Beschluss vom 12.12.2019 -
BVerwG 9 B 53.18ECLI:DE:BVerwG:2019:121219B9B53.18.0

  • Zitiervorschlag

    BVerwG, Beschluss vom 12.12.2019 - 9 B 53.18 - [ECLI:DE:BVerwG:2019:121219B9B53.18.0]

Beschluss

BVerwG 9 B 53.18

  • VG Sigmaringen - 06.12.2017 - AZ: VG 9 K 1032/16
  • VGH Mannheim - 19.09.2018 - AZ: VGH 2 S 1116/18

In der Verwaltungsstreitsache hat der 9. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 12. Dezember 2019
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Bier und
die Richter am Bundesverwaltungsgericht Steinkühler und Dr. Martini
beschlossen:

  1. Die Beschwerde der Kläger gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Urteil des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg vom 19. September 2018 wird zurückgewiesen.
  2. Die Kosten des Beschwerdeverfahrens tragen die Kläger zu 1 und 2 als Gesamtschuldner zu einem Drittel, die Kläger zu 3 und 4 als Gesamtschuldner zu zwei Dritteln.
  3. Der Wert des Streitgegenstands für das Beschwerdeverfahren wird auf 29 400 € festgesetzt.

Gründe

1 Die zulässige Beschwerde ist unbegründet.

2 1. Die Revision ist nicht nach § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO wegen grundsätzlicher Bedeutung zuzulassen.

3 Grundsätzliche Bedeutung hat eine Rechtssache, wenn für die angefochtene Entscheidung der Vorinstanz eine konkrete, fallübergreifende und bislang ungeklärte Rechtsfrage des revisiblen Rechts von Bedeutung war, deren Klärung im Revisionsverfahren zu erwarten ist und zur Erhaltung der Einheitlichkeit der Rechtsprechung oder zur Weiterentwicklung des Rechts geboten erscheint. Diese Voraussetzungen sind nicht erfüllt. Abgesehen davon, dass die Kläger selbst eine solche Rechtsfrage nicht formulieren, wie es den Begründungsanforderungen des § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO entspräche (vgl. etwa BVerwG, Beschluss vom 19. August 1997 - 7 B 261.97 - Buchholz 310 § 133 <n.F.> Nr. 26 S. 14), sondern nur darlegen, warum die angegriffene Entscheidung aus ihrer Sicht unrichtig ist, lassen sich der Beschwerdebegründung auch der Sache nach keine klärungsbedürftigen Fragen entnehmen, die der Rechtssache grundsätzliche Bedeutung verleihen würden.

4 a) Die Frage, ob eine Teilstrecke einer Erschließungsanlage im Hinblick auf die zeitliche Dimension der natürlichen Betrachtungsweise durch Zeitablauf zu einer selbständigen Erschließungsanlage werden kann, wenn die Erschließungsanlage nach Fertigstellung der Teilstrecke 40 Jahre lang nicht weiter gebaut worden ist, hat keine grundsätzliche Bedeutung. Abgesehen davon, dass sie in dem einer allgemeinen Klärung überhaupt nur zugänglichen Umfang von Bundesrechts wegen bereits geklärt ist (BVerwG, Urteile vom 25. Februar 1994 - 8 C 14.92 - BVerwGE 95, 176 <185>, vom 12. Mai 2016 - 9 C 11.15 - BVerwGE 155, 171 Rn. 28, vom 22. November 2016 - 9 C 25.15 - BVerwGE 156, 326 Rn. 26 und vom 7. März 2017 - 9 C 20.15 - BVerwGE 158, 163 Rn. 12 und 14), war sie für die Entscheidung des Verwaltungsgerichtshofs nicht als Frage des revisiblen Rechts von Bedeutung. Denn der Verwaltungsgerichtshof hat seiner Entscheidung nicht die §§ 127 ff. BauGB, sondern die landesrechtlichen Regelungen des Kommunalabgabengesetzes Baden-Württemberg (KAG BW) zugrunde gelegt und geprüft, ob die betreffende Teilstrecke eine selbständige beitragsfähige Erschließungsanlage im Sinne der §§ 33 ff. KAG BW darstellte.

5 b) Keine grundsätzliche Bedeutung hat die Rechtssache auch, soweit man dem Beschwerdevorbringen die Frage entnimmt, ob der Grundsatz der Rechtssicherheit in seiner Ausprägung als Gebot der Belastungsklarheit und -vorhersehbarkeit (Art. 20 Abs. 3 GG) auch im Erschließungsbeitragsrecht gilt. Diese Frage ist nicht klärungsbedürftig, weil sie das Bundesverwaltungsgericht bereits bejaht hat (BVerwG, Vorlagebeschluss vom 6. September 2018 - 9 C 5.17 - BVerwGE 163, 58 Rn. 12 und 14 ff.).

6 c) Soweit die Beschwerdebegründung auf die Frage zielen sollte, zu welchem Zeitpunkt im Erschließungsbeitragsrecht die Vorteilslage entsteht, von deren Eintritt an der Bürger nach dem Gebot der Belastungsklarheit und -vorhersehbarkeit nicht unbegrenzt zu einem Beitrag zum Ausgleich für die Erlangung des Vorteils herangezogen werden darf, verleiht dies der Rechtssache ebenfalls keine grundsätzliche Bedeutung. Denn auch insoweit besteht kein Klärungsbedarf.

7 In der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ist bereits entschieden, dass es im Erschließungsbeitragsrecht für das Entstehen der Vorteilslage maßgeblich auf die tatsächliche - bautechnische - Durchführung der jeweiligen Erschließungsmaßnahme ankommt, nicht jedoch darauf, ob darüber hinaus auch die weiteren, für den Betroffenen nicht erkennbaren rechtlichen Voraussetzungen für das Entstehen der sachlichen Beitragspflicht vorliegen. Beurteilungsmaßstab hierfür ist die konkrete Planung der Gemeinde für die jeweilige Anlage. Entscheidend ist, ob diese sowohl im räumlichen Umfang als auch in der bautechnischen Ausführung nur provisorisch her- oder schon endgültig technisch fertiggestellt ist, d.h. dem gemeindlichen Bauprogramm für die flächenmäßigen und sonstigen Teileinrichtungen sowie dem technischen Ausbauprogramm vollständig entspricht. Soweit die Entstehung der Beitragspflicht darüber hinaus die Widmung der Straße oder die Wirksamkeit der Beitragssatzung erfordert, wirkt sich dies indes nicht auf den Eintritt der Vorteilslage aus (BVerwG, Vorlagebeschluss vom 6. September 2018 - 9 C 5.17 - BVerwGE 163, 58 Rn. 55).

8 2. Die Revision ist auch nicht nach § 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO wegen einer Abweichung von einer Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts zuzulassen.

9 Der Zulassungsgrund der Divergenz liegt nur vor, wenn das Berufungsgericht sich in Anwendung derselben Rechtsvorschrift mit einem seine Entscheidung tragenden abstrakten Rechtssatz zu einem in der herangezogenen Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts aufgestellten ebensolchen Rechtssatz in Widerspruch gesetzt hat. Dass diese Voraussetzungen erfüllt wären, wird aus der Beschwerdebegründung nicht ersichtlich. Abgesehen davon, dass die Kläger selbst keine divergierenden Rechtssätze benennt, wie es nach § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO erforderlich wäre (vgl. etwa BVerwG, Beschluss vom 19. August 1997 - 7 B 261.97 - Buchholz 310 § 133 <n.F.> Nr. 26 S. 14), lassen sich solche Rechtssätze dem Beschwerdevorbringen auch der Sache nach nicht entnehmen.

10 a) Soweit der Verwaltungsgerichtshof die genannte Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zur zeitlichen Dimension der Frage nach dem durch die tatsächlichen Gegebenheiten geprägten Erscheinungsbild für nicht einschlägig hält, geschieht dies im Rahmen der Auslegung des Begriffs der beitragsfähigen Erschließungsanlage nach den landesrechtlichen Bestimmungen der §§ 33 ff. KAG BW, während die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts beitragsfähige Erschließungsanlagen im Sinne der bundesrechtlichen §§ 127 ff. BauGB betrifft.

11 b) Der Verwaltungsgerichtshof hat sich auch nicht dadurch zu einem tragenden Rechtssatz des Bundesverwaltungsgerichts in Widerspruch gesetzt, dass es eine Verletzung des Gebots der Belastungsklarheit und -vorhersehbarkeit mit der Begründung verneint hat, die Vorteile der vollständig fertiggestellten Erschließungsanlage seien den Klägern noch nicht mit der Herstellung des 150 m langen südlichen Teilstücks der S.straße in den 1970er Jahren, sondern erst mit der endgültigen technischen Fertigstellung der gesamten Erschließungsanlage im Jahr 2017 entstanden.

12 Das Berufungsgericht gelangt zu diesem Ergebnis auf der Grundlage des Rechtssatzes, dass für den Eintritt der Vorteilslage maßgeblich ist, ob die beitragsfähige Erschließungsanlage technisch entsprechend dem (Aus-)Bauprogramm der Gemeinde vollständig und endgültig hergestellt ist. Dies entspricht jedoch der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG, Vorlagebeschluss vom 6. September 2018 - 9 C 5.17 - BVerwGE 163, 58 Rn. 55).

13 Soweit die Kläger demgegenüber geltend machen, die Vorteilslage sei bereits mit der Fertigstellung der 150 m langen Teilstrecke in den 1970er Jahren entstanden, rügen sie lediglich die fehlerhafte Anwendung dieses Rechtssatzes. Dies genügt zur Darlegung des Zulassungsgrundes der Divergenz nach § 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO jedoch nicht (stRspr, vgl. etwa BVerwG, Beschluss vom 19. August 1997 - 7 B 261.97 - Buchholz 310 § 133 <n.F.> Nr. 26 S. 14).

14 c) Auch im Übrigen legt die Beschwerdebegründung eine Abweichung im Sinne von § 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO nicht dar, sondern beschränkt sich darauf, die Richtigkeit der angegriffenen Berufungsentscheidung in Zweifel zu ziehen.

15 3. Schließlich ist die Revision auch nicht nach § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO wegen eines Verfahrensmangels zuzulassen.

16 Die Kläger machen geltend, der Verwaltungsgerichtshof habe gegen seine Pflicht, den Sachverhalt von Amts wegen zu ermitteln (§ 86 Abs. 1 Satz 1 VwGO) verstoßen, weil er auf die Einnahme eines Augenscheins vor Ort verzichtet und stattdessen seiner Entscheidung das vorhandene Bildmaterial zugrunde gelegt habe. Eine Verletzung der Sachaufklärungspflicht ist dem Beschwerdevorbringen insoweit jedoch nicht zu entnehmen.

17 Nach § 86 Abs. 1 Satz 2 VwGO ist das Gericht bei der Sachverhaltsermittlung an das Vorbringen und die Beweisanträge der Beteiligten nicht gebunden. Vielmehr bestimmt es Umfang und Art der Tatsachenermittlung nach pflichtgemäßem Ermessen (BVerwG, Urteil vom 14. November 1991 - 4 C 1.91 - Buchholz 310 § 86 Abs. 1 VwGO Nr. 236 S. 64 m.w.N.). Auch von den Beteiligten vorgelegte und zu den Akten genommene Karten, Lagepläne, Fotos und Luftbildaufnahmen können im Rahmen von § 86 Abs. 1 VwGO unbedenklich verwertbar sein, wenn sie die Örtlichkeit in ihren für die gerichtliche Beurteilung maßgeblichen Merkmalen so eindeutig ausweisen, dass sich der mit einer Ortsbesichtigung erreichbare Zweck mit ihrer Hilfe ebenso zuverlässig erfüllen lässt. Ist dies der Fall, bedarf es unter dem Gesichtspunkt des Untersuchungsgrundsatzes keiner Durchführung einer Ortsbesichtigung. Das gilt nur dann nicht, wenn ein Beteiligter geltend macht, dass die Karten oder Lichtbilder in Bezug auf bestimmte, für die Entscheidung wesentliche Merkmale keine Aussagekraft besitzen, und dies zutreffen kann (stRspr, vgl. BVerwG, Beschluss vom 30. Juni 2014 - 4 B 51.13 - BauR 2014, 1763 Rn. 4 m.w.N.).

18 Dies zugrunde gelegt, ist der Beschwerdebegründung der geltend gemachte Verfahrensfehler nicht zu entnehmen.

19 a) Die dem Berufungsgericht vorliegenden Fotos und Luftbilder zeigen die S.straße in ihren für die gerichtliche Beurteilung maßgeblichen Merkmalen so eindeutig, dass sich mit ihrer Hilfe der Zweck einer Ortsbesichtigung zuverlässig erfüllen lässt. Maßgeblich ist insoweit der materiell-rechtliche Standpunkt des Berufungsgerichts, auf den bei der Prüfung von Verfahrensfehlern abzustellen ist (stRspr, vgl. etwa BVerwG, Beschluss vom 23. Januar 1996 - 11 B 150.95 - Buchholz 424.5 GrdstVG Nr. 1 S. 1).

20 Der Verwaltungsgerichtshof hat für die Beurteilung der S.straße als einheitliche Erschließungsanlage die topographische Lage der Straße, ihren Verlauf, ihre Verkehrs- und Erschließungsfunktion und ihren Zustand nach dem Ausbau im Jahr 2017 als seiner Rechtsauffassung nach maßgebliche Kriterien herangezogen. Diese Merkmale sind aus der bereits im erstinstanzlichen Verfahren vorgelegten Fotodokumentation und den in der Berufungsverhandlung vorgelegten und mit den Beteiligten erörterten Fotos und Luftbildern ohne Weiteres ersichtlich. Soweit die Kläger geltend machen, aus den Lichtbildern lasse sich nicht ersehen, dass sich der Baustil der Häuser hinter der Kuppe am Ende der 150 m langen, in den 1970er Jahren fertiggestellten Teilstrecke der S.straße massiv ändere, trifft dies zum einen nicht zu. Zum anderen kommt es auf den Stil, in dem die durch die Erschließungsanlage erschlossenen Gebäude errichtet sind, auf der Grundlage der Rechtsauffassung des Berufungsgerichts nicht an. Ohne Weiteres aus dem Bildmaterial erkennbar ist auch, dass die S.straße von der Kreuzung S.straße/C.-Straße/L.straße zunächst ansteigt und dass sich die Verhältnisse an der Straßenkuppe am Ende dieses Anstiegs insofern ändern, als die Bebauung dort von der rechten östlichen auf die linke westliche Straßenseite wechselt. Neben der einseitigen und beidseitigen Bebauung sind aus den Licht- und Luftbildern auch die Straßeneinmündungen und die waldwegähnliche Straße ersichtlich, die nördlich der genannten Kuppe nach Osten von der S.straße abzweigt. Es trifft auch nicht zu, dass in dem vom Verwaltungsgerichtshof zugrunde gelegten Bildmaterial die topographischen Verhältnisse nicht ansatzweise wiedergegeben würden.

21 b) Danach hätte es nur dann einer Ortseinsicht bedurft, wenn ein Beteiligter im Berufungsverfahren geltend gemacht hätte, dass die vom Verwaltungsgerichtshof verwerteten Fotos und Luftbilder in Bezug auf bestimmte, für die Entscheidung wesentliche Merkmale keine Aussagekraft besäßen. Dies legen die Kläger jedoch weder dar, noch ist es sonst ersichtlich. Insbesondere hatten sie im Verhandlungstermin vor dem Verwaltungsgerichtshof keinen Beweisantrag auf Ortsbesichtigung gestellt. Soweit die Kläger nunmehr die Eignung des Bildmaterials zur Wiedergabe der topographischen Verhältnisse in Frage stellen, legen sie nicht dar, welche zusätzlichen, nach der Rechtsauffassung des Verwaltungsgerichtshofs entscheidungserheblichen Feststellungen bei Durchführung eines Augenscheins vor Ort voraussichtlich getroffen worden wären (vgl. BVerwG, Urteil vom 19. August 1997 - 7 B 261.97 - Buchholz 310 § 133 <n.F.> Nr. 26 S. 14). Hinsichtlich des Wechsels des Straßenbelages, der am Ende der 150 m langen und in den 1970er Jahren ausgebauten Teilstrecke über 40 Jahre lang vorhanden und mit einem deutlichen Höhenversatz verbunden gewesen sei, hätte nach der Fertigstellung der gesamten S.straße eine Ortseinsicht zur Sachaufklärung jedenfalls nicht mehr beitragen können.

22 4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 und § 159 Satz 1 und 2 VwGO, die Streitwertfestsetzung auf § 63 Abs. 2 Satz 1, § 47 Abs. 1 und 3, § 52 Abs. 3 Satz 1 und § 39 Abs. 1 GKG.