Beschluss vom 17.05.2004 -
BVerwG 9 B 29.04ECLI:DE:BVerwG:2004:170504B9B29.04.0

  • Zitiervorschlag

    BVerwG, Beschluss vom 17.05.2004 - 9 B 29.04 - [ECLI:DE:BVerwG:2004:170504B9B29.04.0]

Beschluss

BVerwG 9 B 29.04

  • OVG für das Land Brandenburg - 03.12.2003 - AZ: OVG 2 A 417/01

In der Verwaltungsstreitsache hat der 9. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 17. Mai 2004
durch den Präsidenten des Bundesverwaltungsgerichts H i e n und die Richter
am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. R u b e l und Dr. N o l t e
beschlossen:

  1. Die Beschwerde des Beklagten gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Urteil des Oberverwaltungsgerichts für das Land Brandenburg vom 3. Dezember 2003 wird zurückgewiesen.
  2. Der Beklagte trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
  3. Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwerdeverfahren auf 286 125,57 € festgesetzt.

Die allein auf den Zulassungsgrund des § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO gestützte Beschwerde ist unbegründet.
Die mit ihr aufgeworfene Frage,
ob "es für die Annahme des Gegenstandes des Klagebegehrens gemäß § 82 Abs. 1 Satz 1 VwGO als vom Gericht auszulegendem Rechtsschutzziel bei einer Anfechtungsklage ausreichend (ist), dass der Klageschrift in der Anlage Bescheide abschriftlich ohne Bezug zum Inhalt der Klageschrift beigefügt sind und sich hieraus gleichwohl das Klägerbegehren ergeben soll, auch wenn sich die Klagebegründung und der Klageantrag des bereits im Rechtsbehelfsverfahren anwaltlich vertretenen Klägers ausdrücklich und ohne sonstigen Hinweis auf andere, als die in der Anlage abschriftlich beigefügten Bescheide, beziehen",
verleiht der Rechtssache keine grundsätzliche Bedeutung. Welches Rechtsschutzziel zugrunde zu legen ist, wenn im Klageantrag und in der Klagebegründung andere als die der Klageschrift beigefügten Bescheide als Gegenstand der Anfechtung bezeichnet sind, kann nicht losgelöst von den jeweiligen Umständen des Einzelfalls beurteilt werden. Soweit hierzu verallgemeinernde Aussagen getroffen werden können, lassen sich diese aus der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ableiten, ohne dass es weiterer Klärung in einem Revisionsverfahren bedürfte.
Bei der Erfassung des Klagebegehrens ist das Gericht nach § 88 VwGO an die Fassung der Anträge nicht gebunden, sondern hat das tatsächliche Rechtsschutzziel zu ermitteln. Insoweit sind die für die Auslegung von Willenserklärungen geltenden Grundsätze (§§ 133, 157 BGB) anzuwenden. Maßgebend ist der geäußerte Parteiwille, wie er sich aus der prozessualen Erklärung und sonstigen Umständen ergibt; der Wortlaut der Erklärung tritt hinter deren Sinn und Zweck zurück (BVerwG, Urteil vom 27. April 1990 - BVerwG 8 C 70.88 - Buchholz 310 § 74 VwGO Nr. 9). Neben dem Klageantrag und der Klagebegründung sind auch die mit der Klage vorgelegten Bescheide für die Ermittlung des Rechtsschutzziels von Bedeutung (vgl. BVerwG, Urteile vom 18. November 1982 - BVerwG 1 C 62.81 - Buchholz 310 § 82 VwGO Nr. 11 und vom 3. Juli 1992 - BVerwG 8 C 72.90 - Buchholz 310 § 88 VwGO Nr. 19), zumal wenn sie - wie hier - im Text der Klagebegründung ausdrücklich in Bezug genommen werden. Ergänzend ist die Interessenlage des Klägers zu berücksichtigen, soweit sie sich aus dem Parteivortrag und sonstigen für das Gericht und den Beklagten als Empfänger der Prozesserklärung erkennbaren Umständen ergibt (vgl. BVerwG, Urteil vom 18. November 1982 - BVerwG 1 C 62.81 - a.a.O.).
Ausgehend von diesen Grundsätzen lässt sich entgegen der Auffassung des Beklagten nicht abstrakt beantworten, mit welchem Ergebnis Widersprüche zwischen den Angaben im Klageantrag und in der Klagebegründung einerseits und den der Klageschrift beigefügten Bescheiden andererseits aufzulösen sind. Je nach den Umständen des jeweiligen Falles kann den Angaben in der Klageschrift oder den beigefügten Unterlagen eine größere Aussagekraft zukommen, wobei neben anderen Gesichtspunkten vor allem die erkennbare Interessenlage des Klägers und der Umstand, ob er anwaltlich vertreten worden ist oder selbst gehandelt hat, die Deutung beeinflussen können. Strikte Vorrangregeln aufzustellen, wäre mit dem Erfordernis zweckentsprechender Auslegung unvereinbar. Eine weitergehende Klärung wäre in einem Revisionsverfahren demgemäß nicht zu erwarten.
Als grundsätzlich bedeutsam wirft die Beschwerde außerdem folgende Fragen auf:
"Muss das erkennende Gericht bei Eingang einer Anfechtungsklage eines anwaltlich vertretenen Klägers, die sich nach dem Wortlaut ihres Klageantrags und ihrer Klagebegründung zweifelsfrei auf die Aufhebung eines bestimmten Verwaltungsaktes richtet, der aber bereits Gegenstand in einem anderen anhängigen Anfechtungsverfahren derselben Beteiligten bei demselben Gericht ist, von einer Unvollständigkeit der Klageschrift i.S.d. § 82 Abs. 1 Satz 1 VwGO hinsichtlich des Klägerbegehrens ausgehen und den Kläger gemäß § 82 Abs. 2 VwGO zur Vervollständigung der Klage auffordern? Ist bei dieser konkreten Ausgangslage die Klage auch noch nach Ablauf der Klagefrist zu ergänzen bzw. zu berichtigen und darf die Klage wegen des ursprünglichen Mangels nicht mehr als unzulässig abgewiesen werden?"
Diese Fragen vermögen die Zulassung der Revision gleichfalls nicht zu rechtfertigen. Abgesehen davon, dass sie ganz auf die prozessualen Gegebenheiten des Einzelfalls abstellen, sind sie nicht klärungsbedürftig. Das Berufungsgericht hat Überlegungen zur Unklarheit bzw. Unvollständigkeit des Klagebegehrens und zu dessen nachträglicher Vervollständigung nur hilfsweise angestellt, seine Entscheidung hingegen selbständig tragend in erster Linie auf die Annahme gestützt, dass sich das Rechtsschutzziel hinreichend deutlich bereits der Klage habe entnehmen lassen. Ausgehend von dieser Beurteilung kam es auf die Erwägungen zu § 82 Abs. 2 VwGO nicht mehr entscheidungserheblich an. Unabhängig davon gelten zu der Frage, ob bei einem Widerspruch zwischen den Angaben in dem Klageantrag und der Klagebegründung einerseits und den der Klageschrift beigefügten Bescheiden andererseits der Gegenstand des Klagebegehrens unklar sein kann, die Ausführungen zur eingangs behandelten Frage entsprechend. Dass eine Klage, die den Anforderungen des § 82 Abs. 1 Satz 1 VwGO nur unvollständig entspricht, auch nach Ablauf der Klagefrist noch vervollständigt werden kann, ist bereits geklärt (vgl. etwa BVerwG, Beschlüsse vom 6. Februar 1990 - BVerwG 9 B 498.89 - Buchholz 310 § 82 VwGO Nr. 13 und vom 12. Februar 1993 - BVerwG 9 B 25.93 - Buchholz 310 § 124 VwGO Nr. 24).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO, die Streitwertfestsetzung auf § 13 Abs. 2, § 14 GKG.