Beschluss vom 27.02.2020 -
BVerwG 9 BN 3.19ECLI:DE:BVerwG:2020:270220B9BN3.19.0

  • Zitiervorschlag

    BVerwG, Beschluss vom 27.02.2020 - 9 BN 3.19 - [ECLI:DE:BVerwG:2020:270220B9BN3.19.0]

Beschluss

BVerwG 9 BN 3.19

  • OVG Magdeburg - 16.10.2018 - AZ: OVG 4 K 54/16

In der Normenkontrollsache hat der 9. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 27. Februar 2020
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Bier,
den Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Martini und
die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Sieveking
beschlossen:

  1. Auf die Beschwerde des Antragsgegners wird das Urteil des Oberverwaltungsgerichts des Landes Sachsen-Anhalt vom 16. Oktober 2018 aufgehoben. Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Oberverwaltungsgericht zurückverwiesen.
  2. Die Kostenentscheidung bleibt der Schlussentscheidung vorbehalten.
  3. Der Streitwert wird für das Beschwerdeverfahren auf 10 000 € festgesetzt.

Gründe

I

1 Die Antragstellerin wendet sich im Wege der Normenkontrolle gegen zwei Satzungen des Antragsgegners zur Erhebung von Beiträgen für die Schmutzwasserbeseitigung für Neuanschlussnehmer bzw. Altanschlussnehmer. Das Oberverwaltungsgericht hat die Satzungen - mit Ausnahme von Vorschriften mit rein ordnungswidrigkeitsrechtlichem Inhalt - für unwirksam erklärt, weil die zur Rechtfertigung der Beitragssätze vorgelegte Globalberechnung in Hinblick auf die der Niederschlagsentwässerung zuzurechnenden Kosten einen erheblichen methodischen Fehler aufweise. In der Beitragskalkulation für Schmutzwasserbeiträge seien die Aufwandsteile nicht abgezogen worden, die auf die Niederschlagsentwässerung entfielen. Deshalb sei die Feststellung nicht möglich, ob das Aufwandsüberschreitungsverbot beachtet worden sei.

II

2 Die Beschwerde des Antragsgegners gegen die Nichtzulassung der Revision hat Erfolg. Die Revision ist nach § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO zuzulassen, weil der vom Antragsgegner geltend gemachte Verfahrensmangel vorliegt und die Entscheidung darauf beruhen kann.

3 Die Rüge des Antragsgegners, das Oberverwaltungsgericht habe gegen den Überzeugungsgrundsatz (§ 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO) und seine Aufklärungspflicht (§ 86 Abs. 1 Satz 1 VwGO) verstoßen, weil es seine Entscheidung maßgeblich auf eine unzutreffende Sachverhaltsunterstellung gestützt und dabei aufgetretene Widersprüche nicht aufgeklärt habe, greift durch.

4 Nach § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO entscheidet das Gericht nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung. Gegen diese Pflicht verstößt es, wenn es seiner Entscheidung einen unrichtigen oder unvollständigen Sachverhalt zugrunde legt (stRspr, vgl. nur BVerwG, Urteil vom 2. Februar 1984 - 6 C 134.81 - BVerwGE 68, 338 <339> und Beschluss vom 13. Februar 2012 - 9 B 77.11 - Buchholz 310 § 108 Abs. 1 VwGO Nr. 73 Rn. 7 m.w.N.). Das Gericht darf sich nicht auf tatsächliche Feststellungen stützen, für die es nach dem Gesamtergebnis des Verfahrens keine Grundlage gibt (BVerwG, Beschluss vom 13. Februar 2012 a.a.O. Rn. 16), und Umstände, auf deren Vorliegen es nach seiner Rechtsauffassung für die Entscheidung ankommt, nicht ungeprüft behaupten (vgl. BVerwG, Beschluss vom 14. Juni 2011 - 8 B 74.10 - Buchholz 310 § 132 Abs. 2 Ziff. 3 VwGO Nr. 61 Rn. 5; Stuhlfauth, in: Bader/Funke-Kaiser/Stuhlfauth/von Albedyll, VwGO, 7. Aufl. 2018, § 108 Rn. 7). Das Gericht verstößt gegen den Überzeugungsgrundsatz, wenn es bei seiner Überzeugungsbildung von einer Sachverhaltsunterstellung ausgeht, die nicht durch ausreichende tatsächliche Feststellungen getragen wird, und seine Überzeugung nicht auf eine hinreichende Tatsachengrundlage stützt (vgl. BVerwG, Beschluss vom 9. März 2017 - 6 B 51.16 - juris Rn. 5 m.w.N.; zur vergleichbaren Vorschrift in § 96 Abs. 1 Satz 1 FGO auch BFH, Beschluss vom 8. Februar 2013 - VI B 100/12 - BFH/NV 2013, 951 Rn. 2 m.w.N.). So liegt der Fall hier.

5 Die entscheidungstragende Annahme des Oberverwaltungsgerichts, es liege ein methodischer Fehler vor, weil in der Beitragskalkulation für Schmutzwasserbeiträge die Aufwandsteile hätten abgezogen werden müssen, die sich auf die Niederschlagsentwässerung bezogen hätten, setzt denklogisch voraus, dass in die Gebührenkalkulation entsprechende Aufwendungen anteilig eingeflossen sind. Hierzu fehlen jedoch tragfähige Feststellungen.

6 Soweit das Urteil zunächst darauf hinweist, dass sich aus der der Beitragsfestsetzung zugrunde gelegten Globalberechnung ergebe, dass im Verbandsgebiet Mischwasserkanäle vorhanden gewesen seien, rechtfertigt allein dieser Umstand - der vom Antragsgegner im Übrigen nicht bestritten wird - als solches nicht den Schluss, dass der Antragsgegner im Zusammenhang mit diesen Mischwasserkanälen Aufwendungen getätigt hat, die Eingang in seine Beitragskalkulation gefunden haben. Entsprechendes gilt für den weiteren Hinweis im Urteil, dass die Kalkulation in dem Tabellenwerk eine Spalte enthalte, in der nach ihrer Überschrift der nicht beitragsfähige Aufwand für Niederschlagswasser einzutragen sei. Dies ist zwar zutreffend, allerdings enthält diese Spalte durchweg die Eintragung von 0,00 €, sodass nicht ersichtlich ist, inwieweit dies auf das Vorliegen von anteilig auf die Niederschlagsentwässerung entfallenden Aufwendungen schließen lassen sollte.

7 Wie der Antragsgegner zutreffend ausführt, wird die Annahme des methodischen Fehlers maßgebend mit den Äußerungen des Verbandsgeschäftsführers des Antragsgegners in der mündlichen Verhandlung begründet. Insoweit heißt es im Urteil:
"Der Verbandsgeschäftsführer des Antragsgegners hat in der mündlichen Verhandlung - entgegen den schriftsätzlichen Ausführungen des Prozessbevollmächtigten, der Antragsgegner bzw. die M. GmbH hätten keine Kanäle für Niederschlagswasser oder Mischwasser errichtet - bestätigt, dass es tatsächlich im Verbandsgebiet noch Mischwasserkanäle gebe und diese auch nach 1991 aus- oder umgebaut worden seien. Der Angabe der Antragstellerin, dass jedenfalls noch bis zum Jahr 2016 Mischwasserkanäle (z.B. in der T.straße in H.) auf das Trennsystem umgebaut bzw. weiter betrieben würden (z.B. Baugebiet 'Am Krankenhaus'), ist er ebenfalls nicht entgegengetreten."

8 Die in den Entscheidungsgründen wiedergegebene - im Protokoll der mündlichen Verhandlung nicht festgehaltene - Äußerung des Verbandsgeschäftsführers rechtfertigt die Annahme zu Unrecht eingestellter Kosten für Niederschlagsentwässerung nicht. Der objektive Aussagegehalt dieser Angaben beschränkt sich auf das Vorhandensein von Mischwasserkanälen im Verbandsgebiet und deren Aus- und Umbau ohne nähere Informationen dazu, von wem, mit welchem Ziel und auf wessen Kosten die genannten Aus- und Umbauarbeiten erfolgt sein sollen. Ein konkreter Bezug zu den in die Beitragskalkulation eingestellten Aufwendungen wird nicht hergestellt.

9 Aus dem in der zitierten Urteilspassage angeführten Gegensatz zu den schriftsätzlichen Äußerungen des Antragsgegners wird allerdings deutlich, dass das Gericht davon ausgegangen ist, dass die Aus- und Umbaumaßnahmen an vorhandenen Mischkanälen vom Antragsgegner vorgenommen worden seien und zur Errichtung von Kanälen für Niederschlagswasser oder Mischwasser geführt hätten. Für diese Annahme fehlt es jedoch an einer hinreichenden Tatsachengrundlage.

10 Die im Urteil referierten Angaben des Verbandsgeschäftsführers tragen die Aussage des Oberverwaltungsgerichts - wie dargelegt - nicht. Nach dem Vortrag der Beschwerde hat sich der Verbandsgeschäftsführer in der mündlichen Verhandlung auch tatsächlich nicht dahingehend geäußert, der Antragsgegner habe Niederschlagswasser- oder Mischkanäle errichtet, vielmehr sei seine Aussage vom Gericht offensichtlich falsch interpretiert worden. Er habe dargelegt, dass in einzelnen Bereichen, in welchen ein Mischwassersystem vorhanden gewesen sei, dieses in ein Trennsystem umgewandelt worden sei. Dabei seien die Baumaßnahmen zumeist mit anderen Aufgabenträgern im Rahmen einer Bauherrenvereinbarung durchgeführt worden. Der Abwasserzweckverband habe ausschließlich die Errichtung von Schmutzwasserkanälen durchgeführt, durch die Stadt H. seien in den meisten Fällen gleichzeitig die Niederschlagswasserkanäle errichtet worden. Die zum Zeitpunkt der Trennung des Mischwassersystems vorhandenen Kanäle seien bereits vor dem 15. Juni 1991 hergestellt worden; eine Berücksichtigung der Herstellungskosten scheide aus. Durch den Antragsgegner und seine Vorgängerverbände seien keine Mischwasserkanäle errichtet worden.

11 Diese Aussage stimmt mit dem schriftsätzlichen Vorbringen der Prozessbevollmächtigten des Antragsgegners überein. Danach hätten weder der Antragsgegner noch sein Vorgänger nach 1991 Kanäle für Niederschlagswasser oder Mischwasser errichtet. Der Antragsgegner habe gemäß der Verbandssatzung ausschließlich die Aufgabe der Schmutzwasserbeseitigung übernommen, im Rahmen einer zukünftigen Kanalsanierung würden die "Altkanäle" als reine Schmutzwasserkanäle saniert. Im Rahmen der aktuellen Beitragskalkulation sei Anlagevermögen, das vor 1991 hergestellt worden sei, vollständig ausgegliedert worden. Anlagevermögen, das der Niederschlagswasserentwässerung diene, sei nicht als beitragsfähiger Aufwand qualifiziert worden. Die gesamte öffentliche Einrichtung sei als reine Schmutzwasserbeseitigung konzipiert, auch die flankierenden technischen Bauwerke seien allein auf die Beseitigung von Schmutzwasser angelegt. Deshalb seien Abzüge wegen Niederschlagswasser nicht geboten gewesen.

12 Auch dieses zum Prozessstoff gehörende Vorbringen des Antragsgegners bietet demnach keinen Anknüpfungspunkt für die vom Oberverwaltungsgericht unterstellten (anteiligen) Aufwendungen für die Niederschlagsentwässerung, sondern steht vielmehr im direkten Widerspruch dazu, was in den Urteilsgründen auch ausdrücklich erwähnt wird.

13 Da es dabei um eine zentrale Rüge der Antragstellerin ging, der das Gericht entscheidungserhebliche Bedeutung beigemessen hat, durfte das Oberverwaltungsgericht den von ihm festgestellten Widerspruch innerhalb des Vorbringens des Antragsgegners nicht dahingehend auflösen, dass es die (unterstellten) gegenteiligen Angaben in der mündlichen Verhandlung ohne weitere Aufklärung und Nachfrage und ohne dem Antragsgegner Gelegenheit zur Stellungnahme zu geben als allein maßgebend erachtete.

14 Der Hinweis der Antragstellerin im Beschwerdeverfahren, allein die Tatsache, dass Niederschlagswasser im Leitungssystem befördert werde, genüge als Begründung für den Ansatz des Oberverwaltungsgerichts, wonach für Investitionen, die tatsächlich auch der Niederschlagswasserbeseitigung dienten wie z.B. die Investitionen in die Kläranlage, Aufwand aus der Globalkalkulation auszugliedern sei, rechtfertigt keine andere Beurteilung. Den Urteilsgründen lässt sich schon nicht entnehmen, dass das Oberverwaltungsgericht etwaige Mehrkosten für das vorhandene Leitungssystem oder die Kläranlage in den Blick genommen hätte. Im Übrigen fehlt es auch insoweit an tragfähigen Feststellungen dazu, dass derartige Mehraufwendungen in die Beitragskalkulation eingeflossen sein könnten. Der Antragsgegner hatte dazu schriftsätzlich vorgetragen, zu DDR-Zeiten hätten keine klassischen, zur Mischwasserentsorgung geeigneten und entsprechend dimensionierten Mischwasserkanäle bestanden, auch technische Bauwerke wie die Kläranlage seien allein für die Beseitigung von Schmutzwasser ausgelegt. Konkrete Feststellungen unter Bezugnahme auf die in die Gebührenkalkulation tatsächlich eingestellten Kosten hat das Oberverwaltungsgericht nicht getroffen (vgl. zur Erforderlichkeit derartiger Ermittlungen von Amts wegen: etwa BVerwG, Beschluss vom 21. Juni 1995 - 8 B 67.95 - juris Rn. 5).

15 Das angefochtene Urteil beruht auf dem dargestellten Verfahrensfehler, weil dieser die allein entscheidungstragende Begründung für die Nichtigkeitserklärung der Satzungen erfasst und das Oberverwaltungsgericht die weiteren Rügen der Antragstellerin für unbegründet gehalten oder nicht abschließend geprüft hat und seine sonstigen Bedenken, die sich auf eine Kostenunterschreitung bezogen, ausdrücklich als ergänzend und nicht entscheidungstragend bezeichnet hat.

16 Der Senat macht im Interesse der Verfahrensbeschleunigung von der ihm nach § 133 Abs. 6 VwGO eröffneten Befugnis Gebrauch, das angefochtene Urteil aufzuheben und das Verfahren zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das Oberverwaltungsgericht zurückzuverweisen.

17 Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 47 Abs. 1 und 3, § 39 Abs. 1, § 52 Abs. 2 GKG.