Urteil vom 12.01.2023 -
BVerwG 3 CN 10.22ECLI:DE:BVerwG:2023:120123U3CN10.22.0

  • Zitiervorschlag

    BVerwG, Urteil vom 12.01.2023 - 3 CN 10.22 - [ECLI:DE:BVerwG:2023:120123U3CN10.22.0]

Urteil

BVerwG 3 CN 10.22

  • VGH München - 31.08.2022 - AZ: 20 N 21.2890

In der Normenkontrollsache hat der 3. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 12. Januar 2023
durch die Vorsitzende Richterin am Bundesverwaltungsgericht Dr. Philipp,
den Richter am Bundesverwaltungsgericht Liebler,
die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Dr. Kuhlmann,
den Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Sinner und
die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Hellmann
ohne mündliche Verhandlung für Recht erkannt:

  1. Die Nummern I und II des Beschlusses des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs vom 31. August 2022 werden aufgehoben.
  2. Die Sache wird zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an den Verwaltungsgerichtshof zurückverwiesen.
  3. Die Entscheidung über die Kosten bleibt der Schlussentscheidung vorbehalten.

Gründe

I

1 Die Antragstellerin ist ein Gastronomie- und Beherbergungsunternehmen in der Rechtsform einer GmbH & Co. KG; sie betreibt Ferienhäuser und -appartments ("B.") in A. Die Antragstellerin wendet sich mit ihrem am 25. November 2021 beim Verwaltungsgerichtshof eingegangenen Normenkontrollantrag (§ 47 Abs. 1 Nr. 2 VwGO) gegen § 15 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. e der Fünfzehnten Bayerischen Infektionsschutzmaßnahmenverordnung vom 23. November 2021 (BayMBl. Nr. 816). Nach dieser Bestimmung dürfen, wenn in einem Landkreis oder einer kreisfreien Stadt die Zahl der Neuinfektionen mit dem Coronavirus SARS-CoV-2 je 100 000 Einwohner innerhalb von sieben Tagen (7-Tage-Inzidenz) den Wert von 1 000 überschreitet, Übernachtungsangebote von Hotels, Beherbergungsbetrieben, Schullandheimen, Jugendherbergen, Campingplätzen und allen sonstigen gewerblichen oder entgeltlichen Unterkünften nur für zwingend erforderliche und unaufschiebbare nichttouristische Aufenthalte zur Verfügung gestellt werden; Übernachtungsangebote zu touristischen Zwecken sind untersagt. Die Verordnung ist nach ihrem § 18 Abs. 1 am 24. November 2021 in Kraft getreten; Teil 3 der Verordnung, der § 15 enthält, ist mit Wirkung vom 17. Februar 2022 aufgehoben worden (vgl. § 1 Nr. 13, § 2 der Verordnung zur Änderung der Fünfzehnten Bayerischen Infektionsschutzmaßnahmenverordnung vom 16. Februar 2022, BayMBl. Nr. 115).

2 Der Bayerische Verwaltungsgerichtshof hat den Normenkontrollantrag mit Beschluss vom 31. August 2022 abgelehnt (I) und der Antragstellerin die Kosten des Verfahrens auferlegt (II). Der Antrag sein unzulässig. Ein Normenkontrollantrag könne nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zwar trotz des Außerkrafttretens der angegriffenen Rechtsnorm zulässig bleiben, wenn in der Vergangenheit liegende Sachverhalte noch nach ihr zu entscheiden seien oder wenn - wie hier - während des Normenkontrollverfahrens eine auf kurzfristige Geltung angelegte Norm, durch die oder durch deren Anwendung der Antragsteller einen Nachteil erlitten habe, außer Kraft getreten sei. In diesem Fall müsse jedoch der Antrag auf die Feststellung der Ungültigkeit der außer Kraft getretenen Norm umgestellt werden und ein berechtigtes Interesse an der (nachträglichen) Feststellung der Ungültigkeit bestehen. Eine solche Antragsänderung mit Darlegung des erforderlichen Feststellungsinteresses sei seitens der Antragstellerin aber nicht erfolgt. Die Revision hat der Verwaltungsgerichtshof in diesem Beschluss nicht zugelassen.

3 Auf die Nichtzulassungsbeschwerde der Antragstellerin hat der Verwaltungsgerichtshof mit Beschluss vom 16. September 2022 seinen Beschluss vom 31. August 2022 geändert und die Revision wegen eines Verfahrensfehlers zugelassen.

4 Mit ihrer allein auf einen Verfahrensmangel gestützten Revision beantragt die Antragstellerin,
den Beschluss des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs vom 31. August 2022, 20 N 21.28 90 , aufzuheben und
den Rechtsstreit zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an den Bayerischen Verwaltungsgerichtshof zurückzuverweisen.

5 Der Antragsgegner ist dem nicht entgegengetreten.

II

6 Die Revision der Antragstellerin, über die der Senat mit dem Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entscheidet (§ 101 Abs. 2 i. V. m. § 125 Abs. 1 und § 141 VwGO), ist begründet. Die Ablehnung des Normenkontrollantrags der Antragstellerin als unzulässig beruht auf einer Verletzung von Bundesrecht (§ 137 Abs. 1 Nr. 1 VwGO). Das führt zur Aufhebung der Nummern I und II des angefochtenen Beschlusses und zur Zurückverweisung der Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an den Verwaltungsgerichtshof (§ 144 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 VwGO).

7 Der Bayerische Verwaltungsgerichtshof hat den Anspruch der Antragstellerin auf rechtliches Gehör verletzt (§ 108 Abs. 2 VwGO, Art. 103 Abs. 1 GG). Er hat bei der Ablehnung des Normenkontrollantrags als unzulässig nicht berücksichtigt, dass die Antragstellerin mit Schriftsatz vom 2. März 2022 (Bl. 34 ff. GA), der am selben Tag beim Verwaltungsgerichtshof eingegangen ist, ihren bisherigen Antrag unter Verweis darauf umgestellt hatte, die angegriffene Vorschrift sei mit der Verordnung zur Änderung der Fünfzehnten Bayerischen Infektionsschutzmaßnahmenverordnung vom 16. Februar 2022 aufgehoben worden und daher nicht mehr gültig. Sie hatte beantragt festzustellen, dass die Fünfzehnte Bayerische Infektionsschutzmaßnahmenverordnung in § 15 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. e rechtswidrig war. Zur Begründung des erforderlichen besonderen Feststellungsinteresses (vgl. zu diesem Erfordernis u. a. BVerwG, Urteil vom 11. November 2015 - 8 CN 2.14 - BVerwGE 153, 183 Rn. 19 m. w. N.) hatte sie geltend gemacht, es bestehe Wiederholungsgefahr und es kämen gegebenenfalls Schadensersatz- oder Entschädigungsansprüche in Betracht. Die Wiederholungsgefahr ergebe sich daraus, dass der Antragsgegner auch in der Vergangenheit bei unterschiedlichen Inzidenzzahlen regelmäßig die Übernachtung zu touristischen Zwecken untersagt habe. Für den Fall einer weiteren SARS-CoV-2-Welle bestehe die Gefahr, dass der Antragsgegner ein weiteres solches Beherbergungsverbot erlassen werde. Der Verwaltungsgerichtshof hat diesen Vortrag übersehen.

8 Die Antragstellerin hat die Verletzung ihres Anspruchs auf rechtliches Gehör in der erforderlichen Weise geltend gemacht (§ 139 Abs. 3 Satz 4 VwGO). Der angefochtene Beschluss beruht auf dem Verfahrensmangel (§ 138 Nr. 3 VwGO). Er ist daher aufzuheben und die Sache an den Verwaltungsgerichtshof zurückzuverweisen (§ 144 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 VwGO; vgl. BVerwG, Urteil vom 15. September 2008 - 1 C 12.08 - Buchholz 310 § 101 VwGO Nr. 34 Rn. 11).

9 Die Entscheidung über die Kosten bleibt der Schlussentscheidung vorbehalten.