Beschluss vom 15.07.2024 -
BVerwG 7 B 32.23ECLI:DE:BVerwG:2024:150724B7B32.23.0
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Zitiervorschlag
BVerwG, Beschluss vom 15.07.2024 - 7 B 32.23 - [ECLI:DE:BVerwG:2024:150724B7B32.23.0]
Beschluss
BVerwG 7 B 32.23
- OVG Schleswig - 28.06.2023 - AZ: 5 KS 26/21
In der Verwaltungsstreitsache hat der 7. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 15. Juli 2024
durch den Präsidenten des Bundesverwaltungsgerichts Prof. Dr. Korbmacher, den Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Günther und
die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Bähr
beschlossen:
- Die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Urteil des Schleswig-Holsteinischen Oberverwaltungsgerichts vom 28. Juni 2023 wird zurückgewiesen.
- Der Kläger trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens einschließlich der außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen.
- Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwerdeverfahren auf 15 000 € festgesetzt.
Gründe
I
1 Der Kläger wendet sich gegen immissionsschutzrechtliche Genehmigungen zur Errichtung und zum Betrieb von drei Windkraftanlagen. Sein Wohnhaus befindet sich im Außenbereich in einem Abstand von ca. 660 m zur nächstgelegenen geplanten Windkraftanlage.
2 Der Kläger hat unter anderem geltend gemacht, die Schallprognose sei unzureichend. Auch werde der von einer Windkraftanlage ausgehende Körperschall, der sich im Erdreich weit über 1 000 m ausbreiten könne, abhängig insbesondere von der Leistungsstärke der Anlage und den Bodenverhältnissen, überhaupt nicht behandelt. Es bestünde eine Lebensgefährdung durch konkret-kausale Unfallgefahren. Das Oberverwaltungsgericht hat die Klage abgewiesen und die Revision gegen sein Urteil nicht zugelassen. Hiergegen richtet sich die Beschwerde des Klägers.
II
3 Die allein auf den Zulassungsgrund des § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO gestützte Beschwerde hat keinen Erfolg. Die Rechtssache hat nicht die ihr vom Kläger beigemessene grundsätzliche Bedeutung.
4 Grundsätzlich bedeutsam im Sinne von § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO ist eine Rechtssache dann, wenn in dem angestrebten Revisionsverfahren die Klärung einer bisher höchstrichterlich ungeklärten, in ihrer Bedeutung über den der Beschwerde zugrundeliegenden Einzelfall hinausgehenden, klärungsbedürftigen und entscheidungserheblichen Rechtsfrage des revisiblen Rechts (§ 137 Abs. 1 VwGO) zu erwarten ist. In der Beschwerdebegründung muss gemäß § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO dargelegt werden, dass und inwiefern diese Voraussetzungen vorliegen (stRspr, vgl. nur BVerwG, Beschluss vom 27. Oktober 2023 - 7 B 10.23 - juris Rn. 7). Dies ist hier nicht der Fall.
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1.a) Die Frage,
"Ist die inhärente Annahme einer heute und zukünftig sehr großen Windanlage mit Rotordurchmessern von ca. 150m und mehr als 'hochhängende punktförmige Schallquelle' noch zulässig, da der Schall sich eher über die Rotorblattspitzen ausbreitet und dadurch andere Prognose Parameter (um die Rotorblattlänge veränderte Prognosegrundlage) relevant werden, die die Anwohner durch die Immissionen durch erhöhte Werte nachteilig treffen?",
kann nicht zur Zulassung der Revision wegen grundsätzlicher Bedeutung führen. Dies gilt auch dann, wenn man sie nicht als eine bloße Tatsachenfrage, sondern als Rechtsfrage hinsichtlich der (weiteren) Anwendbarkeit der Technischen Anleitung zum Schutz gegen Lärm (TA Lärm) vom 26. August 1998 (GMBl. S. 503), die auf die DIN ISO 9613-2 Bezug nimmt, auslegt. Tatsachen, die vorliegen müssten, damit die so verstandene Frage in der Nichtzulassungsbeschwerde nach veränderten Prognosegrundlagen für die Schallimmissionsberechnung sich in einem Revisionsverfahren stellen könnte, sind von der Vorinstanz nicht festgestellt worden (vgl. BVerwG, Beschluss vom 7. Mai 2024 - 7 B 22.23 - juris Rn. 6 m. w. N.). Das Oberverwaltungsgericht hat keine Feststellungen dazu getroffen, dass sich der Schall eher über die Rotorblattspitzen von sehr großen Windenergieanlagen ausbreitet. Die Vorinstanz hat vielmehr angenommen, dass die Rüge des Klägers, die Schallimmissionsberechnung sei unzureichend, nicht durchgreife. Die vorliegende Schallimmissionsberechnung beruhe auf einer Lärmausbreitungsberechnung nach Maßgabe der Vorgaben der TA Lärm, den LAI-Hinweisen zum Schallimmissionsschutz bei Windkraftanlagen (Stand: 30. Juni 2016) und der DIN ISO 9613-2. Das in der DIN ISO 9613-2 festgelegte Verfahren besteht aus Algorithmen zur Berechnung der Dämpfung von Schall, der von einer punktförmigen Schallquelle ausgeht. Es ist damit offen, ob sich die Frage eines Abrückens von der TA Lärm als normkonkretisierender Verwaltungsvorschrift in einem Revisionsverfahren überhaupt stellen würde. Ziel der Grundsatzrevision ist es indes, die Rechtseinheit in ihrem Bestand zu erhalten oder die Weiterentwicklung des Rechts zu fördern (stRspr, vgl. BVerwG, Beschluss vom 2. Oktober 1961 - 8 B 78.61 - BVerwGE 13, 90 <91>). Dem würde es widersprechen, die Revision in Bezug auf Fragen zuzulassen, deren Entscheidungserheblichkeit nicht feststeht (BVerwG, Beschluss vom 21. Januar 2016 - 4 BN 36.15 - juris Rn. 12). Der Rechtsstreit müsste zur Klärung dieser Frage daher an das Oberverwaltungsgericht zurückverwiesen werden, wenn die als grundsätzlich aufgeworfene Frage im Sinne des Klägers beantwortet würde (vgl. BVerwG, Urteile vom 10. April 2013 - 4 C 3.12 - BVerwGE 146, 176 Rn. 10 und 31 und vom 19. Dezember 2013 - 4 C 14.12 - BVerwGE 149, 17 Rn. 4 und 29; vgl. zum Ganzen auch BVerwG, Beschluss vom 28. April 2020 - 4 B 49.18 - juris Rn. 6).
6 Fehlende tatrichterliche Feststellungen können einer Beschwerde lediglich dann nicht entgegengehalten werden, wenn eine in der Vorinstanz ordnungsgemäß beantragte Sachverhaltsaufklärung nur deswegen unterblieben ist, weil das Tatsachengericht eine als rechtsgrundsätzlich bedeutsam bezeichnete Frage anders als der Beschwerdeführer beantwortet und deswegen die Beweisaufnahme als nicht entscheidungserheblich abgelehnt hat (BVerwG, Beschlüsse vom 17. März 2000 - 8 B 287.99 - BVerwGE 111, 61 <62>, vom 19. August 2013 - 9 BN 1.13 - Buchholz 401.68 Vergnügungssteuer Nr. 56 Rn. 7, vom 21. April 2015 - 4 B 8.15 - juris Rn. 3 und vom 21. Januar 2016 - 4 BN 36.15 - juris Rn. 13). Ein solcher Fall liegt indes nicht vor, weil der anwaltlich vertretene Kläger vor dem Oberverwaltungsgericht insoweit Anträge zur Sachverhaltsaufklärung nicht gestellt hat und auch nichts dafür ersichtlich ist, dass auf das Erfordernis eines (unbedingten) Beweisantrages ausnahmsweise verzichtet werden konnte (vgl. zum Ganzen auch BVerwG, Beschluss vom 28. April 2020 - 4 B 49.18 - juris Rn. 8 f.).
7 b) Ungeachtet dessen ist in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts die Fragestellung, unter welchen Voraussetzungen normkonkretisierende Vorschriften - hier der TA Lärm - obsolet werden, bereits geklärt (vgl. BVerwG, Beschluss vom 30. Dezember 2022 - 7 B 15.22 - ZNER 2023, 38 Rn. 7). Den unbestimmten Rechtsbegriff der schädlichen Umwelteinwirkungen (vgl. § 5 Abs. 1 Nr. 1 BImSchG) konkretisiert für anlagenbezogene Lärmimmissionen die TA Lärm, der eine auch im gerichtlichen Verfahren zu beachtende Bindungswirkung zukommt (stRspr, vgl. nur BVerwG, Urteil vom 12. November 2020 - 4 A 13.18 - juris Rn. 46 m. w. N.). Das Abrücken von der Bindung an in der normkonkretisierten Verwaltungsvorschrift niedergelegten Standards stellt hohe Anforderungen an die dafür erforderliche Tatsachengrundlage. Nur gesicherte Erkenntnisfortschritte in Wissenschaft und Technik können die Regelungen obsolet werden lassen, wenn sie den ihnen zugrundeliegenden Einschätzungen, Bewertungen und Prognosen den Boden entziehen (BVerwG, Urteil vom 21. Juni 2001 - 7 C 21.00 - BVerwGE 114, 342 <346>; vgl. auch BVerwG, Urteil vom 10. Juli 2012 - 7 A 11.11 - BVerwGE 143, 249 Rn. 27). In einem solchen Fall entsprechen die Regelungen nicht mehr den Vorgaben des Bundes-Immissionsschutzgesetzes und können, ohne dass es darauf ankäme, inwieweit wissenschaftliche Erkenntnisse zu brauchbaren Alternativen für eine Normanwendung oder gar Normkonkretisierung geführt haben, keine normkonkretisierende Funktion mehr entfalten (BVerwG, Beschluss vom 21. März 1996 - 7 B 164.95 - Buchholz 406.251 § 22 UVPG Nr. 4 S. 5). Hieran hat sich das Oberverwaltungsgericht orientiert, wenn es die Rüge des Klägers im Hinblick auf die Schallimmissionsberechnung als nicht durchgreifend angesehen hat.
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2. Der Kläger möchte in einem Revisionsverfahren auch Folgendes geklärt wissen:
"Ist die Übertragung von Körperschallwellen von den inzwischen sehr leistungsstarken Anlagen vom Mast über das Fundament in den Boden und von dort ringförmig ausstrahlend - hier in besonders wasserreichem Marschboden - als physikalisch-gesetzmäßige Folge vom Kläger zu belegen oder stellt das aufgrund der gesetzmäßigen Grundlagen des Schalls, wie er auch in analoger Anwendung beim Körperschall prognostiziert, wie auch gemessen werden kann eine Umkehrung der Beweislast dar, die einen Körperschall unterstellen muss und folglich den Anlagenprojektierer/Beigeladenen verpflichtet eine Prognose pp vorzulegen?"
9 Diese Frage rechtfertigt die Zulassung der Revision schon deshalb nicht, weil sie nicht entscheidungserheblich ist. Eine in der Frage unterstellte Darlegungs- und Beweislast des Klägers für schädliche Umwelteinwirkungen durch Körperschall, die zur Ablehnung seines Abwehranspruchs geführt hat, entspricht nicht den vom Oberverwaltungsgericht getroffenen tatsächlichen Feststellungen. Dieses hat vielmehr zugrunde gelegt, dass für die Annahme, die streitgegenständlichen Windkraftanlagen verursachten am Wohnhaus des Klägers schädliche Umwelteinwirkungen durch Körperschall, nicht wenigstens eine gewisse Wahrscheinlichkeit spreche (UA S. 19). Davon abgesehen sind die Pflichten des Anlagenbetreibers zur Vorlage von Unterlagen im Genehmigungsverfahren in § 10 Abs. 1 Satz 2 BImSchG geregelt und gilt im Verwaltungsprozess nicht der Beibringungsgrundsatz.
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3. Auch die Frage,
"Ist die Klagebefugnis (ohne Begründung) bei einem Abstand zum Wohnhaus von ca. 660m rechtlich zulässig abzulehnen trotz Unfallträchtigkeit einer Windanlage im Nahfeld zur nächsten Wohnbebauung und muss eine probabilistische Prognose zur Unfallwahrscheinlichkeit in einem solchen Nahfeld vorgelegt werden oder ist eine ca. 660m an ein Wohnhaus herangebaute Windanlage ein (generell) hinzunehmendes allgemeines Lebensrisiko, auch wenn das Risiko eines Unfalls an ein betroffenes Wohnhaus heran gebaut wird und bei unter 1 000m exponentiell steigt je geringer der Abstand von Anlage zu Wohnhaus?"
ist nicht entscheidungserheblich. Feststellungen, wie sie in der Frage formuliert sind, hat das Oberverwaltungsgericht nicht getroffen. Insbesondere ist es nicht von der Unfallträchtigkeit der Situation ausgegangen. Die Vorinstanz hat lediglich angenommen, der Kläger sei nicht klagebefugt, soweit er sich aufgrund des Abstandes von 660 m zur nächstgelegenen Windkraftanlage auf eine Lebensgefährdung durch Unfallgefahren beruft. Ein Verstoß gegen Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG (Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit) erscheine nicht möglich, da eine konkrete Unfallgefahr im Zusammenhang mit den genehmigten Windkraftanlagen, die den Kläger schädigen könnte, nicht ersichtlich sei. Diese tatsächlichen Feststellungen hat der Kläger nicht angegriffen.
11 Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2, § 162 Abs. 3 VwGO. Die Festsetzung des Streitwerts beruht auf § 47 Abs. 1 Satz 1 und 3, § 52 Abs. 1 GKG.