Beschluss vom 29.01.2024 -
BVerwG 8 AV 1.24ECLI:DE:BVerwG:2024:290124B8AV1.24.0

  • Zitiervorschlag

    BVerwG, Beschluss vom 29.01.2024 - 8 AV 1.24 - [ECLI:DE:BVerwG:2024:290124B8AV1.24.0]

Beschluss

BVerwG 8 AV 1.24

  • Bundesverwaltungsgericht - 29.11.2023 - AZ: BVerwG 6 C 2.22

In der Verwaltungsstreitsache hat der 8. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 29. Januar 2024
durch die Vorsitzende Richterin am Bundesverwaltungsgericht Dr. Held-Daab, die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Hoock und die Richter am
Bundesverwaltungsgericht Dr. Seegmüller, Dr. Meister und Dr. Naumann
beschlossen:

Die nach dem Beschluss des 6. Revisionssenats vom 29. November 2023 - 6 C 2.22 - beabsichtigte Entscheidung würde nicht zu einer Abweichung von dem Urteil des Senats vom 27. Januar 2021 - 8 C 3.20 - im Sinne des § 11 Abs. 2 VwGO führen. Dieses Urteil stützt sich nicht auf die Annahme, ein Fortsetzungsfeststellungsinteresse gemäß § 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO bestünde jenseits der Fallgruppen der Wiederholungsgefahr, des Rehabilitations- und des Präjudizinteresses bereits bei typischerweise kurzfristiger Erledigung der angegriffenen Maßnahme, ohne dass zugleich ein qualifizierter Grundrechtseingriff vorliegen müsste.

Gründe

I

1 Bei dem 6. Revisionssenat des Bundesverwaltungsgerichts ist ein Revisionsverfahren anhängig, in dem über die Zulässigkeit einer Fortsetzungsfeststellungsklage zu entscheiden ist.

2 Der Kläger des Ausgangsverfahrens begehrt die Feststellung der Rechtswidrigkeit eines von der zuständigen Behörde für die Zeit von 10.00 Uhr bis 20.00 Uhr am 27. April 2019 verfügten Betretungs- und Aufenthaltsverbots für die Dortmunder Innenstadt anlässlich der an diesem Tag angesetzten Begegnung der Fußball-Bundesliga zwischen Borussia Dortmund und Schalke 04 ("Revierderby").

3 Das Verwaltungsgericht hat die Klage als unzulässig abgewiesen. Das Oberverwaltungsgericht hat die Berufung des Klägers mit der Begründung zurückgewiesen, dieser habe kein berechtigtes Interesse analog § 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO an der Feststellung der Rechtswidrigkeit des bereits vor Klageerhebung erledigten Verwaltungsakts. Es sei weder eine hinreichende Wiederholungsgefahr noch ein rechtlich erhebliches Rehabilitationsinteresse erkennbar. Ein sich typischerweise kurzfristig erledigender gewichtiger Grundrechtseingriff liege ebenfalls nicht vor, da das Aufenthalts- und Betretungsverbot zeitlich auf wenige Stunden befristet und räumlich auf einen innerstädtischen Bereich Dortmunds begrenzt gewesen sei. Das Oberverwaltungsgericht hat die Revision gegen sein Urteil wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache zugelassen.

4 Der 6. Revisionssenat des Bundesverwaltungsgerichts beabsichtigt, die Revision des Klägers zurückzuweisen. Er ist der Auffassung, ein berechtigtes Interesse an der begehrten Feststellung der Rechtswidrigkeit des erledigten Verwaltungsakts bestehe in der hier vorliegenden Fallkonstellation nur dann, wenn ein sich kurzfristig erledigender qualifizierter (tiefgreifender, gewichtiger bzw. schwerwiegender) Grundrechtseingriff vorliege. Diese Voraussetzung möchte der 6. Revisionssenat in Übereinstimmung mit dem Urteil des Oberverwaltungsgerichts verneinen. An der beabsichtigten Entscheidung sieht er sich durch das Urteil des 8. Revisionssenats vom 27. Januar 2021 - 8 C 3.20 - (BVerwGE 171, 242 Rn. 11) gehindert. Der 6. Revisionssenat entnimmt der zitierten Entscheidung die Rechtsauffassung, das berechtigte Interesse an der Feststellung nach § 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO bestehe jenseits der anerkannten Fallgruppen der Wiederholungsgefahr, des Rehabilitationsinteresses sowie der Absicht zum Führen eines Schadensersatzprozesses unabhängig vom Vorliegen eines qualifizierten Grundrechtseingriffs bereits, wenn sich die angegriffene Maßnahme typischerweise so kurzfristig erledige, dass sie ohne die Annahme eines Fortsetzungsfeststellungsinteresses regelmäßig keiner Überprüfung im gerichtlichen Hauptsacheverfahren zugeführt werden könne.

5 Mit Beschluss vom 29. November 2023 hat der 6. Revisionssenat bei dem 8. Revisionssenat angefragt,
ob er an seiner in dem Urteil vom 27. Januar 2021 - 8 C 3.20 - (BVerwGE 171, 242 Rn. 11) zum Ausdruck kommenden Auffassung festhält, dass die Sachurteilsvoraussetzung des berechtigten Interesses an der Feststellung im Sinne des § 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO jenseits der anerkannten Fallgruppen der Wiederholungsgefahr, des Rehabilitationsinteresses sowie der Absicht zum Führen eines Schadensersatzprozesses auch dann erfüllt ist, wenn sich die angegriffene Maßnahme typischerweise so kurzfristig erledigt, dass sie ohne die Annahme eines Fortsetzungsfeststellungsinteresses regelmäßig keiner Überprüfung im gerichtlichen Hauptsacheverfahren zugeführt werden könnte, ohne dass es sich bei der erledigten Maßnahme um einen qualifizierten Grundrechtseingriff handeln muss.

II

6 Der Senat entscheidet über die Antwort auf die Anfrage in der gemäß § 11 Abs. 3 Satz 3 VwGO vorgesehenen Besetzung. Richter am Bundesverwaltungsgericht X. ist dabei nicht von der Mitwirkung ausgeschlossen.

7 Gemäß § 54 Abs. 1 VwGO i. V. m. § 41 Nr. 6 ZPO ist ein Richter von der Ausübung des Richteramts kraft Gesetzes ausgeschlossen in Sachen, in denen er in einem früheren Rechtszug oder im schiedsrichterlichen Verfahren bei dem Erlass der angefochtenen Entscheidung mitgewirkt hat. Richter am Bundesverwaltungsgericht X. hat zwar am Erlass des vor dem 6. Revisionssenat angefochtenen Urteils des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 7. Dezember 2021 - 5 A 2000/20 - mitgewirkt. Ausgeschlossen ist jedoch nur der im früheren Rechtszug erkennende Richter, der in der Vorinstanz entschieden hat und jetzt zur Nachprüfung eben dieser Entscheidung berufen wäre (Stackmann, in: Münchener Kommentar zur ZPO, 6. Aufl. 2020, § 41 Rn. 24). Eine solche Konstellation liegt hier nicht vor, denn der 8. Revisionssenat ist nicht zur Überprüfung des vor dem 6. Revisionssenat angefochtenen Urteils des Oberverwaltungsgerichts berufen.

8 Die Anfrage ist wie aus dem Tenor ersichtlich zu beantworten. Das Urteil vom 27. Januar 2021 - 8 C 3.20 - hindert den 6. Revisionssenat nicht, wie von ihm beabsichtigt zu entscheiden. Eine solche Entscheidung wiche nicht im Sinne des § 11 Abs. 2 VwGO vom Urteil des 8. Revisionssenats vom 27. Januar 2021 - 8 C 3.20 - (BVerwGE 171, 242) ab.

9 Der Begriff der Abweichung in § 11 Abs. 2 VwGO ist ebenso zu verstehen wie in § 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO (vgl. BVerwG, Beschluss vom 13. April 2021 - 30 GS 1.20 - BVerwGE 172, 159 Rn. 13 ff.). Eine die Entscheidung des Großen Senats erfordernde Divergenz im Sinne des § 11 Abs. 2 VwGO entstünde danach nur, wenn die vom 6. Revisionssenat beabsichtigte Entscheidung sich bei der Anwendung des § 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO auf einen abstrakten Rechtssatz stützte, der einem das Urteil vom 27. Januar 2021 - 8 C 3.20 - tragenden abstrakten Rechtssatz in Anwendung dieser Vorschrift widerspräche. Das ist nicht der Fall.

10 Das Urteil vom 27. Januar 2021 - 8 C 3.20 - stellt keinen Rechtssatz zu § 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO auf. Es formuliert nicht abstrakt die Voraussetzungen eines Fortsetzungsfeststellungsinteresses, sondern beschränkt sich in Randnummer 11 auf eine knappe Subsumtionserwägung.

11 Dieser und den weiteren Entscheidungsgründen des Urteils ist auch sinngemäß kein entscheidungstragender abstrakter Rechtssatz des im Anfragebeschluss angenommenen Inhalts zu entnehmen. Erst recht ergibt sich aus den Urteilsgründen nicht, dass der Senat - ohne dies offenzulegen - von seiner ständigen Rechtsprechung zu den Voraussetzungen eines Fortsetzungsfeststellungsinteresses bei Fehlen einer Wiederholungsgefahr und eines Rehabilitations- oder Präjudizinteresses abgerückt wäre und nun annähme, es sei allein auf eine typischerweise kurzfristige Erledigung des Eingriffs abzustellen. Nach der Senatsrechtsprechung erfordert die den Anlass der Anfrage bildende Fallgruppe zur Begründung des Fortsetzungsfeststellungsinteresses gemäß § 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO einen qualifizierten (tiefgreifenden) Grundrechtseingriff, der sich typischerweise so kurzfristig erledigt, dass andernfalls kein effektiver Rechtsschutz in der Hauptsache zu erlangen wäre (vgl. etwa BVerwG, Urteile vom 16. Mai 2013 - 8 C 14.12 - BVerwGE 146, 303 Rn. 29 ff. und vom 20. Juni 2013 - 8 C 39.12 - juris LS 2 sowie Rn. 29 m. w. N.). Soweit die Subsumtionserwägung wegen der Verwendung des Wortes "schon" und des Fehlens von Ausführungen zum Gewicht des Eingriffs in Art. 9 Abs. 1 GG missverstanden werden könnte, lösen sich eventuelle Unklarheiten bei Berücksichtigung des Begründungszusammenhangs auf.

12 Mit dem Wort "schon" wird verdeutlicht, dass es auf die seinerzeit zwischen den Beteiligten streitige Frage der Wiederholungsgefahr (vgl. Rn. 2 des Urteils) nicht ankam, weil ein Fortsetzungsfeststellungsinteresse bereits nach den Kriterien zu bejahen war, die für sich kurzfristig erledigende tiefgreifende Grundrechtseingriffe entwickelt wurden. Das Wort "schon" bezieht sich also nicht auf die Frage, ob einzelne der in der bisherigen Rechtsprechung für diese Fallgruppe geforderten Voraussetzungen wie etwa das Vorliegen eines qualifizierten Grundrechtseingriffs entbehrlich sind.

13 Dass Randnummer 11 des Urteils keine Ausführungen zum qualifizierten Grundrechtseingriff enthält, ist ebenfalls nicht als Verzicht auf diese Anforderung zu verstehen. Vielmehr ergibt sich aus den nachfolgenden Erwägungen zur Grundrechtsbindung der Ausgestaltung des Sonntagsschutzes und den Verweisen auf die einschlägige Rechtsprechung (darunter BVerwG, Urteil vom 11. November 2015 - 8 CN 2.14 - BVerwGE 153, 183 Rn. 15 ff.) sowie aus den Erwägungen zum drittschützenden Charakter der einfach-rechtlichen, die Arbeitsruhe am Sonntag schützenden Vorschriften, dass der Senat in Fortführung seiner bisherigen Rechtsprechung zum Sonntagsschutz einen solchen Grundrechtseingriff angenommen hat.

14 Bei der Bewilligung von Sonntagsarbeit und bei der Zulassung von sonntäglichen Ladenöffnungen geht der Senat in ständiger Rechtsprechung von einer erheblichen Beeinträchtigung der betroffenen Gewerkschaften in deren Grundrecht aus Art. 9 GG aus. Dass jede solche Verkürzung der Arbeitsruhe an Sonntagen die Vereinigungs- und Koalitionsfreiheit gemäß Art. 9 Abs. 1 und 3 GG beeinträchtigt, ergibt sich aus den Ausführungen zum drittschützenden Charakter etwa des § 14 LadSchlG (BVerwG, Urteil vom 11. November 2015 - 8 CN 2.14 -‌ BVerwGE 153, 183 Rn. 15 ff.), des sonntäglichen Beschäftigungsverbots gemäß § 9 Abs. 1 ArbZG und der dazu erlassenen Ausnahmeregelungen in §§ 13 und 15 ArbZG (dazu auch BVerwG, Urteil vom 26. November 2014 - 6 CN 1.13 - BVerwGE 150, 327 LS 1 und Rn. 14 ff.). Das Urteil vom 11. November 2015 ‌- 8 CN 2.14 - (BVerwGE 153, 183 Rn. 17 f.) erläutert im Einzelnen, dass selbst punktuelle Sonntagsöffnungen wegen der Gefahr eines "Flickenteppichs" einen erheblichen Eingriff in die Betätigung der im betreffenden Gebiet tätigen Gewerkschaft darstellen.

15 Das den Anlass der Anfrage bildende Urteil vom 27. Januar 2021 - 8 C 3.20 -‌ (BVerwGE 171, 242 Rn. 14 f.) übernimmt diese Erwägungen, um den drittschützenden Charakter des § 13 Abs. 3 Nr. 2 Buchst. b ArbZG und den Eingriff in Rechte der klagenden Gewerkschaft zu begründen. Die Erörterung dieses Gesichtspunkts im Rahmen der Klagebefugnis entspricht der aus Randnummer 3 des Urteils ersichtlichen Schwerpunktsetzung des Beteiligtenvorbringens. Die Ausführungen in Randnummer 17, zur Klagebefugnis bedürfe es keiner erheblichen Grundrechtsbeeinträchtigung, grenzen die Anforderungen des § 42 Abs. 2 VwGO von denen der Antragsbefugnis nach § 47 Abs. 2 Satz 1 VwGO ab. Sie enthalten weder Aussagen zu den Voraussetzungen eines Fortsetzungsfeststellungsinteresses gemäß § 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO, noch stellen sie die qualifizierte Grundrechtsbeeinträchtigung der von der Anordnung von Sonntagsarbeit betroffenen Gewerkschaften in Abrede.