Beschluss vom 24.02.2021 -
BVerwG 8 B 64.20ECLI:DE:BVerwG:2021:240221B8B64.20.0

  • Zitiervorschlag

    BVerwG, Beschluss vom 24.02.2021 - 8 B 64.20 - [ECLI:DE:BVerwG:2021:240221B8B64.20.0]

Beschluss

BVerwG 8 B 64.20

  • VG Magdeburg - 08.09.2020 - AZ: VG 3 A 7/20 MD

In der Verwaltungsstreitsache hat der 8. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 24. Februar 2021
durch die Vorsitzende Richterin am Bundesverwaltungsgericht Dr. Held-Daab, die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Dr. Rublack und
den Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Seegmüller
beschlossen:

  1. Das Urteil des Verwaltungsgerichts Magdeburg vom 8. September 2020 wird aufgehoben.
  2. Die Sache wird zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das Verwaltungsgericht zurückverwiesen.
  3. Die Kostenentscheidung bleibt der Schlussentscheidung vorbehalten.
  4. Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwerdeverfahren auf 5 000 € festgesetzt.

Gründe

1 Der ... geborene Kläger begehrt eine weitergehende als die bisherige Rehabilitierung nach dem Beruflichen Rehabilitierungsgesetz. Nach seiner Teilfacharbeiterausbildung zum Dreher/Zerspaner war er im VEB Hydraulik ... Betriebsteil ... im erlernten Beruf und ab September 1978 im VEB Spezialbaukombinat ... als Abdichter tätig. Am 20. April 1979 wurde er inhaftiert und blieb aufgrund eines inzwischen teilweise als rechtsstaatswidrig aufgehobenen Strafurteils bis zum 1. November 1979 in Haft. Seit dem 5. November 1979 war er als Dachdeckerhelfer beschäftigt. Der Beklagte stellte fest, der Kläger sei Verfolgter im Sinne des Beruflichen Rehabilitierungsgesetzes, erkannte als Verfolgungszeit aber nur die Haftzeit an. Der Kläger hat Klage erhoben und geltend gemacht, schon der Arbeitsplatzwechsel 1978 sei verfolgungsbedingt gewesen; seitdem habe er in der DDR keine seiner Qualifikation entsprechende Tätigkeit mehr ausüben dürfen. Das Verwaltungsgericht hat die Klage abgewiesen und die Revision gegen sein Urteil nicht zugelassen.

2 Die dagegen eingelegte Beschwerde ist begründet. Sie rügt zu Recht eine Verletzung des Anspruchs des Klägers auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG und § 108 Abs. 2 VwGO) sowie sinngemäß einen Verstoß gegen die gerichtliche Pflicht zur sachgerechten Auslegung des Klagebegehrens gemäß § 88 VwGO. Auf beiden Verfahrensmängeln kann das angegriffene Urteil beruhen (§ 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO).

3 1. Die Gewährleistung des Rechts auf rechtliches Gehör verpflichtet das Gericht, die entscheidungserheblichen tatsächlichen und rechtlichen Ausführungen der Prozessbeteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen (vgl. BVerwG, Urteil vom 31. Juli 2002 - 8 C 37.01 - Buchholz 428 § 1 Abs. 3 VermG Nr. 35 S. 102 <109> m.w.N.; Beschluss vom 28. März 2011 - 8 B 44.10 - juris Rn. 17). Das Vorbringen des Klägers, schon sein Arbeitsplatzwechsel 1978 und die anschließende, nicht seiner Qualifikation entsprechende Beschäftigung mit Hilfsarbeiten seien auf Verfolgung zurückzuführen, wird zwar im Tatbestand des Urteils wiedergegeben und damit zur Kenntnis genommen. Bei der verwaltungsgerichtlichen Formulierung des Klageantrags und dessen rechtlicher Würdigung ist es jedoch unberücksichtigt geblieben. Entsprechend der Antragsfassung gehen die Entscheidungsgründe davon aus, Klagegegenstand sei nur die Rehabilitierung für die Zeit nach der Haftentlassung. Damit wird der vom Kläger geltend gemachte Rehabilitierungsanspruch wegen des Arbeitsplatzwechsels und der anschließenden Hilfsarbeitertätigkeit vor der Inhaftierung übergangen. Aus dem Hinweis des Urteils auf die - unergiebige - betriebliche Auskunft und aus der Bezugnahme auf den angegriffenen Bescheid ergibt sich nichts anderes. Beides soll nach dem Textzusammenhang nur die Annahme stützen, die Voraussetzungen für die vermeintlich allein begehrte Rehabilitierung für die Zeit nach der Haftentlassung lägen nicht vor (UA S. 4 Mitte).

4 2. Die Verletzung des Rechts auf rechtliches Gehör hat einen Verstoß gegen die Pflicht zur sachgerechten Auslegung des Klagebegehrens gemäß § 88 VwGO zur Folge. Der Kläger rügt ihn der Sache nach zutreffend mit dem Vorwurf, das Urteil blende völlig aus, dass er einen verfolgungsbedingten Verlust der Facharbeiterstelle geltend gemacht und sinngemäß verlangt habe, ihn bereits für die Zeit seit dem Beginn der Tätigkeit als Abdichter im Jahr 1978 zu rehabilitieren (vgl. Seite 3 der Beschwerdebegründung).

5 Nach § 88 VwGO darf das Gericht nicht über das Klagebegehren hinausgehen, ist aber an die Fassung der Anträge nicht gebunden. Vielmehr hat es das Klagebegehren sachgerecht auszulegen und dazu das tatsächliche Klageziel zu ermitteln, wie es sich aus der Klageschrift und Klagebegründung ergibt. Das gilt auch für Entscheidungen ohne mündliche Verhandlung in Fällen, in denen - wie hier - schriftsätzlich noch kein Antrag angekündigt wurde.

6 Die Bestimmung des Klagebegehrens im angegriffenen Urteil genügt diesen Anforderungen nicht. Die gerichtliche Antragsformulierung geht von einer Beschränkung des Verpflichtungsbegehrens auf die Zeit nach der Haftentlassung aus, obwohl sich Anhaltspunkte dafür weder in der Klageschrift noch in der Klagebegründung finden lassen.

7 Die Klageschrift wendet sich - insgesamt - gegen den Bescheid des Landesverwaltungsamtes Sachsen-Anhalt vom 29. August 2018, weil dieser dem Antrag nur teilweise stattgegeben habe. Der Bescheid lehnte eine Rehabilitierung sowohl für die Zeit von 1978 bis zur Inhaftierung als auch für die Zeit nach der Haftentlassung mit je eigener Begründung ab. Nichts deutet darauf hin, dass der Kläger sich nur gegen eine der beiden Teilablehnungen wenden und die andere akzeptieren wollte.

8 Das Ziel, eine Rehabilitierung schon ab 1978 zu erreichen, wird in der Klagebegründung noch deutlicher. Mit ihr und den ihr beigefügten Unterlagen widerspricht der Kläger dem vorherigen gerichtlichen Hinweis, eine berufliche Benachteiligung sei schon wegen der sozialen Gleichwertigkeit der Beschäftigungen vor und nach der Inhaftierung nicht erkennbar. Der Kläger macht einen verfolgungsbedingten Eingriff durch den Verlust der Teilfacharbeiterstelle geltend und erläutert, er habe diese Stelle aufgeben müssen, weil der Betrieb ihn wegen kritischer Äußerungen über Arbeitsabläufe und den Staat unter Druck gesetzt und für "nicht würdig" erklärt habe, dort weiter zu arbeiten. Seit dem erzwungenen Abbruch seiner Teilfacharbeitertätigkeit sei er stets auf Hilfstätigkeiten verwiesen worden und habe keine qualifizierte Beschäftigung mehr aufnehmen können.

9 3. Das angegriffene Urteil beruht auf der dargestellten Verletzung des Rechts auf rechtliches Gehör (§ 138 Nr. 3 VwGO) und auf dem Verstoß gegen § 88 VwGO, weil es das Verpflichtungsbegehren unzutreffend verkürzt. Eine entsprechende Anwendung von § 144 Abs. 4 VwGO kommt auch, soweit ein Rehabilitierungsanspruch für die Zeit nach der Haft verneint wurde, nicht in Betracht. Es ist nicht auszuschließen, dass eine Berücksichtigung des Vorbringens zum Arbeitsplatzwechsel 1978 auch zu einer für den Kläger günstigeren Beurteilung der Rehabilitierungsvoraussetzungen bezüglich der Zeit nach der Haftentlassung führen könnte. Sollte der Kläger seine Beschäftigung als Teilfacharbeiter verfolgungsbedingt verloren haben und im Zeitpunkt der Inhaftierung verfolgungsbedingt auf Hilfstätigkeiten beschränkt gewesen sein, könnte sich die neuerliche Hilfstätigkeit nach der Haftentlassung als Fortsetzung früherer Diskriminierung darstellen. Ob der Arbeitsplatzwechsel 1978 verfolgungsbedingt war, ist auch nicht schon mangels relevanter Einkommenseinbußen unerheblich. Die soziale Gleichwertigkeit eines Berufs kann in besonderen Fällen, wie etwa bei einer Herabstufung vom Fach- zum Hilfsarbeiter, auch ohne das Vorliegen einer Einkommensminderung zu verneinen sein (BVerwG, Urteil vom 6. April 2000 - 3 C 34.99 - Buchholz 115 Sonst. Wiedervereinigungsrecht Nr. 29 S. 22 <24>). Die Unergiebigkeit der bisher eingeholten Auskünfte zur Frage, ob der Kläger seine Stelle als Teilfacharbeiter verfolgungsbedingt aufgab, schließt nicht aus, die Umstände des Arbeitsplatzwechsels durch andere Beweismittel aufzuklären; ergänzend wird auf § 25 Abs. 2 Satz 1 BerRehaG hingewiesen (dazu vgl. BVerwG, Beschluss vom 29. Juli 2015 - 3 B 39.14 - Buchholz 428.8 § 25 BerRehaG Nr. 1 Rn. 5).

10 Im Interesse der Verfahrensbeschleunigung macht der Senat von der Möglichkeit Gebrauch, das angegriffene Urteil durch Beschluss aufzuheben und den Rechtsstreit zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das Verwaltungsgericht zurückzuverweisen (§ 133 Abs. 6 VwGO).