Beschluss vom 03.03.2021 -
BVerwG 1 B 6.21ECLI:DE:BVerwG:2021:030321B1B6.21.0

  • Zitiervorschlag

    BVerwG, Beschluss vom 03.03.2021 - 1 B 6.21 - [ECLI:DE:BVerwG:2021:030321B1B6.21.0]

Beschluss

BVerwG 1 B 6.21

  • VG Köln - 11.01.2018 - AZ: VG 16 K 9105/16.A
  • OVG Münster - 19.11.2020 - AZ: OVG 14 A 627/18.A

In der Verwaltungsstreitsache hat der 1. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 3. März 2021
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Berlit, die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Fricke und
den Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Fleuß
beschlossen:

  1. Die Beschwerden der Kläger gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Urteil des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 19. November 2020 werden verworfen.
  2. Die Kläger tragen die Kosten des Beschwerdeverfahrens zu je einem Drittel.

Gründe

1 Die auf eine grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache (§ 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) gestützten Beschwerden haben keinen Erfolg, weil sie nicht den Darlegungsanforderungen des § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO genügen.

2 1. Grundsätzliche Bedeutung im Sinne von § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO kommt einer Rechtssache zu, wenn sie eine für die erstrebte Revisionsentscheidung entscheidungserhebliche Rechtsfrage des revisiblen Rechts aufwirft, die im Interesse der Einheit und der Fortbildung des Rechts revisionsgerichtlicher Klärung bedarf. Das Darlegungserfordernis des § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO setzt insoweit die Formulierung einer bestimmten, höchstrichterlich noch ungeklärten und für die Revisionsentscheidung erheblichen Rechtsfrage des revisiblen Rechts und außerdem die Angabe voraus, worin die allgemeine, über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung besteht. Die Beschwerde muss daher erläutern, dass und inwiefern die Revisionsentscheidung zur Klärung einer bisher revisionsgerichtlich nicht beantworteten fallübergreifenden Rechtsfrage des revisiblen Rechts führen kann (stRspr, vgl. BVerwG, Beschluss vom 19. August 1997 - 7 B 261.97 - Buchholz 310 § 133 <n.F.> VwGO Nr. 26 S. 14). Diesen Anforderungen genügt das Beschwerdevorbringen nicht.

3 2. Die Beschwerden bezeichnen die Frage als grundsätzlich bedeutsam,
"ob für die Konstellation des Wehrdienstentzuges im Bürgerkrieg im Rahmen des Art. 9 Abs. 2 Buchst. e in Verbindung mit Art. 9 Abs. 3 der Richtlinie 2011/95 eine Beweiserleichterung für den Flüchtenden in der Hinsicht besteht, dass in der Regel bei Sanktion eines Wehrdienstentzuges im Rahmen eines Bürgerkrieges von einem Politmalus auszugehen [ist], der nur mit begründete[m] Tatsachenmaterial entkräftet we[r]den kann".

4 2.1 Diese Frage betrifft die nach Art. 9 Abs. 3 RL 2011/95/EU erforderliche Verknüpfung zwischen Verfolgungsgrund und Verfolgungshandlung, setzt also eine nach Art. 9 Abs. 2 Buchst. e RL 2011/95/EU als Verfolgung geltende Handlung voraus. Damit bezieht sie sich auf einen Sachverhalt, den das Berufungsgericht nicht festgestellt hat. Denn dieses hat offengelassen, ob dem Kläger zu 1 in Syrien wegen Wehrdienstentzugs eine Verfolgungshandlung im Sinne des § 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG droht. Danach kann in Umsetzung des Art. 9 Abs. 2 Buchst. e RL 2011/95/EU eine Strafverfolgung oder Bestrafung wegen Verweigerung des Militärdienstes in einem Konflikt, wenn der Militärdienst Verbrechen oder Handlungen umfassen würde, die unter die Ausschlussklauseln des § 3 Abs. 2 AsylG (Art. 12 Abs. 2 RL 2011/95/EU) fallen, als Verfolgungshandlung gelten. Es ist lediglich davon ausgegangen, dass selbst wenn eine hinreichend unmittelbare Beteiligung an den inkriminierten Handlungen und eine Bestrafung wegen Wehrdienstverweigerung in Rede "stünde", § 3a Abs. 3 AsylG erfordere, dass dann die drohende Strafverfolgung oder Bestrafung mit einem Verfolgungsgrund nach § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG verknüpft sei. Eine derartige Verknüpfung hat es unter Bezugnahme auf die vor dem Ergehen des Urteils des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH) vom 19. November 2020 - C-238/19 [ECLI:​EU:​C:​2020:​945], EZ - ergangene Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts verneint (UA S. 13).

5 Sind Tatsachen, die vorliegen müssten, damit eine mit der Nichtzulassungsbeschwerde angesprochene Frage sich in einem Revisionsverfahren stellen könnte, von der Vorinstanz nicht festgestellt worden, kann die Revision im Hinblick auf diese Fragen nicht wegen grundsätzlicher Bedeutung zugelassen werden (stRspr, vgl. BVerwG, Beschluss vom 5. September 1996 - 9 B 387.96 - Buchholz 310 § 132 Abs. 2 Ziff. 1 VwGO Nr. 12 S. 18 <19 f.>). Dieser Einwand kann einer Beschwerde zwar dann nicht entgegengehalten werden, wenn die in der Vorinstanz ordnungsgemäß beantragte Sachverhaltsaufklärung nur deswegen unterblieben ist, weil das Tatsachengericht die als rechtsgrundsätzlich bedeutsam bezeichnete Frage anders als der Beschwerdeführer beantwortet und deswegen die Beweisaufnahme als nicht entscheidungserheblich abgelehnt hat. Denn in einem solchen Fall könnte der Beschwerdeführer auch nicht erfolgreich einen Verfahrensmangel wegen unterbliebener Sachverhaltsaufklärung geltend machen, weil es auch in diesem Zusammenhang allein auf die materielle Rechtsansicht des Tatsachengerichts ankommt, selbst wenn diese unzutreffend sein sollte. Ist dagegen die Aufklärung des Sachverhalts aus anderen Gründen als der materiellen Rechtsansicht des Tatsachengerichts unterblieben, ohne dass dies erfolgreich mit einer Verfahrensrüge angegriffen wird, verbleibt es wegen der Vorschrift des § 137 Abs. 2 VwGO bei dem dargelegten Grundsatz (BVerwG, Beschlüsse vom 17. März 2000 - 8 B 287.99 - BVerwGE 111, 61 <62> und vom 19. August 2013 - 9 BN 1.13 - Buchholz 401.68 Vergnügungssteuer Nr. 56 Rn. 7). So liegt der Fall hier. Die Kläger haben ausweislich der Sitzungsniederschrift zu der in der Grundsatzrüge für das Vorliegen einer Verfolgungshandlung vorausgesetzten Sachverhaltskonstellation im Berufungsverfahren keine Beweisanträge gestellt und mit der Beschwerde auch nicht dargelegt, warum sich dem Berufungsgericht insoweit eine weitere Sachverhaltsaufklärung auch ohne Beweisantrag hätte aufdrängen müssen. Damit fehlt es hinsichtlich des vom Berufungsgericht offengelassenen Vorliegens der Tatbestandsvoraussetzungen für eine Verfolgungshandlung an einer erfolgreichen Verfahrensrüge.

6 2.2 Soweit in einem nachgereichten Schriftsatz darauf hingewiesen wird, dass in der obergerichtlichen Rechtsprechung inzwischen unterschiedliche Schlussfolgerungen aus dem Urteil des EuGH vom 19. November 2020 gezogen würden, rechtfertigt das schon deshalb keine Zulassung, weil dieser Umstand erst nach Ablauf der Beschwerdebegründungsfrist geltend gemacht worden ist, und weist zudem nicht auf eine klärungsbedürftige Rechtsfrage grundsätzlicher Bedeutung.

7 2.3 Soweit die Beschwerde der Sache nach dahin zu verstehen wäre, das Berufungsgericht habe in seiner Entscheidung das am Tage von deren Ergehen veröffentlichte Urteil des Gerichtshofs der Europäischen Union vom 19. November 2020 - C-238/19 - nicht (hinreichend) berücksichtigt, legte dies einen Zulassungsgrund nicht dar. Eine Divergenzrüge wäre insoweit nicht in den Blick zu nehmen, weil der Gerichtshof der Europäischen Union nicht zu den in § 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO benannten Gerichten gehört und es selbst dann, wenn bis zu einer Umsetzungsentscheidung eines divergenzfähigen Gerichts von einer Regelungslücke auszugehen wäre (s.a. Berlit, in: GK-AsylG, II - § 78 Rn. 202.1 f., Stand Dezember 2015), jedenfalls an der hinreichenden Darlegung einander widersprechender abstrakter Rechtssätze fehlte. Angesichts der Bewertung des Erkenntnismaterials durch das Berufungsgericht dahin, dass es für eine Anknüpfung an eine dem Wehrdienstentzieher unterstellte regimefeindliche Gesinnung keinerlei tatsächliche Anhaltspunkte gäbe (UA S. 11), wäre auch insoweit weder die Entscheidungserheblichkeit der benannten Rechtsfrage noch hinreichend dargelegt, welcher weitergehende Klärungsbedarf mit Blick auf das Urteil des Gerichtshofs der Europäischen Union vom 19. November 2020 - C-238/19 - noch bestehe; eine durch eine "starke Vermutung" begründete Beweiserleichterung führte jedenfalls nicht zu einer von der tatsächlichen Verfolgungslage und den hierzu heranzuziehenden Erkenntnismitteln unabhängigen, unwiderleglichen Verknüpfung von zu unterstellender Verfolgungshandlung und Verfolgungsgrund (§ 3a Abs. 3 AsylG). Eine im Ergebnis - möglicherweise - fehlerhafte Anwendung rechtsgrundsätzlich nicht (weiter) klärungsbedürftiger Rechtssätze im Einzelfall bewirkte ebenfalls nicht die Zulassung der Revision.

8 3. Der Senat sieht von einer weiteren Begründung ab (§ 133 Abs. 5 Satz 2 Halbs. 2 VwGO).

9 4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2, § 159 Satz 1 VwGO i.V.m. § 100 Abs. 1 ZPO. Gerichtskosten werden gemäß § 83b AsylG nicht erhoben; der Gegenstandswert ergibt sich aus § 30 Abs. 1 RVG.