Verfahrensinformation

Die Kläger des Ausgangsverfahrens begehren vom Sozialhilfeträger die Nachbewilligung von Regelsatzteilleistungen unter Rücknahme der unanfechtbaren Leistungsbescheide und berufen sich auf die Regelung des § 44 SGB X über die Rücknahme rechtswidriger unanfechtbarer Verwaltungsakte mit Wirkung für die Vergangenheit. Das Berufungsgericht hält diese Vorschrift - im Anschluss an die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts - im Leistungsrecht des Bundessozialhilfegesetzes im Hinblick auf dessen Strukturprinzip "Keine Hilfe für die Vergangenheit" für nicht anwendbar, da die Kläger die Teilversagung der Hilfe nicht angefochten und ihren Bedarf anderweitig gedeckt haben, möchte diese Frage aber erneut höchstrichterlich geklärt wissen.


Urteil vom 13.11.2003 -
BVerwG 5 C 26.02ECLI:DE:BVerwG:2003:131103U5C26.02.0

Leitsatz:

§ 44 SGB X ist auf das Leistungsrecht des Bundessozialhilfegesetzes nicht anwendbar (wie BVerwGE 68, 285).

  • Rechtsquellen
    SGB I § 37
    SGB X § 44

  • OVG Hamburg - 14.06.2002 - AZ: OVG 4 Bf 45/01 -
    Hamburgisches OVG - 14.06.2002 - AZ: OVG 4 Bf 45/01

  • Zitiervorschlag

    BVerwG, Urteil vom 13.11.2003 - 5 C 26.02 - [ECLI:DE:BVerwG:2003:131103U5C26.02.0]

Urteil

BVerwG 5 C 26.02

  • OVG Hamburg - 14.06.2002 - AZ: OVG 4 Bf 45/01 -
  • Hamburgisches OVG - 14.06.2002 - AZ: OVG 4 Bf 45/01

In der Verwaltungsstreitsache hat der 5. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
auf die mündliche Verhandlung vom 13. November 2003
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. S ä c k e r
und die Richter am Bundesverwaltungsgericht S c h m i d t , Dr. R o t h k e g e l , Dr. F r a n k e und Prof. Dr. B e r l i t
für Recht erkannt:

  1. Die Revision der Kläger gegen das Urteil des Hamburgischen Oberverwaltungsgerichts vom 14. Juni 2002 wird zurückgewiesen.
  2. Die Kläger tragen die Kosten des Revisionsverfahrens. Gerichtskosten werden nicht erhoben.

I


Die Beklagte leistete den Klägern ab Juli 1998 Hilfe zum Lebensunterhalt. Obwohl ihr die Voraussetzungen für höhere Regelsatzleistungen bekannt waren, gewährte sie ihnen versehentlich um je 27 DM im Monat zu gering bemessene Regelsatzleistungen. Die entsprechenden Leistungsbescheide wurden nicht angefochten. Nachdem die Beklagte ab Mai 1999 richtig um je 27 DM höhere Regelsatzleistungen gewährte, beantragten die Kläger im Juni 1999 bei der Beklagten die Änderung der früheren geringeren Hilfegewährung und die Nachzahlung der vorenthaltenen Hilfe. Antrag und Widerspruch blieben erfolglos.
Das Verwaltungsgericht hat die Beklagte unter Aufhebung des ablehnenden Bescheides und des Widerspruchsbescheides verpflichtet, den Klägern für den Zeitraum von Juli 1998 bis März 1999 mit Ausnahme des Monats Februar 1999 weitere Regelsatzleistungen von je 27 DM monatlich zu bewilligen, weil entgegen der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts § 44 SGB X auch auf Sozialhilfeleistungen anwendbar sei. Da der Grundsatz "keine Hilfe für die Vergangenheit" nicht ausnahmslos gelte, könne er auch nicht einer Anwendung des § 44 SGB X entgegenstehen.
Das Oberverwaltungsgericht hat das Urteil des Verwaltungsgerichts geändert und die Klage abgewiesen. Der Grundsatz "keine Hilfe für die Vergangenheit" sei ein zwingendes Strukturprinzip der Sozialhilfe; mit ihm sei eine - auf § 44 Abs. 1 Satz 1 SGB X gestützte - rückwirkende Leistungserbringung nicht vereinbar. Deshalb sei diese Vorschrift nach der Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts BVerwGE 68, 285, der das Berufungsgericht auch unter Berücksichtigung der Gründe des Verwaltungsgerichts für dessen abweichende Ansicht folge, auf das Leistungsrecht des Bundessozialhilfegesetzes nicht anwendbar.
Mit der vom Berufungsgericht zugelassenen Revision verfolgen die Kläger ihr Klagebegehren in dem vom Verwaltungsgericht zugesprochenen Umfang weiter. Sie rügen die Verletzung von § 44 Abs. 1 Satz 1 SGB X und § 2 Abs. 2 Halbsatz 2 SGB I.
Die Beklagte beantragt unter Hinweis auf den Widerspruchsbescheid, die Berufungsbegründung und das Berufungsurteil, die Revision zurückzuweisen.

II


Die Revision der Kläger ist zurückzuweisen (§ 144 Abs. 2 VwGO). Sie ist unbegründet, weil § 44 Abs. 1 und 4 SGB X in Bezug auf Sozialhilfeleistungen, die - wie hier je ein Teil der Hilfe zum Lebensunterhalt für die Monate Juli 1998 bis Januar 1999 und März 1999 - zu Unrecht nicht erbracht worden sind, nicht anwendbar ist.
Das Bundesverwaltungsgericht hat bereits entschieden, dass "§ 44 SGB X auf das Leistungsrecht des Bundessozialhilfegesetzes nicht anwendbar ist" (BVerwGE 68, 285). Die hiergegen vom Verwaltungsgericht vorgebrachten Einwände überzeugen nicht. Es hat den Grundsatz "keine Hilfe für die Vergangenheit" als Strukturprinzip des Sozialhilferechts anerkannt (VG-Urteil S. 7), nicht aber begründet, aus welchem Grund gleichwohl über die in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zugelassenen Ausnahmen hinaus auch in den Fällen des § 44 SGB X, also immer bereits dann, wenn das Recht unrichtig angewandt oder von einem Sachverhalt ausgegangen worden ist, der sich als unrichtig erweist, Sozialhilfe für die Vergangenheit - nach § 44 Abs. 4 SGB X bis zu vier Jahre zurück - zu gewähren sei.
Nach § 37 SGB I gelten das Erste und Zehnte Buch Sozialgesetzbuch für alle Sozialleistungsbereiche des Sozialgesetzbuchs, soweit sich aus den übrigen Büchern nichts Abweichendes ergibt, und bleibt Artikel II § 1, nach dem auch das Bundessozialhilfegesetz als besonderer Teil des Sozialgesetzbuchs gilt, unberührt. Danach gilt § 44 Abs. 1 und 4 SGB X für nicht erbrachte Sozialhilfeleistungen, hier zu Unrecht nicht erbrachte Regelsatz(teil)leistungen der Hilfe zum Lebensunterhalt, nicht (zu hier nicht vorliegenden Besonderheiten z.B. in Bezug auf darlehensweise gewährte Sozialhilfe, s. VG Darmstadt, Urteil vom 17. Juli 1999 - 6 E 162/99 <4> - info also 2003, 36; VG Stuttgart, Gerichtsbescheid vom 17. Mai 2002 - 3 K 452/01 - info also 2003, 168; Armborst in info also 2003, 170). Denn aus dem Bundessozialhilfegesetz ergibt sich, dass Sozialhilfe Nothilfe ist und ein Anspruch auf Sozialhilfeleistungen grundsätzlich einen gegenwärtigen Bedarf voraussetzt (stRspr, BVerwGE 90, 160 <162>; 96, 152 <154 f.>; 99, 149 <156>). Hat ein Bedarf, für den das Bundessozialhilfegesetz Hilfeleistungen bestimmt, in der Vergangenheit, bestanden, besteht er aber jetzt nicht (mehr) (fort), fehlt es an einer für den Sozialhilfeanspruch wesentlichen Anspruchsvoraussetzung; es besteht kein Anspruch auf Hilfe für die Vergangenheit.
Allerdings sind in ständiger Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts Ausnahmen vom Erfordernis eines tatsächlich (fort-)bestehenden Bedarfs anerkannt, in Eilfällen um der Effektivität der gesetzlichen Gewährung des Rechtsanspruchs auf Sozialhilfe und bei Einlegung von Rechtsbehelfen um der Effektivität des Rechtsschutzes auf Sozialhilfe willen (BVerwG a.a.O.). Damit trägt das Bundesverwaltungsgericht der aus der Zeitgebundenheit der Sozialhilfe resultierenden Existenzschwäche des Sozialhilfeanspruchs Rechnung und sichert ihn normativ ab (BVerwGE 96, 18 <20>).
Ein solcher Ausnahmefall liegt in den Fällen des § 44 SGB X aber nicht vor (BVerwGE 68, 285 <289>). Da § 44 Abs. 1 SGB X voraussetzt, dass eine Sozialleistung auf Grund eines Verwaltungsaktes nicht erbracht worden ist, erfasst er nicht den Ausnahmefall, in dem der tatsächliche Sozialhilfebedarf wegen Eilbedürftigkeit vor einer Entscheidung des Sozialhilfeträgers gedeckt worden ist. Und weil § 44 Abs. 1 SGB X die Rücknahme eines unanfechtbaren Verwaltungsaktes regelt, fehlt es für die Ausnahme um der Effektivität des Rechtsschutzes willen an dem insoweit erforderlichen Rechtsbehelf.
§ 44 Abs. 1 und 4 SGB X kann auch nicht dahin verstanden werden, dass er bezogen auf das Sozialhilferecht über die genannten Ausnahmen hinaus eine weitere Ausnahme vom Erfordernis eines tatsächlichen Bedarfs regele. § 44 Abs. 4 SGB X begründet keinen eigenständigen, von der ursprünglich begehrten Sozialleistung unabhängigen Sozialleistungsanspruch. Vielmehr werden nach dieser Bestimmung "Sozialleistungen nach den Vorschriften der besonderen Teile dieses Gesetzbuches" erbracht, also jene Sozialleistungen nacherbracht, die zuvor zu Unrecht nicht erbracht worden sind (§ 44 Abs. 1 SGB X). "Sozialleistungen nach den Vorschriften der besonderen Teile dieses Gesetzbuches" können aber nur dann noch erbracht werden, wenn sie - sieht man über die bestandskräftige Leistungsablehnung hinweg - noch beansprucht werden können.
Mit §§ 44 ff. SGB X hat der Gesetzgeber eine umfassende und abschließende Abwägung zwischen den rechtsstaatlichen Prinzipien der Gesetzmäßigkeit des Verwaltungshandelns und der Rechtssicherheit (vgl. BVerwGE 99, 114 <119>) in einer auf die Besonderheiten und Bedeutung des Sozialleistungsbereiches abgestimmten Weise getroffen (BVerwGE 109, 346 <348>). Dabei hat er mit der Regelung in § 44 Abs. 1 und 4 SGB X der Gesetzmäßigkeit gegenüber der Rechtssicherheit Vorrang gegeben. Darin aber erschöpft sich die Bedeutung des § 44 Abs. 1 und 4 SGB X, der nicht in das Leistungsrecht der einzelnen besonderen Sozialleistungsbereiche eingreift. § 44 Abs. 1 und 4 SGB X schränkt also allein die sonst aus der Bestandskraft erwachsende Rechtssicherheit ein, lässt aber die materiellrechtlichen Besonderheiten der einzelnen besonderen Sozialleistungsbereiche unberührt. § 44 Abs. 1 und 4 SGB X ist daher nur anwendbar, wenn und soweit auch zur Zeit der Rücknahme nach § 44 Abs. 1 SGB X und der Leistungserbringung nach § 44 Abs. 4 SGB X ein Anspruch auf "Sozialleistungen nach den besonderen Teilen dieses Gesetzbuches" noch besteht. Im Sozialhilferecht besteht aber in den Fällen des § 44 Abs. 1 und 4 SGB X, also bei durch Verwaltungsakt zu Unrecht versagter Leistung, gerade kein Bedarf aus der Vergangenheit und damit auch kein Sozialhilfeanspruch fort, auf den nach § 44 Abs. 4 SGB X Leistungen nacherbracht werden könnten. Nach dem Bundessozialhilfegesetz sind Regelsatzleistungen Hilfe zum Lebensunterhalt. Sie setzen einen aktuellen Regelbedarf zum Lebensunterhalt voraus und sind dazu bestimmt, ihn zu decken (§ 22 Abs. 3 BSHG). Vorbehaltlich der genannten Ausnahmen besteht der Regelbedarf für eine monatliche Regelsatzleistung nur im jeweils aktuellen Monat.
Im Juni 1999, als die Kläger die Nachzahlung der in den Monaten Juli 1998 bis Januar 1999 und März 1999 nicht erbrachten Hilfe geltend machten, war der aktuelle Regelbedarf zum Lebensunterhalt allein der für Juni 1999. Zurückliegender, auf vergangene Zeit bezogener Regelbedarf, hier für Juli 1998 bis Januar 1999 und März 1999, war im Juni 1999 nicht mehr aktueller Regelbedarf zum Lebensunterhalt als Voraussetzung für Regelsatzleistungen. Soweit auf früheren Regelbedarf in der für ihn aktuellen Zeit nicht ausreichend geleistet worden ist, wächst dieser nicht dem später aktuellen Regelbedarf zum Lebensunterhalt mit der Folge zu, dass dann Sozialhilfe über die aktuellen Regelsatzleistungen hinaus zu leisten wäre.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO, die Gerichtskostenfreiheit auf § 188 Satz 2 VwGO.