Beschluss vom 17.05.2006 -
BVerwG 1 B 100.05ECLI:DE:BVerwG:2006:170506B1B100.05.0

Beschluss

BVerwG 1 B 100.05

  • OVG des Saarlandes - 23.06.2005 - AZ: OVG 2 R 16/03

In der Verwaltungsstreitsache hat der 1. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 17. Mai 2006
durch die Vizepräsidentin des Bundesverwaltungsgerichts Eckertz-Höfer und die Richter am Bundesverwaltungsgericht Hund und Richter
beschlossen:

  1. Die Beschwerde der Kläger gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Urteil des Oberverwaltungsgerichts des Saarlandes vom 23. Juni 2005 wird zurückgewiesen.
  2. Die Kläger tragen die Kosten des Beschwerdeverfahrens.

Gründe

1 Die auf sämtliche Revisionszulassungsgründe nach § 132 Abs. 2 Nr. 1 bis 3 VwGO gestützte Beschwerde hat keinen Erfolg.

2 Die Beschwerde gegen das den Klägern am 13. Juli 2005 zugestellte Urteil ist nicht wegen Verfristung unzulässig. Sie ist zwar erst am Dienstag, den 16. August 2005 beim Oberverwaltungsgericht eingelegt worden. Die Monatsfrist zur Einlegung der Beschwerde nach § 133 Abs. 3 Satz 1 VwGO endete hier aber nach § 57 Abs. 2 VwGO i.V.m. § 222 Abs. 2 ZPO erst an diesem Tag. Der 15. August war nämlich am Sitz des Oberverwaltungsgerichts im Saarland ein allgemeiner, nämlich (landes-)gesetzlicher Feiertag (Mariä Himmelfahrt; vgl. § 2 Abs. 1 Nr. 8 Feiertagsgesetz Saarland vom 18. Februar 1976, ABl S. 211, i.d.F. der Änderung vom 31. März 2004, ABl S. 1037). Für den Ablauf einer Rechtsmittelfrist an einem nicht bundeseinheitlichen gesetzlichen Feiertag sind nach unbestrittener Ansicht die Verhältnisse an dem Ort maßgebend, an dem die Frist zu wahren ist (vgl. zuletzt OVG Frankfurt/Oder, Beschluss vom 30. Juni 2004 - 2 A 247/04.AZ - NJW 2004, 3795 m.w.N. und etwa BAG, Urteil vom 24. September 1996 - 9 AZR 364/95 - BAGE 84, 140 und Beschluss vom 16. Januar 1989 - 5 AZR 579/88 - NJW 1989, 1181; BSG, Beschluss vom 8. November 1994 - 2 BU 184/94 - MDR 1995, 955; BayVGH, Beschluss vom 9. August 1996 - 23 AA 95.30922 - NJW 1997, 2130; Meissner, in Schoch/ Schmidt-Aßmann/Pietzner, VwGO, § 57 Rn. 28; Stöber, in: Zöller, ZPO, 25. Aufl. 2005, § 222 Rn. 1).

3 Die Beschwerde entspricht aber schon nicht den Anforderungen an die Darlegung der Zulassungsgründe aus § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO.

4 1. Das Berufungsgericht hat einen Anspruch der Kläger auf Anerkennung als politische Flüchtlinge nach § 60 Abs. 1 AufenthG (und hilfsweise auf Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 2 ff. AufenthG) im Ergebnis verneint, weil sie „selbst bei der unterstellten Anwendbarkeit“ des herabgestuften Prognosemaßstabs (im Hinblick auf die tschetschenische Volkszugehörigkeit der Klägerin) vor politischer Verfolgung auf dem Territorium der Russischen Föderation eine inländische Fluchtalternative finden könnten, wo sie vor politischer Verfolgung hinreichend sicher seien (UA S. 14 ff., 19) und unter Inanspruchnahme des in der Verfassung garantierten Rechts auf Freizügigkeit einen gesicherten Aufenthalt sowie das wirtschaftliche Existenzminimum erlangen könnten (UA S. 19 ff. und 25 ff.).

5 2. Vor diesem Hintergrund erheben die Kläger zunächst eine Divergenzrüge (§ 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO). Sie machen geltend, das Berufungsgericht habe mit seinen Ausführungen dazu, dass tschetschenische Flüchtlinge in der Russischen Föderation eine inländische Fluchtalternative finden könnten, „auch wenn die Betroffenen von dem in der Verfassung der Russischen Föderation garantierten Recht auf Freizügigkeit, insbesondere hinsichtlich der Wahl des Wohnsitzes und des gewöhnlichen Aufenthaltsortes, an zahlreichen Orten der Russischen Föderation keinen Gebrauch machen können und wenn die für eine Niederlassung erforderliche Dauerregistrierung stark erschwert werde“, sowie mit der Bestätigung, „dass in weiten Teilen der Russischen Föderation eine ‚ansiedlungsfeindliche Anwendung des neuen Registrierungsinstrumentariums’ in gesetzwidriger Weise stattfindet“ (Beschwerdebegründung S. 4 f.), gegen die Anforderungen an die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum Vorliegen einer inländischen Fluchtalternative verstoßen. Entgegen den Ausführungen des Bundesverfassungsgerichts in dessen Entscheidung vom 10. Juli 1989 - 2 BvR 502/86 u.a. - unter B I 5 a (= BVerfGE 80, 315 <343>), wonach zu berücksichtigen sei, dass auch der mehrgesichtige Staat immer ein und derselbe Staat sei und bei der Prüfung der Frage, ob jemand in verfolgungsfreie Landesteile ausweichen könne, dieser Umstand nicht außer Betracht bleiben dürfe, prüfe das Berufungsgericht die Voraussetzungen des Vorliegens einer inländischen Fluchtalternative für Tschetschenien auf dem übrigen Gebiet der Russischen Föderation, „ohne zu überprüfen, ob und inwieweit der russische Staat sich tatsächlich ‚als mehrgesichtiger Staat’ darstellt und ob der russische Staat, der Tschetschenen in Tschetschenien und in den umliegenden Regionen verfolgt, sie in den übrigen Landesteilen der Föderation in Ruhe lässt“ (Beschwerdebegründung S. 5). Damit und mit den weiteren Ausführungen hierzu wird eine Abweichungsrüge - die sich im Übrigen nur auf das Verfahren der Klägerin als möglicherweise gruppenverfolgte tschetschenische Volkszugehörige beziehen könnte - schon nicht ordnungsgemäß bezeichnet. Die Beschwerde zeigt nämlich keinen Rechtssatz in der Entscheidung des Berufungsgerichts auf, der sich in einen rechtsgrundsätzlichen Widerspruch zu den zitierten Ausführungen des Bundesverfassungsgerichts setzt.

6 Außerdem liegt der behauptete rechtliche Widerspruch auch ersichtlich nicht vor. Das Berufungsgericht hat vielmehr dargelegt, dass nach seiner tatrichterlichen Einschätzung tschetschenischen Volkszugehörigen außerhalb von ansiedlungsfeindlichen „Problemzonen“ und trotz teilweise rechtswidriger behördlicher Praktiken die Erlangung eines gesicherten Aufenthalts in anderen Regionen tatsächlich möglich sei (UA S. 20 ff.). Es ist nicht erkennbar, inwiefern das Oberverwaltungsgericht mit diesen Ausführungen von der zitierten Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts abweicht. In Wahrheit wendet sich die Beschwerde mit ihrem Vorbringen wohl auch mehr gegen die der Nachprüfung durch das Bundesverwaltungsgericht grundsätzlich entzogene Feststellung und Würdigung des entscheidungserheblichen Sachverhalts (vgl. § 137 Abs. 2 VwGO) zur Frage der Ansiedlungsmöglichkeit von tschetschenischen Volkszugehörigen in der Russischen Föderation außerhalb Tschetscheniens.

7 3. Die in diesem Zusammenhang (Beschwerdebegründung unter 2., S. 6) ferner erhobene Aufklärungsrüge (§ 132 Abs. 2 Nr. 3, § 86 Abs. 1 VwGO) dazu, dass das Berufungsgericht „Feststellungen zu der Frage, wieso der russische Staat einerseits in Tschetschenien und den umliegenden Regionen Tschetschenen verfolgt und sie andererseits in anderen Landesteilen unbehelligt lässt, unterlassen hat“, ist ebenfalls schon nicht ordnungsgemäß dargelegt. Auch diese Rüge könnte sich ferner nur auf das Verfahren der Klägerin als möglicherweise gruppenverfolgte tschetschenische Volkszugehörige beziehen. Es fehlen zum einen bereits Darlegungen dazu, inwiefern sich dem Berufungsgericht ausgehend von seiner tatrichterlichen Einschätzung und rechtlichen Bewertung die weitere Aufklärung des Sachverhalts in der angegebenen Richtung hätte aufdrängen müssen und anhand welcher von der Beschwerde im Einzelnen zu bezeichnenden Aufklärungsmaßnahmen sich welches Beweisergebnis zugunsten der Kläger ergeben hätte (vgl. etwa Beschluss vom 19. August 1997 - BVerwG 7 B 261.97 - Buchholz 310 § 133 <n.F.> VwGO Nr. 26 = NJW 1997, 3328). Zum anderen legt die Beschwerde auch nicht dar, inwiefern die von ihr vermissten weiteren Ermittlungen überhaupt zur Klärung des Anspruchs auf Anerkennung nach § 60 Abs. 1 AufenthG geboten gewesen sein sollen. Das ergibt sich insbesondere auch nicht aus der hierzu noch geäußerten Ansicht der Beschwerde, dass vom Bestehen einer inländischen Fluchtalternative tatsächlich nur ausgegangen werden könnte, wenn der russische Staat den Flüchtlingen einen legalen Aufenthaltsstatus gewähren würde.

8 4. Auch die weiter erhobenen Grundsatzrügen (§ 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) entsprechen nicht den Darlegungsanforderungen aus § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO. Insoweit hält die Beschwerde für grundsätzlich bedeutsam, „ob und inwieweit die wirtschaftlichen Zumutbarkeitskriterien für die Annahme einer inländischen Fluchtalternative gegeben sind, wenn die Existenzsicherung an den möglichen Ort der inländischen Fluchtalternative nur durch Betätigung im Bereich der sog. ‚Schattenwirtschaft’ möglich ist“ und, „ob für die Annahme einer inländischen Fluchtalternative ein rechtlich gesicherter Aufenthalt am Ort der möglichen Fluchtalternative gegeben sein muss oder ob hierfür ein faktischer Aufenthalt genügt“. Die Beschwerde meint hierzu, das Oberverwaltungsgericht gehe hiervon aus, dem könne aber nicht gefolgt werden. Damit lässt sich die rechtsgrundsätzliche Bedeutung der angesprochenen Fragen im Sinne von § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO nicht begründen. Auch mit ihren weiteren Ausführungen zeigt die Beschwerde eine klärungsfähige und klärungsbedürftige Frage, auf der die Entscheidung des Berufungsgerichts beruht, nicht auf.

9 Soweit sie sich auf die Frage eines rechtlich gesicherten Aufenthalts am Ort der inländischen Fluchtalternative beziehen, würde sie sich in dem angestrebten Revisionsverfahren auf der Grundlage der Feststellungen in dem angegriffenen Berufungsurteil nicht stellen. Das Oberverwaltungsgericht hat nämlich - entgegen der Unterstellung der Beschwerde - gerade angenommen, dass ein rechtlich gesicherter Aufenthalt unter Inanspruchnahme des verfassungsrechtlich garantierten Rechtes auf Freizügigkeit an vielen Orten in der Russischen Föderation erreicht werden kann (UA S. 19 ff.). Seine Entscheidung beruht also schon nicht auf den weiteren - mit der Grundsatzrüge in erster Linie angegriffenen - Erwägungen dazu, dass auch ein sonstiger Aufenthalt ohne „gesichertes Aufenthaltsrecht“ (Beschwerdebegründung S. 7) am Ort einer inländischen Fluchtalternative ausreichen könnte.

10 Auch soweit die Beschwerde nach den Möglichkeiten einer Existenzsicherung am Ort der inländischen Fluchtalternative durch Betätigung im Bereich der sog. Schattenwirtschaft fragt, wird eine fallübergreifend klärungsfähige und klärungsbedürftige Frage des revisiblen Rechts, die sich auf der Grundlage des Berufungsurteils stellt und daher in dem angestrebten Revisionsverfahren beantwortet werden könnte, nicht aufgezeigt. Das ergibt sich bereits daraus, dass das Berufungsgericht seine Annahme der Sicherung des wirtschaftlichen Existenzminimums für die Kläger am Ort einer inländischen Fluchtalternative in der Russischen Föderation sowohl unter generalisierenden Gesichtspunkten wie auch im Hinblick auf die Prognose im vorliegenden Einzelfall, „dass den Klägern im Rückkehrfall mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit an den alternativen Orten auf Dauer ein Leben unterhalb des Existenzminimums drohte, das zu Hunger, Verelendung und schließlich zum Tod führen könnte“, mit auf den vorliegenden Einzelfall bezogenen Erwägungen begründet hat (UA S. 25). Lediglich im Anschluss daran hat es ausgeführt, es komme entgegen der Auffassung der Kläger nicht darauf an, dass die mögliche Existenzsicherung unter Umständen - „wie das bei einer Vielzahl von Bürgern der Russischen Föderation der Fall ist“ - durch Betätigungen im Bereich der sog. Schattenwirtschaft bewerkstelligt werde. Es ist schon auszuschließen, dass das Oberverwaltungsgericht die Berufungsentscheidung tragend auf diese Bemerkung zur „Schattenwirtschaft“ gestützt hat. Außerdem ist nicht klar - und wird in der Beschwerde auch nicht (wie erforderlich) näher erläutert -, was unter Betätigung im Bereich der Schattenwirtschaft zu verstehen sein soll. Eine für die Voraussetzungen der inländischen Fluchtalternative maßstabsbildende Frage lässt sich hieran nicht anknüpfen.

11 Im Übrigen ist in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts - soweit in verallgemeinerungsfähiger Weise möglich - bereits geklärt, dass ein verfolgungssicherer Ort erwerbsfähigen Personen das wirtschaftliche Existenzminimum grundsätzlich immer dann bietet, wenn sie dort durch eigene, notfalls auch wenig attraktive und ihrer Vorbildung nicht entsprechende Arbeit, die grundsätzlich zumutbar ist, oder durch Zuwendungen von dritter Seite jedenfalls nach Überwindung von Anfangsschwierigkeiten das zu ihrem Lebensunterhalt unbedingt Notwendige erlangen können (vgl. Beschluss vom 9. Januar 1998 - BVerwG 9 B 1130.97 - <juris> m.w.N.). Zu den danach zumutbaren Arbeiten gehören auch Tätigkeiten, für die es keine Nachfrage auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt gibt, die nicht überkommenen Berufsbildern entsprechen, etwa weil sie keinerlei besondere Fähigkeiten erfordern, und die nur zeitweise, etwa zur Deckung eines kurzfristigen Bedarfs ausgeübt werden können, auch soweit diese Arbeiten als Tätigkeiten im Bereich einer „Schatten- oder Nischenwirtschaft“ bezeichnet werden. Ebenfalls bereits entschieden ist, dass der Verweis auf eine kriminelle Arbeit nicht zumutbar wäre, also eine Arbeit etwa im Sinne „mafiöser“ Erwerbstätigkeit, die für eine kriminelle Organisation geleistet wird und - wie bei Mitgliedern der Mafia - in der fortgesetzten Begehung von oder der Teilnahme an Verbrechen besteht (Beschluss vom 9. Januar 1998 a.a.O.; vgl. ferner zur Aufklärungspflicht in Bezug auf Prostitution den Beschluss vom 11. Februar 1999 - BVerwG 9 B 381.98 - DVBl 1999, 1206). Für eine erneute oder weiterreichende Klärungsbedürftigkeit lässt sich der Beschwerde auf der Grundlage der Feststellungen des angegriffenen Urteils nichts entnehmen.

12 Von einer weiteren Begründung wird abgesehen (§ 133 Abs. 5 Satz 2 Halbs. 2 VwGO).

13 Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO. Gerichtskosten werden gemäß § 83b AsylVfG nicht erhoben; der Gegenstandswert ergibt sich aus § 30 RVG.