Beschluss vom 15.06.2006 -
BVerwG 1 B 54.06ECLI:DE:BVerwG:2006:150606B1B54.06.0

Beschluss

BVerwG 1 B 54.06

  • Bayerischer VGH München - 23.03.2006 - AZ: VGH 24 B 05.2889

In der Verwaltungsstreitsache hat der 1. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 15. Juni 2006
durch den Richter am Bundesverwaltungsgericht Hund, die Richterin am
Bundesverwaltungsgericht Beck und den Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Dörig
beschlossen:

  1. Auf die Beschwerde des Klägers wird das Urteil des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs vom 23. März 2006 aufgehoben.
  2. Die Sache wird zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an den Verwaltungsgerichtshof zurückverwiesen.
  3. Die Entscheidung über die Kosten in der Hauptsache bleibt der Schlussentscheidung vorbehalten.
  4. Die Entscheidung über die Kosten des Beschwerdeverfahrens folgt der vorbehaltenen Kostenentscheidung in der Hauptsache.
  5. Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwerdeverfahren auf 5 000 € festgesetzt.

Gründe

1 Die Beschwerde des Klägers hat Erfolg. Sie rügt im Ergebnis zu Recht, dass das Berufungsgericht den Anspruch des Klägers auf rechtliches Gehör verletzt hat (§ 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO i.V.m. Art. 103 Abs. 1 GG, § 108 Abs. 2 VwGO). Im Interesse der Verfahrensbeschleunigung verweist der Senat die Sache gemäß § 133 Abs. 6 VwGO an das Berufungsgericht zurück.

2 1. Die von der Beschwerde erhobene Grundsatzrüge greift allerdings nicht durch (§ 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO).

3 Die Beschwerde hält die Frage für rechtsgrundsätzlich klärungsbedürftig, „welchen Umfang die Initiativpflicht des Ausländers bei der Beschaffung von Identifikations- und Heimreisepapieren hat bzw. welche konkreten Handlungen im Rahmen der Initiativpflicht von ihm verlangt werden können“ (Beschwerdebegründung S. 3). Sie leitet ein Klärungsbedürfnis daraus ab, dass das Berufungsgericht einen Anspruch des Klägers auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 AufenthG mit der Begründung abgelehnt habe, er habe nicht genug aus eigener Initiative getan, um das Passbeschaffungsverfahren positiv zu beeinflussen, etwa durch Kontaktaufnahme zu seinen Verwandten in Pakistan. Jedenfalls im konkreten Fall überspanne das Berufungsgericht hierbei die Anforderungen an den Kläger, indem es die begrenzten intellektuellen Fähigkeiten des Klägers, der nur über eine fünfjährige Schulbildung verfüge, nicht berücksichtigt habe. Der Umfang der im Rahmen des Verfahrens zur Beschaffung von Heimreisepapieren der Behörde und dem Ausländer gegenseitig obliegenden Pflichten sei bisher obergerichtlich nicht hinreichend geklärt.

4 Die von der Beschwerde aufgeworfene Frage lässt sich jedoch nicht - wie für eine Zulassung wegen grundsätzlicher Bedeutung erforderlich - verallgemeinerungsfähig beantworten. Wie der Senat zu dem Begriff der „zumutbaren Anforderungen“ in § 30 Abs. 4 AuslG (vgl. insoweit jetzt § 25 Abs. 5 Satz 4
AufenthG) bereits ausgeführt hat, ist über die Zumutbarkeit der dem Ausländer obliegenden Handlungen unter Berücksichtigung aller Umstände und Besonderheiten des Einzelfalles zu entscheiden. Mit der Verwendung dieses Begriffes will das Gesetz es gerade ermöglichen, den Eigenheiten des Einzelfalles Rechnung zu tragen (Beschluss vom 16. Dezember 1998 - BVerwG 1 B 105.98 - Buchholz 402.240 § 30 AuslG 1990 Nr. 10). Dabei kann auch den individuellen intellektuellen Fähigkeiten des Ausländers Rechnung getragen werden. Über die Aussage hinaus, dass von vornherein erkennbar aussichtslose Handlungen dem Ausländer nicht abverlangt werden dürfen, entzieht sich die Frage aber einer abstrakt-generellen Klärung in einem Revisionsverfahren. Die Beschwerde zeigt nicht auf, inwiefern der Fall des Klägers angesichts dessen Anlass zu weitergehender rechtsgrundsätzlicher Klärung geben könnte.

5 2. Das angegriffene Urteil verletzt den Anspruch des Klägers auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG, § 108 Abs. 2 VwGO).

6 Mit Recht beanstandet die Beschwerde, dass das Berufungsgericht die Adressierung des Briefes des Klägers vom 5. Juni 2005 an seinen Sohn, obwohl er inhaltlich an seine Ehefrau gerichtet war, nicht ohne vorherigen Hinweis oder eine Nachfrage zum Grund der gewählten Adressierung in der mündlichen Verhandlung zu Ungunsten des Klägers hätte bewerten dürfen. Zwar folgt aus dem Recht auf rechtliches Gehör keine allgemeine Frage- und Aufklärungspflicht des Gerichts (vgl. BVerfGE 84, 188, 190). Auch in der Ausprägung, die dieses Recht in § 86 Abs. 3 VwGO gefunden hat, wird dem Gericht keine umfassende Erörterung aller entscheidungserheblichen Gesichtspunkte abverlangt. Insbesondere muss ein Gericht die Beteiligten grundsätzlich nicht vorab auf seine Rechtsauffassung oder die beabsichtigte Würdigung des Prozessstoffs hinweisen, weil sich die tatsächliche und rechtliche Würdigung regelmäßig erst aufgrund der abschließenden Beratung ergibt (stRspr, vgl. etwa Beschluss vom 28. Dezember 1999 - BVerwG 9 B 467.99 - Buchholz 310 § 86 Abs. 3 VwGO Nr. 51). Stellt das Gericht aber an den Vortrag eines Beteiligten Anforderungen, mit denen auch ein verständiger Prozessbeteiligter aufgrund des bisherigen Verlaufs des Verfahrens nicht zu rechnen brauchte, ist es zur Vermeidung einer Überraschungsentscheidung verpflichtet, einen entsprechenden Hinweis zu geben. So liegt der Fall hier. Der Kläger musste nicht damit rechnen, dass das Berufungsgericht das Schreiben vom 5. Juni 2005 jedenfalls auch deshalb nicht als geeignete Initiative zur Beschaffung von Dokumenten ansah, weil es an den Sohn des Klägers adressiert, inhaltlich aber an die Ehefrau gerichtet war (UA S. 19). Das Vorbringen der Beschwerde, dass man in Pakistan Briefe nicht direkt an die Ehefrau, sondern an den Vater, den ältesten Sohn oder den Bruder adressiere, erscheint nicht völlig fern liegend. Jedenfalls hätte das Gericht dem Kläger Gelegenheit zur Äußerung geben müssen, bevor es eine nachteilige Entscheidung auf die Form der Adressierung stützt. Es ist nicht auszuschließen, dass das Gericht dann - gegebenenfalls nach entsprechender Beweiserhebung - zu einem für den Kläger günstigeren Ergebnis gelangt wäre, da die gewählte Adressierung für die tatrichterliche Entscheidung, dass der Kläger eine ihm nach § 25 Abs. 5 AufenthG obliegende Pflicht verletzt habe, von Bedeutung war (vgl. UA S. 19 f.). Der Verfahrensfehler führt daher zur Aufhebung der angefochtenen Entscheidung.

7 Die Streitwertfestsetzung ergibt sich aus § 52 Abs. 2, § 72 Nr. 1 GKG.