Beschluss vom 22.04.2022 -
BVerwG 8 B 55.21ECLI:DE:BVerwG:2022:220422B8B55.21.0

  • Zitiervorschlag

    BVerwG, Beschluss vom 22.04.2022 - 8 B 55.21 - [ECLI:DE:BVerwG:2022:220422B8B55.21.0]

Beschluss

BVerwG 8 B 55.21

  • VG Frankfurt (Oder) - 10.08.2021 - AZ: 2 K 1264/19

In der Verwaltungsstreitsache hat der 8. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 22. April 2022
durch
die Vorsitzende Richterin am Bundesverwaltungsgericht Dr. Held-Daab,
die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Dr. Rublack und
den Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Seegmüller
beschlossen:

  1. Die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Urteil des Verwaltungsgerichts Frankfurt (Oder) vom 10. August 2021 wird zurückgewiesen.
  2. Der Kläger trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
  3. Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwerdeverfahren auf 5 000 € festgesetzt.

Gründe

1 Der Kläger begehrt seine verwaltungsrechtliche Rehabilitierung. Mit seinem Antrag machte er geltend, im Rahmen eines Anwerbeversuchs des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR durch Verfolgungs- und Zersetzungsmaßnahmen zwischen 1986 und 1989 gesundheitliche Schäden erlitten zu haben. Der Beklagte lehnte den Antrag ab. Das Verwaltungsgericht hat die Klage abgewiesen und die Revision gegen sein Urteil nicht zugelassen.

2 Die hiergegen gerichtete, auf sämtliche Zulassungsgründe des § 132 Abs. 2 VwGO gestützte Beschwerde hat keinen Erfolg.

3 1. Die Revision ist nicht wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache (§ 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) zuzulassen. Dies würde voraussetzen, dass die Rechtssache eine Frage des revisiblen Rechts aufwirft, die der - gegebenenfalls erneuten oder weitergehenden - höchstrichterlichen Klärung bedarf, sofern diese Klärung in dem angestrebten Revisionsverfahren zu erwarten steht und dies zu einer Fortentwicklung der Rechtsprechung über den Einzelfall hinaus führen wird. Der Rechtsmittelführer hat darzulegen, dass diese Voraussetzungen vorliegen (§ 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO). Dem wird die Beschwerde nicht gerecht.

4 Die vom Kläger sinngemäß aufgeworfene Frage,
ob der Anwerbeversuch als inoffizieller Mitarbeiter eine Maßnahme der Willkür im Einzelfall darstellt, wenn die Gewinnung der Mitarbeit durch Maßnahmen des Ministeriums für Staatssicherheit wie List, Zwang, Erpressung und Rufschädigung zustande kommt und diese geeignet sind, die Gesundheit des Betroffenen zu schädigen,
wäre im angestrebten Revisionsverfahren nicht klärungsfähig, weil das Verwaltungsgericht solche Maßnahmen hier nicht festgestellt hat. Nach seinen nicht mit durchgreifenden Verfahrensrügen angegriffenen Tatsachenfeststellungen (dazu unten 2.) war der Kläger Überwachungsmaßnahmen ausgesetzt, die eine Anwerbung vorbereiten sollten; von diesem Vorhaben nahm das Ministerium für Staatssicherheit jedoch nach einem - auch gegenüber dem Kläger - verdeckten Kontaktgespräch Abstand.

5 Die weiter aufgeworfene Frage,
ob eine durch operative staatliche Maßnahmen dem Betroffenen verschwiegene versuchte Gewinnung zur Mitarbeit als inoffizieller Mitarbeiter grob rechtsstaatswidriges Verwaltungshandeln im Sinne von § 1 VwRehaG darstellen kann, oder ob sie stets ein generell dem DDR-Unrechtsstaat anhaftendes willkürliches Verwaltungshandeln darstellt,
kann ohne Durchführung des angestrebten Revisionsverfahrens in ihrem ersten Teil bejaht und in ihrem zweiten Teil verneint werden. Ob ein verdeckter Anwerbeversuch als grob rechtsstaatswidrig anzusehen ist, hängt von den im jeweiligen Einzelfall angewendeten Mitteln einer solchen versuchten Gewinnung ab. Deren Bewertung entzieht sich einer fallübergreifenden Verallgemeinerung und deshalb der rechtsgrundsätzlichen Klärung.

6 2. Die Revision ist nicht wegen der in der Beschwerdebegründung gerügten Verfahrensmängel (§ 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO) zuzulassen.

7 a) Die vom Kläger geltend gemachte Verletzung seines Rechts auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG, § 108 Abs. 2 VwGO) ist nicht prozessordnungsgemäß bezeichnet (§ 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO).

8 Im gerichtlichen Verfahren verpflichten Art. 103 Abs. 1 GG und § 108 Abs. 2 VwGO das Gericht, nach seiner Rechtsauffassung rechtlich erhebliches Vorbringen der Beteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen. Eine Verletzung dieser Pflicht ist allerdings nicht schon anzunehmen, wenn eine Entscheidung nicht auf jedes Element des Vortrags eingeht, sondern erst, wenn sich im Einzelfall aus besonderen Umständen ergibt, dass nach der materiell-rechtlichen Rechtsauffassung des Gerichts entscheidungserhebliches Vorbringen übergangen wurde. Davon ist auszugehen, wenn das Gericht auf den wesentlichen Kern des Beteiligtenvorbringens zu einer Frage, die nach seiner eigenen Rechtsauffassung für den Prozessausgang von zentraler Bedeutung ist, in den Entscheidungsgründen nicht eingeht (stRspr, vgl. BVerfG, Urteil vom 8. Juli 1997 - 1 BvR 1621/94 - BVerfGE 96, 205 <216 f.>; BVerwG, Urteil vom 31. Juli 2002 - 8 C 37.01 - Buchholz 428 § 1 Abs. 3 VermG Nr. 35 S. 109 je m.w.N.).

9 Solches legt der Kläger nicht dar. Das Verwaltungsgericht hat sein Vorbringen, das Ministerium für Staatssicherheit sei gegen ihn mit Mitteln der Bespitzelung, der Rufschädigung und der Erpressung vorgegangen, nicht übergangen. Eine Bespitzelung hat es selbst festgestellt; den Vortrag der Rufschädigung führt es im Tatbestand seines Urteils auf, ohne jedoch entsprechende Maßnahmen oder die weiter geltend gemachte Erpressung festzustellen. Das Verwaltungsgericht war nach Art. 103 Abs. 1 GG und § 108 Abs. 2 VwGO nicht gehalten, in seinen Urteilsgründen näher auf diesen Vortrag einzugehen, weil es sich damit in seinem die Gewährung von Prozesskostenhilfe ablehnenden Beschluss bereits eingehend auseinandergesetzt und der Kläger hierzu keine neuen Argumente vorgebracht hatte.

10 Das Verwaltungsgericht hat auch den Vortrag des Klägers, zur Anwerbung hätten sein Ruf geschädigt und ihm die Bereitschaft zu kriminellen Handlungen unterstellt werden sollen, nicht bewusst ausgeblendet. Vielmehr ist es selbst von einem solchen, nach dem verdeckten Kontaktgespräch jedoch aufgegebenen Vorhaben des Ministeriums für Staatssicherheit ausgegangen.

11 b) Eine Verletzung des Amtsaufklärungsgrundsatzes (§ 86 Abs. 1 VwGO) ist nicht dargetan. Wird sie geltend gemacht, muss der Rechtsmittelführer substantiiert darlegen, hinsichtlich welcher tatsächlichen Umstände Aufklärungsbedarf bestanden hat, welche für geeignet und erforderlich gehaltenen Aufklärungsmaßnahmen hierfür in Betracht gekommen wären, welche tatsächlichen Feststellungen bei der Durchführung der vermissten Sachverhaltsaufklärung voraussichtlich getroffen worden wären und inwiefern das unterstellte Ergebnis zu einer ihm günstigeren Entscheidung hätte führen können. Weiterhin muss er aufzeigen, dass er im Verfahren vor dem Tatsachengericht, insbesondere in der mündlichen Verhandlung, auf die Vornahme der Sachverhaltsaufklärung, deren Unterbleiben er nunmehr beanstandet, hingewirkt hat oder dass sich dem Gericht die bezeichneten Ermittlungen auch ohne ein solches Hinwirken von sich aus hätten aufdrängen müssen (stRspr, vgl. BVerwG, Urteil vom 17. Oktober 2019 - 4 CN 8.18 - BVerwGE 166, 378 Rn. 29). Dies leistet die Beschwerde nicht.

12 Der Kläger hat vor dem Verwaltungsgericht nicht auf die von ihm vermisste Aufklärung der negativen Folgen der gegen ihn gerichteten Maßnahmen hingewirkt. Sie musste sich dem Gericht auch nicht aufdrängen, weil nach seiner Rechtsauffassung bereits kein rechtsstaatswidriger Willkürakt vorlag, sodass es aus seiner Sicht auf etwaige unmittelbar schwer und unzumutbar fortwirkende Folgen der Maßnahmen (§ 1 Abs. 1 Satz 1 VwRehaG) nicht ankam.

13 c) Das Urteil leidet nicht an dem vom Kläger gerügten Verstoß gegen die gerichtliche Begründungspflicht aus § 108 Abs. 1 Satz 2 VwGO. Die Begründungspflicht ist verletzt, wenn die Entscheidungsgründe rational nicht nachvollziehbar, sachlich inhaltslos oder sonst wie unbrauchbar sind (vgl. BVerwG, Beschluss vom 3. Februar 2017 - 9 B 15.16 - juris Rn. 5). Das trifft auf die vom Kläger beanstandete Erwägung des Verwaltungsgerichts, die festgestellten Maßnahmen hätten nicht der politischen Diskriminierung gedient, nicht zu. Sie wird in den Urteilsgründen damit erläutert, die politische Meinung des Klägers habe für das Vorhaben des Ministeriums für Staatssicherheit, ihn als inoffiziellen Mitarbeiter zu werben, keine Rolle gespielt.

14 d) Das Beschwerdevorbringen legt nicht dar, dass das angegriffene Urteil den Überzeugungsgrundsatz (§ 108 Abs. 1 VwGO) verletzt.

15 Nach § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO hat das Gericht seiner Überzeugungsbildung das Gesamtergebnis des Verfahrens zugrunde zu legen. Es darf nicht einzelne erhebliche Tatsachen oder Beweisergebnisse aus seiner Würdigung ausblenden. Im Übrigen darf es zur Überzeugungsbildung die ihm vorliegenden Tatsachen und Beweise frei würdigen. Die Einhaltung der verfahrensrechtlichen Grenzen zulässiger Sachverhalts- und Beweiswürdigung ist deshalb nicht schon dann in Frage gestellt, wenn ein Beteiligter das vorliegende Tatsachenmaterial anders würdigt oder aus ihm andere Schlüsse ziehen will als das Gericht. Diese Grenzen sind erst dann überschritten, wenn das Gericht nach seiner Rechtsauffassung entscheidungserheblichen Akteninhalt übergeht oder aktenwidrige Tatsachen annimmt, oder wenn die von ihm gezogenen tatsächlichen Schlussfolgerungen gegen die Denkgesetze verstoßen. Die Beweiswürdigung des Tatsachengerichts darf vom Revisionsgericht nicht daraufhin überprüft werden, ob sie überzeugend ist, ob festgestellte Einzelumstände mit dem ihnen zukommenden Gewicht in die abschließende Würdigung des Sachverhalts eingegangen sind und ob solche Einzelumstände ausreichen, die Würdigung zu tragen. Solche Fehler sind revisionsrechtlich regelmäßig dem materiellen Recht zuzuordnen und können einen Verfahrensmangel deshalb grundsätzlich nicht begründen (vgl. BVerwG, Beschluss vom 7. Februar 2017 - 6 B 31.16 - juris Rn. 10 m.w.N.). Nach diesem Maßstab lässt sich dem Vortrag des Klägers keine Verletzung des Überzeugungsgrundsatzes entnehmen.

16 Soweit der Kläger die Bewertung der Vorinstanz angreift, die Kette einheitlich motivierter Maßnahmen des Ministeriums für Staatssicherheit sei nicht willkürlich im Sinne von § 1 VwRehaG gewesen, zeigt er keine logisch unmöglichen oder sonst denkfehlerhaften Tatsachenfeststellungen auf, sondern kritisiert die dem materiellen Recht zuzuordnende Beweiswürdigung des Verwaltungsgerichts. Soweit er beanstandet, das Verwaltungsgericht habe dabei einen zu strengen rechtlichen Maßstab angelegt, rügt er keinen Verfahrensverstoß, sondern sinngemäß eine Divergenz (dazu unten 3.).

17 Das Vorbringen, das Verwaltungsgericht hätte den Versuch einer Rekrutierung des Klägers über Rufschädigungen und die Unterstellung der Bereitschaft zu kriminellen Handlungen denknotwendig als vorsätzliche Benachteiligung des Klägers ansehen müssen, rügt ebenfalls die materiell-rechtliche Würdigung und geht von Tatsachenfeststellungen aus, die das Verwaltungsgericht nicht getroffen hat. Es hat weder eine Rufschädigung des Klägers festgestellt, noch, dass diesem die Bereitschaft zu kriminellen Handlungen unterstellt worden wäre. Stattdessen hat es angenommen, die ursprüngliche Absicht des Ministeriums für Staatssicherheit, solche Maßnahmen zur Anwerbung einzusetzen, sei nicht verwirklicht worden, weil das Vorhaben bereits nach einem ersten verdeckten, nicht als Anwerbeversuch erkennbaren Kontaktgespräch aufgegeben worden sei. Diese Annahme hat der Kläger nicht mit wirksamen Verfahrensrügen angegriffen. Schließlich hat das Verwaltungsgericht auch keine denkfehlerhaften Feststellungen zu den nach seiner materiell-rechtlichen Auffassung nicht entscheidungserheblichen Folgen für den Kläger getroffen.

18 3. Die sinngemäß gerügte Divergenz (§ 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO) führt ebenfalls nicht zur Zulassung der Revision. Allerdings widerspricht der entscheidungstragende Rechtssatz des angegriffenen Urteils, ein willkürlicher Eingriff im Sinne des § 1 VwRehaG könne erst bei krassesten und eklatantesten Verstößen gegen das Rechtsstaatsprinzip vorliegen, dem entscheidungstragenden Rechtssatz im Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 24. Juli 2019 - 8 C 1.19 - (BVerwGE 166, 200 Rn. 16 und 18), wonach es genügt, dass die Maßnahme in schwerwiegender Weise gegen die in § 1 Abs. 2 VwRehaG genannten rechtsstaatlichen Grundsätze verstößt und entweder der politischen Verfolgung gedient hat oder als Willkür im Einzelfall einzuordnen ist, weil sie von der Tendenz und Absicht getragen war, den Adressaten bewusst zu benachteiligen (dazu vgl. auch BVerwG, Beschluss vom 25. Juli 2000 - 3 B 7.00 - Buchholz 115 Sonst. Wiedervereinigungsrecht Nr. 32).

19 Ist die vorinstanzliche Entscheidung jedoch - wie hier - auf mehrere selbstständig tragende Begründungen gestützt, kann die Revision nur zugelassen werden, wenn hinsichtlich jeder dieser Begründungen ein Revisionszulassungsgrund aufgezeigt wird und vorliegt (stRspr, vgl. etwa BVerwG, Beschluss vom 26. Januar 2022 - 4 BN 41.21 - juris Rn. 6 m.w.N.). Das ist hier hinsichtlich der Erwägung des Verwaltungsgerichts, die von ihm festgestellten Maßnahmen stellten keine Willkür im Einzelfall dar, weil sie wegen einer systembedingten generellen Willkürlichkeit von Anwerbeversuchen und diese vorbereitenden Maßnahmen keine Tendenz und Absicht zur bewussten Benachteiligung des Klägers erkennen ließen (UA S. 12), nicht der Fall.

20 Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO. Die Festsetzung des Streitwerts beruht auf § 47 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 3 und § 52 Abs. 2 GKG.