Beschluss vom 22.06.2023 -
BVerwG 4 VR 4.23ECLI:DE:BVerwG:2023:220623B4VR4.23.0

Leitsatz:

Die erstinstanzliche Zuständigkeit des Bundesverwaltungsgerichts aus § 6 Satz 1 und 2 Nr. 1 BBPlG erfasst nicht nur die eigentlichen Planfeststellungsentscheidungen, sondern erstreckt sich auch auf vorzeitige Besitzeinweisungen (wie BVerwG, Beschluss vom 10. Februar 2023 - 7 VR 1.23 - zu § 12 Satz 1 und 2 Nr. 1 LNGG).

  • Rechtsquellen
    VwGO § 48 Abs. 1 Satz 3, § 50 Abs. 1 Nr. 6
    BBPlG § 6 Satz 1 und 2 Nr. 1
    EnWG § 43e Abs. 4 Satz 2, §§ 44b, 44c
    LNGG § 12 Satz 1 und 2 Nr. 1

  • Zitiervorschlag

    BVerwG, Beschluss vom 22.06.2023 - 4 VR 4.23 - [ECLI:DE:BVerwG:2023:220623B4VR4.23.0]

Beschluss

BVerwG 4 VR 4.23

In der Verwaltungsstreitsache hat der 4. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 22. Juni 2023
durch die Vorsitzende Richterin am Bundesverwaltungsgericht Schipper und die Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Decker und Dr. Hammer
beschlossen:

  1. Der Antrag wird abgelehnt.
  2. Der Antragsteller trägt die Kosten des Verfahrens einschließlich der außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen.
  3. Der Wert des Streitgegenstandes wird auf 3 000 € festgesetzt.

Gründe

I

1 Der Antragsteller wendet sich gegen eine vorzeitige Besitzeinweisung, die der Beigeladenen für den Bau einer Höchstspannungsfreileitung erteilt wurde.

2 Das Vorhaben Ostbayernring − Ersatzneubau 380/110-kV-Höchstspannungsleitung Redwitz a. d. Rodach - Schwandorf einschließlich Rückbau der Bestandsleitung, Abschnitt Umspannwerk Schwandorf - Umspannwerk Etzenricht wurde mit Beschluss vom 29. Juli 2022 planfestgestellt; es ist ein Abschnitt des Vorhabens 380 kV-Höchstspannungsleitung Redwitz a. d. Rodach - Schwandorf, das als Nr. 18 der Anlage zum BBPlG in den Bedarfsplan nach § 1 Abs. 1 BBPlG aufgenommen ist. Die geplante Leitung überspannt ein Grundstück des Antragstellers (Flnr. ..., Gemarkung A.), auf dem auch ein Teil von Mast X. errichtet werden soll.

3 Mit Beschluss vom 4. Mai 2023 wies das zuständige Landratsamt die Beigeladene vorzeitig - mit Wirksamkeit ab dem 29. Mai 2023 - dauerhaft in den Besitz der für den Schutzstreifen und den Mast erforderlichen Flächen (11 228 m²) sowie vorübergehend in den Besitz der für die Einrichtung von Arbeitsflächen und Zuwegungen erforderlichen Flächen (3 317 m²) des o. g. Grundstücks ein.

4 Hiergegen hat der Antragsteller entsprechend der beigefügten Rechtsmittelbelehrung Klage beim Bayerischen Verwaltungsgerichtshof erhoben und einstweiligen Rechtsschutz beantragt. Er macht im Wesentlichen geltend, dass der Standort, der Masttyp und die Höhe von Mast X. von Zusagen der Beigeladenen abwichen. Der Umfang der Grundstücksinanspruchnahme sei unbestimmt. Das zeigten auch die von der Beigeladenen vorgelegten Vertragsentwürfe über die Bestellung einer beschränkten persönlichen Dienstbarkeit, die zumindest widersprüchlich seien. Zudem habe sich die Beigeladene nicht ausreichend um eine gütliche Einigung bemüht.

5 Der Antragsgegner und die Beigeladene treten dem Antrag entgegen.

6 Der Verwaltungsgerichtshof hat Klage und Eilantrag an das Bundesverwaltungsgericht verwiesen.

II

7 Der Antrag hat keinen Erfolg.

8 1. Das Bundesverwaltungsgericht ist aufgrund der nach § 83 Satz 1 VwGO i. V. m. § 17a Abs. 2 Satz 3 GVG bindenden Verweisung durch den Verwaltungsgerichtshof für die Entscheidung über den Antrag zuständig.

9 Ungeachtet dessen hat der Verwaltungsgerichtshof die Zuständigkeit des Bundesverwaltungsgerichts zu Recht bejaht. Nach § 50 Abs. 1 Nr. 6 VwGO entscheidet das Bundesverwaltungsgericht im ersten und letzten Rechtszug u. a. über sämtliche Streitigkeiten, die Planfeststellungsverfahren und Plangenehmigungsverfahren für Vorhaben betreffen, die im Bundesbedarfsplangesetz bezeichnet sind. § 6 Satz 1 BBPlG verweist für die in den Bedarfsplan aufgenommenen Vorhaben seinerseits ausdrücklich auf § 50 Abs. 1 Nr. 6 VwGO. Gemäß § 6 Satz 2 Nr. 1 BBPlG ist § 50 Abs. 1 Nr. 6 VwGO auch anzuwenden für auf diese Vorhaben bezogene Veränderungssperren, Zulassungen des vorzeitigen Baubeginns und Anzeigeverfahren. Vergleichbare Regelungen finden sich u. a. in § 43e Abs. 4 Satz 2 EnWG und § 12 Satz 2 Nr. 1 LNGG. Der Begriff der Zulassung des vorzeitigen Baubeginns in § 12 Satz 2 Nr. 1 LNGG ist mit Blick auf den Gesetzeszweck weit auszulegen und nicht auf die so bezeichnete Zulassung des vorzeitigen Baubeginns im Sinne des § 44c EnWG beschränkt. Er erfasst auch die in § 44b EnWG geregelte vorzeitige Besitzeinweisung, die dasselbe Ziel der Ermöglichung des zügigen Baubeginns verfolgt (BVerwG, Beschluss vom 10. Februar 2023 - 7 VR 1.23 - EnWZ 2023, 223 Rn. 12).

10 Der Senat schließt sich diesem Begriffsverständnis für die Auslegung von § 6 BBPlG i. V. m. § 50 Abs. 1 Nr. 6 VwGO an. Das LNG-Beschleunigungsgesetz ist zwar nach seiner Ausgestaltung mit einer Reihe von Ausnahme- und Maßgabenregelungen (vgl. zum EnWG § 8 LNGG) in besonderer Weise auf die Beschleunigung der Verfahren für dringliche Vorhaben ausgerichtet. § 6 BBPlG zielt aber ebenso wie § 12 LNGG darauf, eine einheitliche Befassung und Entscheidungsgeschwindigkeit für Entscheidungen zu gewährleisten, die im Bundesbedarfsplan bezeichnete Vorhaben betreffen (vgl. BT-Drs. 19/23491 S. 23; zu § 12 LNGG BT-Drs. 20/1742 S. 38).

11 Die Öffnungsklausel des § 48 Abs. 1 Satz 3 VwGO steht dieser Auslegung nicht entgegen. Sie ist eingefügt worden, weil die Länder für Streitigkeiten über Besitzeinweisungen teilweise den Rechtsweg zu den ordentlichen Gerichten vorgesehen haben. Vor diesem Hintergrund wurde von einer bundesrechtlichen Zuweisung der Streitigkeiten an die Oberverwaltungsgerichte/Verwaltungsgerichtshöfe abgesehen. Für Besitzeinweisungen, die bundesrechtlich geregelt sind, ist die Regelung nicht einschlägig (vgl. Ziekow, in: Sodan/Ziekow, VwGO, 5. Aufl. 2018, § 48 Rn. 32). Unabhängig davon verfolgt die Öffnungsklausel denselben Zweck wie die o. g. Vorschriften. Sie soll "wegen des engen rechtlichen und sachlichen Zusammenhangs zwischen Besitzeinweisung und Planfeststellung" der Prozessökonomie und Verfahrensbeschleunigung dienen (vgl. BT-Drs. 10/171 S. 12).

12 2. Der - gemäß § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3, Abs. 5 Satz 1 Alt. 1 VwGO statthafte - Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage gegen die nach § 44b Abs. 7 Satz 1 EnWG sofort vollziehbare vorzeitige Besitzeinweisung ist unbegründet.

13 Die im Rahmen von § 80 Abs. 5 VwGO vorzunehmende Interessenabwägung geht zu Lasten des Antragstellers aus. Das bereits durch die gesetzliche Regelung des § 44b Abs. 7 Satz 1 EnWG betonte öffentliche Interesse und das Interesse der Beigeladenen an der sofortigen Vollziehung der vorzeitigen Besitzeinweisung überwiegen das Interesse des Antragstellers an der aufschiebenden Wirkung seiner Klage. Bei der im vorläufigen Rechtsschutzverfahren allein möglichen und gebotenen summarischen Prüfung erweist sich die vorzeitige Besitzeinweisung voraussichtlich als rechtmäßig.

14 Nach § 44b Abs. 1 Satz 1 EnWG hat die Enteignungsbehörde den Träger des Vorhabens auf Antrag nach Feststellung des Plans oder Erteilung der Plangenehmigung in den Besitz einzuweisen, wenn der sofortige Beginn von Bauarbeiten geboten ist und sich der Eigentümer oder Besitzer weigert, den Besitz eines für den Bau, die Änderung oder Betriebsänderung von Hochspannungsfreileitungen, Erdkabeln oder Gasversorgungsleitungen im Sinne des § 43 EnWG benötigten Grundstücks durch Vereinbarung unter Vorbehalt aller Entschädigungsansprüche zu überlassen. Der Planfeststellungsbeschluss oder die Plangenehmigung müssen vollziehbar sein (Satz 2). Diese Voraussetzungen liegen nach dem gegenwärtigen Erkenntnisstand vor.

15 a) Das Grundstück des Antragstellers wird für den Bau der Höchstspannungsleitung benötigt. Der Planfeststellungsbeschluss vom 29. Juli 2022 sieht die Inanspruchnahme des Grundstücks vor. Das ergibt sich aus dem Grunderwerbsverzeichnis (Planunterlage ...) und dem Lage- und Grunderwerbsplan (Planunterlage ...). Die Unterlagen sind planfestgestellt (vgl. PFB, S. 19 f.), der Besitzeinweisungsbeschluss nimmt hierauf Bezug.

16 Masttyp und -konfiguration sowie Masthöhe und Mastfundament von Mast X. können dem Längenprofil (Planunterlage ...), der Mastliste zum Bauwerk 1-6 (Planunterlage ...), der Fundamenttabelle zum Bauwerk 1-6 (Planunterlage ...) und den Mastprinzipzeichnungen (Planunterlage ...) entnommen werden. Die Unterlagen sind ebenfalls planfestgestellt (vgl. PFB, S. 19 ff.).

17 Mit seinen Einwänden gegen Standort, Höhe und Masttyp von Mast X. sowie die Bestimmtheit der Planung im Bereich seines Grundstücks kann der Antragsteller nicht gehört werden. Sie richten sich gegen den Planfeststellungsbeschluss, dessen Rechtmäßigkeit im Verfahren auf vorzeitige Besitzeinweisung nicht überprüft wird. § 44b Abs. 1 EnWG verlangt nur, dass der Planfeststellungsbeschluss - wie hier - vollziehbar ist. Auch die Bestellung einer Dienstbarkeit und ihr Inhalt sind nicht Gegenstand des Besitzeinweisungsverfahrens.

18 b) Der sofortige Beginn der Bauarbeiten auf dem Grundstück des Antragstellers ist geboten. Die Beigeladene hat schlüssig dargelegt, dass die Vorhabenrealisierung dringlich ist und die Flächen nach der Besitzeinweisung zeitnah in Anspruch genommen werden sollen.

19 Ungeachtet der gesetzlich festgestellten Dringlichkeit des Vorhabens (vgl. § 1 Abs. 1 BBPlG) duldet der Beginn der Baumaßnahmen auf dem Grundstück des Antragstellers im Hinblick auf den Bauzeitenplan vom 21. November 2022, den die Beigeladene ihrem Antrag auf Besitzeinweisung beigefügt hat, keinen Aufschub. Die einzelnen Bauphasen sind aufeinander abgestimmt. Zeitliche Verzögerungen würden nach den Angaben der Beigeladenen zwangsläufig zu einem erheblichen technischen und finanziellen Mehraufwand führen. Danach ist der Mast X. der ... von insgesamt 37 Maststandorten im Baulos 1 und damit ein essentieller Baustein für die Seilzugarbeiten und die Inbetriebnahme der Leitung. Ohne Mast X. ist der Seilzug von Mast Y. bis Mast Z. nicht möglich; zusätzlich müsste - unter Inanspruchnahme zusätzlicher Wald- und Eigentumsflächen - Mast Y. abgeankert werden. Ein weiteres Zurückstellen der Arbeiten auf dem Grundstück des Antragstellers scheidet mithin aus.

20 c) Der Antragsteller hat sich geweigert, der Beigeladenen den Besitz an den benötigten Teilflächen seines Grundstücks freiwillig zu überlassen.

21 Eine Weigerung im Sinne von § 44b Abs. 1 Satz 1 EnWG liegt vor, wenn der Vorhabenträger dem Eigentümer oder Besitzer durch ein entsprechendes Angebot die Möglichkeit eröffnet hat, die Überlassung des Besitzes unter Vorbehalt sämtlicher Entschädigungsansprüche durch eine Vereinbarung im Sinne des § 854 Abs. 2 BGB herbeizuführen und dieser das Angebot nicht angenommen hat (vgl. BVerwG, Beschluss vom 10. Februar 2023 - 7 VR 1.23 - EnWZ 2023, 223 Rn. 22).

22 Die Beigeladene hat ihre Bemühungen um eine gütliche Einigung mit dem Antragsteller im Antrag auf vorzeitige Besitzeinweisung vom 20. März 2023 unter Vorlage von Protokollen und Schriftverkehr ausführlich dargelegt. Danach hat sie seit dem Jahr 2017 in zahlreichen Gesprächen und Ortsbegehungen mit dem Antragsteller auf eine gütliche Einigung hingewirkt und ihm verschiedene Lösungsansätze aufgezeigt. Unter anderem hat sie dem Antragsteller angeboten, ihr den Besitz unter Vorbehalt sämtlicher Entschädigungsansprüche zu überlassen. Die Einigungsbemühungen sind erfolglos geblieben, eine Verständigung konnte auch in der mündlichen Verhandlung am 26. April 2023 über den Antrag auf vorzeitige Besitzeinweisung nicht erzielt werden.

23 Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 und 3 i. V. m. § 162 Abs. 3 VwGO.

24 Die Festsetzung des Streitwerts beruht auf § 52 Abs. 1 i. V. m. § 53 Abs. 2 Nr. 2 GKG und orientiert sich an Nr. 34.2.4 i. V. m. Nr. 1.5 des Streitwertkataloges für die Verwaltungsgerichtsbarkeit. Für das einstweilige Rechtsschutzverfahren ist die Hälfte des so ermittelten Streitwerts festgesetzt worden.