Beschluss vom 21.02.2023 -
BVerwG 1 B 76.22ECLI:DE:BVerwG:2023:210223B1B76.22.0

  • Zitiervorschlag

    BVerwG, Beschluss vom 21.02.2023 - 1 B 76.22 - [ECLI:DE:BVerwG:2023:210223B1B76.22.0]

Beschluss

BVerwG 1 B 76.22

  • VG Berlin - 26.03.2019 - AZ: 13 K 155.18
  • OVG Berlin-Brandenburg - 02.09.2022 - AZ: 2 B 10/20

In der Verwaltungsstreitsache hat der 1. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 21. Februar 2023
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Keller
und die Richter am Bundesverwaltungsgericht Dollinger und Böhmann
beschlossen:

  1. Die Beschwerde des Beklagten gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des Oberverwaltungsgerichts Berlin-Brandenburg vom 2. September 2022 wird zurückgewiesen.
  2. Der Beklagte trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
  3. Der Streitwert wird für das Beschwerdeverfahren auf 5 000 € festgesetzt.

Gründe

1 Die Beschwerde des Beklagten gegen die Nichtzulassung der Revision durch das Oberverwaltungsgericht ist zulässig (I.), jedoch unbegründet (II.).

2 I. Die Beschwerde ist zulässig. Sie wurde insbesondere innerhalb der Frist des § 133 Abs. 3 Satz 1 VwGO von zwei Monaten nach der Zustellung des vollständigen Urteils begründet.

3 Das angefochtene Urteil ist dem Beklagten am 5. Oktober 2022 (elektronisch) zugestellt worden. Die Beschwerdebegründungsfrist des § 133 Abs. 3 Satz 1 VwGO endete damit am 5. Dezember 2022. Der Beklagte hat die Beschwerde mit einem Schriftsatz begründet, der am Tag des Fristablaufs um 18:47 Uhr entsprechend den Vorgaben des § 55d Satz 1 VwGO als elektronisches Dokument an das Oberverwaltungsgericht übermittelt worden ist. Damit bedarf keiner Entscheidung, ob auch die Übermittlung des Begründungsschriftsatzes in Papierform am 5. Dezember 2022 durch Einwurf in den Fristenbriefkasten des Oberverwaltungsgerichts nach § 55d Satz 3 und 4 VwGO zulässig und fristwahrend war.

4 II. Die Beschwerde ist jedoch nicht begründet. Der von ihr geltend gemachte Zulassungsgrund der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache (§ 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) liegt nicht vor.

5 1. Grundsätzliche Bedeutung im Sinne von § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO kommt einer Rechtssache zu, wenn sie eine für die erstrebte Revisionsentscheidung entscheidungserhebliche Rechtsfrage des revisiblen Rechts aufwirft, die im Interesse der Einheit und der Fortbildung des Rechts revisionsgerichtlicher Klärung bedarf. Das Darlegungserfordernis des § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO setzt insoweit die Formulierung einer bestimmten, höchstrichterlich noch ungeklärten und für die Revisionsentscheidung erheblichen Rechtsfrage des revisiblen Rechts und außerdem die Angabe voraus, worin die allgemeine, über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung besteht. Die Beschwerde muss daher erläutern, dass und inwiefern die Revisionsentscheidung zur Klärung einer bisher revisionsgerichtlich nicht beantworteten fallübergreifenden Rechtsfrage des revisiblen Rechts führen kann (stRspr, vgl. BVerwG, Beschluss vom 19. August 1997 - 7 B 261.97 - Buchholz 310 § 133 <n. F.> VwGO Nr. 26 S. 14). Die Begründungspflicht verlangt, dass sich die Beschwerde mit den Erwägungen des angefochtenen Urteils, auf die sich die aufgeworfene Frage von angeblich grundsätzlicher Bedeutung bezieht, substantiiert auseinandersetzt und im Einzelnen aufzeigt, aus welchen Gründen der Rechtsauffassung, die der Frage zugrunde liegt, zu folgen ist (vgl. BVerwG, Beschlüsse vom 8. Juni 2006 - 6 B 22.06 - NVwZ 2006, 1073 Rn. 4 f. und vom 10. August 2015 - 5 B 48.15 - juris Rn. 3 m. w. N.).

6 2. Die Frage,
ob bzw. inwiefern eine materiell-rechtliche Anlehnung bzw. Kongruenz hinsichtlich erneuter Straftaten in Bezug auf die der Ausweisung zugrundeliegenden Straftaten im Rahmen der Gefahrenprognose i. S. des § 53 Abs. 1 AufenthG unbedingt gegeben sein muss,
rechtfertigt nicht die Zulassung der Revision, weil sie sich in dem angestrebten Revisionsverfahren nicht stellen würde.

7 Dem Berufungsurteil liegt entgegen der Auffassung des Beklagten nicht die Annahme zugrunde, eine Wiederholungsgefahr als Voraussetzung einer spezialpräventiv begründeten Ausweisung setze in jedem Fall die Möglichkeit der Begehung vergleichbarer Straftaten voraus. Vielmehr hat das Oberverwaltungsgericht ausdrücklich darauf hingewiesen, dass bei der anzustellenden Prognose nicht allein auf das Strafurteil und die ihm zugrunde liegende Straftat abzustellen sei, sondern die Gesamtpersönlichkeit des Täters und seine Entwicklung und Lebensumstände bis zum maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts einbezogen werden müssten (UA S. 9). Zu den danach zu berücksichtigenden Gesichtspunkten gehört auch die Gefahr der Begehung von anderweitigen, nicht mit dem begangenen Delikt vergleichbaren Straftaten. Auf dieser Grundlage hat das Oberverwaltungsgericht eine Wiederholungsgefahr nicht allein im Hinblick auf Vermögensdelikte oder vergleichbare Straftaten verneint. So stützt das Oberverwaltungsgericht seine Entscheidung auf den Umstand, dass der Kläger seit seiner Haftentlassung straffrei geblieben sei, ohne diese Erwägung auf eine bestimmte Art von Straftaten zu beschränken (UA S. 10). Weiter führt das Oberverwaltungsgericht aus, die Begehung von Körperverletzungsdelikten durch den Kläger sei nicht zu erwarten (UA S. 9). Das Oberverwaltungsgericht befasst sich außerdem mit einem gegen den Kläger geführten und eingestellten Ermittlungsverfahren wegen des Besitzes von Betäubungsmitteln und verweist insoweit darauf, dass ein solches Verfahren sich nicht wiederholt habe und eine Suchtproblematik beim Kläger nicht zutage getreten sei. Das Verhalten offenbare keine fortbestehende grundlegend fehlerhafte Einstellung zur Rechtsordnung, die zu weiteren Straftaten führen könne (UA S. 11). Mit diesen Erwägungen setzt sich die Beschwerde nicht in einer den Anforderungen des § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO entsprechenden Weise auseinander.

8 3. Die von der Beschwerde weiter aufgeworfene Frage,
welche rechtlichen Anforderungen an die Zumutbarkeit einer - im Falle einer Ausweisung des Klägers - vorübergehenden (voraussichtlich einjährigen) familiären Trennungszeit mit Blick auf das Kindeswohl eines 15-jährigen Heranwachsenden zu stellen sind,
ist ersichtlich auf die Umstände des vorliegenden Einzelfalls zugeschnitten und rechtfertigt schon aus diesem Grunde nicht die Zulassung der Grundsatzrevision.

9 Im Übrigen ist geklärt, dass bei aufenthaltsrechtlichen Entscheidungen, die den Umgang mit einem Kind berühren, maßgeblich auch auf die Sicht des Kindes abzustellen und im Einzelfall zu untersuchen ist, ob tatsächlich eine persönliche Verbundenheit besteht, auf deren Aufrechterhaltung das Kind zu seinem Wohl angewiesen ist. Dabei sind die Belange des Elternteils und des Kindes umfassend zu berücksichtigen. Dementsprechend ist im Einzelfall zu würdigen, in welcher Form die Elternverantwortung ausgeübt wird und welche Folgen eine endgültige oder vorübergehende Trennung für die gelebte Eltern-Kind-Beziehung und das Kindeswohl hätte. In diesem Zusammenhang ist davon auszugehen, dass der persönliche Kontakt des Kindes zu seinen Eltern und der damit verbundene Aufbau und die Kontinuität emotionaler Bindungen zu Vater und Mutter in der Regel der Persönlichkeitsentwicklung des Kindes dienen. Eine auch nur vorübergehende Trennung kann nicht als zumutbar angesehen werden, wenn das Gericht keine Vorstellung davon entwickelt, welchen Trennungszeitraum es für zumutbar erachtet (vgl. BVerfG, Kammerbeschlüsse vom 23. Januar 2006 - 2 BvR 1935/05 - NVwZ 2006, 682 <683> und vom 9. Dezember 2021 - 2 BvR 1333/21 - NVwZ 2022, 406 <409>). Die Beschwerde zeigt nicht auf, dass insoweit erneuter oder weiterer Klärungsbedarf bestünde.

10 4. Schließlich führt die weitere Frage,
ob es der Grundsatz der [sc. Einheit der] Rechtsordnung gebietet, in den Fällen, in denen sich ein Ausländer während laufender Bewährung rechtstreu verhält, auch von einem Wegfall der ausweisungsrechtlichen Wiederholungsgefahr auszugehen,
ebenfalls nicht zur Zulassung der Revision. Das Oberverwaltungsgericht hat im Hinblick auf die Straffreiheit des Klägers während der Bewährungszeit angenommen, es sei - abgesehen von hier nicht gegebenen Ausnahmefällen - mit dem Grundsatz der Einheit der Rechtsordnung nicht zu vereinbaren, wenn ein solches rechtstreues, im Strafvollzug erwartetes und während laufender Bewährung gefordertes Verhalten ausländerrechtlich gegen den Betroffenen gewertet werde. Soweit sich die von dem Beklagten aufgeworfene Frage hierauf bezieht, legt er keinen Klärungsbedarf im Sinne des § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO dar.

11 Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts haben Ausländerbehörden und Verwaltungsgerichte bei spezialpräventiven Ausweisungsentscheidungen und deren gerichtlicher Überprüfung eine eigenständige Prognose zur Wiederholungsgefahr zu treffen. Dabei sind sie an die Feststellungen und Beurteilungen der Strafgerichte rechtlich nicht gebunden. Entscheidungen der Strafgerichte nach § 57 StGB sind zwar von tatsächlichem Gewicht und stellen bei der ausländerrechtlichen Prognose ein wesentliches Indiz dar. Von ihnen geht aber keine Bindungswirkung aus, zumal die vorzeitige Haftentlassung auf der Grundlage des § 57 StGB und die Ausweisung unterschiedliche Zwecke verfolgen und deshalb unterschiedlichen Regeln unterliegen (BVerwG, Urteil vom 15. Januar 2013 - 1 C 10.12 - Buchholz 402.242 § 55 AufenthG Nr. 16 Rn. 18 f.). Ausländerbehörden und Gerichte haben auch sonstige, den Strafgerichten möglicherweise nicht bekannte oder von ihnen nicht beachtete Umstände des Einzelfalles heranzuziehen. Sie können deshalb sowohl aufgrund einer anderen Tatsachengrundlage als auch aufgrund einer anderen Würdigung zu einer abweichenden Prognoseentscheidung gelangen (vgl. BVerwG, Urteil vom 13. Dezember 2012 - 1 C 20.11 - Buchholz 402.242 § 55 AuslG Nr. 15 Rn. 23). Nicht zulässig ist es dabei, eine positive Entwicklung des Verurteilten ohne aussagekräftige Indizien darauf zurückzuführen, der Ausländer habe sich erst unter dem Druck des Ausweisungsverfahrens zu einem rechtstreuen Verhalten entschlossen. Es ist mit dem Grundsatz der Einheit der Rechtsordnung nicht zu vereinbaren, wenn ein solches im Strafvollzug erwartetes und während laufender Bewährung gefordertes Verhalten ausländerrechtlich gegen den Betroffenen gewertet wird; etwas Anderes kann nur dann gelten, wenn offensichtlich ist, dass die Bemühungen des Ausländers ausschließlich dem Ausweisungsverfahren geschuldet sind (BVerfG, Kammerbeschluss vom 19. Oktober 2016 - 2 BvR 1943/16 - NVwZ 2017, 229 Rn. 22).

12 Einen über diese Grundsätze hinausgehenden Klärungsbedarf zeigt die Beschwerde nicht auf. Der Beklagte ist der Auffassung, die wiedergegebene und dem Berufungsurteil zugrundeliegende Bewertung straffreien Verhaltens während laufender Bewährung führe zu einer empfindlichen Störung des Strafvollstreckungssystems und möglicherweise zu einer unterschiedlichen Handhabung der Strafaussetzung zur Bewährung bei deutschen und ausländischen Staatsangehörigen. Diesem Vorbringen, das auf die tatsächlichen Auswirkungen des vom Bundesverfassungsgericht aufgestellten Grundsatzes abzielt, lässt sich das Erfordernis einer weiteren rechtlichen Klärung nicht entnehmen. Letzteres gilt auch, soweit die Beschwerde auf den Regelungsgehalt des § 57 Abs. 1 Nr. 2 StGB verweist. Insoweit setzt sich der Beklagte nicht in einer den Anforderungen des § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO entsprechenden Weise mit den unterschiedlichen Zwecken einer Aussetzungsentscheidung nach § 57 Abs. 1 StGB einerseits und der Ausweisung andererseits auseinander. Bei der Aussetzungsentscheidung geht es um die Frage, ob die Wiedereingliederung eines in Haft befindlichen Straftäters weiter im Vollzug stattfinden muss oder durch vorzeitige Entlassung für die Dauer der Bewährungszeit (gegebenenfalls unter Auflagen) "offen" inmitten der Gesellschaft verantwortet werden kann. Hierbei stehen naturgemäß vor allem Resozialisierungsgesichtspunkte im Vordergrund; zu ermitteln ist, ob der Täter das Potenzial hat, sich während der Bewährungszeit straffrei zu führen. Demgegenüber geht es im ausländerrechtlichen Ausweisungsverfahren um die Frage, ob das Risiko eines Misslingens der Resozialisierung von der deutschen Gesellschaft oder von der Gesellschaft im Heimatstaat des Ausländers getragen werden muss. Die der Ausweisung zugrunde liegende Prognoseentscheidung bezieht sich folglich nicht nur auf die Dauer der Bewährungszeit, sondern hat einen längeren Zeithorizont in den Blick zu nehmen. Denn es geht hier um die Beurteilung, ob es dem Ausländer gelingen wird, über die Bewährungszeit hinaus ein straffreies Leben zu führen (vgl. BVerwG, Urteil vom 15. Januar 2013 - 1 C 10.12 - Buchholz 402.242 § 55 AufenthG Nr. 16 Rn. 19).

13 5. Sollte der Schriftsatz der Beklagten vom 6. Februar 2023 auch als Geltendmachung einer (verdeckten) Abweichung des Berufungsurteils von dem Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 19. Oktober 2016 - 2 BvR 1943/16 - im Sinne des § 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO zu verstehen sein, ist diese Rüge nicht innerhalb der Beschwerdebegründungsfrist erhoben worden. Zudem liegt eine solche Divergenz nicht vor, da das Oberverwaltungsgericht den genannten Beschluss ausdrücklich berücksichtigt hat und die von dem Beklagten allein beanstandete - vermeintliche - fehlerhafte Anwendung von Rechtssätzen, die das Bundesverfassungsgericht aufgestellt hat, keine Abweichung nach § 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO darstellt.

14 III. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO. Die Festsetzung des Streitwerts ergibt sich aus § 47 Abs. 1 und 3, § 52 Abs. 2 GKG.