entscheidenden Gericht oder durch einen Vertreter oder eine geeignete Stelle zu erfolgen. Ist dies - wie hier - nicht geschehen, ist der Sorgerechtsübertragung die Anerkennung in Deutschland zu versagen. In diesem Verfahren wird das Berufungsgericht zu prüfen haben, ob sich ein Nachzugsanspruch aus einem anderen Rechtsgrund ergibt.


BVerwG 10 C 4.12 - Urteil vom 29. November 2012

Vorinstanzen:

OVG Berlin-Brandenburg, 11 B 3.10 - Urteil vom 25. Oktober 2011 -

VG Berlin, 9 K 135.09.V - Urteil vom 23. September 2009 -

BVerwG 10 C 5.12 - Urteil vom 29. November 2012

Vorinstanzen:

OVG Berlin-Brandenburg, 11 B 23.10 - Urteil vom 25. Oktober 2011 -

VG Berlin, 29 K 154.10.V - Urteil vom 20. Juli 2010 -

BVerwG 10 C 11.12 - Urteil vom 29. November 2012

Vorinstanzen:

OVG Berlin-Brandenburg, 2 B 6.22 - Urteil vom 23. Februar 2012 -

VG Berlin, 5 K 146.09.V - Urteil vom 20. Juli 2010 -

BVerwG 10 C 14.12 - Urteil vom 29. November 2012

Vorinstanzen:

OVG Berlin-Brandenburg, 11 B 29.10 - Urteil vom 10. Mai 2012 -

VG Berlin, 11 K 542.09.V - Urteil vom 21. September 2010 -