Beschluss vom 30.11.2004 -
BVerwG 1 B 48.04ECLI:DE:BVerwG:2004:301104B1B48.04.0

Beschluss

BVerwG 1 B 48.04

  • OVG Berlin-Brandenburg - 14.10.2003 - AZ: OVG 6 B 7.03

In der Verwaltungsstreitsache hat der 1. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 30. November 2004
durch die Vizepräsidentin des Bundesverwaltungsgerichts E c k e r t z - H ö f e r ,
die Richterin am Bundesverwaltungsgericht B e c k und den Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. D ö r i g
beschlossen:

  1. Die Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Urteil des Oberverwaltungsgerichts Berlin vom 14. Oktober 2003 wird zurückgewiesen.
  2. Die Kläger tragen die Kosten des Beschwerdeverfahrens.

Die auf sämtliche drei Zulassungsgründe des § 132 Abs. 2 VwGO gestützte Beschwerde der Kläger hat keinen Erfolg.
1. Die von der Beschwerde erhobene Rüge der nicht vorschriftsmäßigen Besetzung des Berufungsgerichts (§ 132 Abs. 2 Nr. 3 i.V.m. § 138 Nr. 1 VwGO; Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG) ist bereits nicht ordnungsgemäß erhoben. Die Beschwerde rügt, dass bei der Entscheidung der Richter am Verwaltungsgericht B. mitgewirkt habe, der "nach dem vorliegenden Geschäftsverteilungsplan des Oberverwaltungsgerichts Berlin" weder als Mitglied noch als Vertreter des erkennenden (6.) Senates verzeichnet sei. Anhaltspunkte für einen abweichenden Präsidiumsbeschluss nach § 21 e Abs. 3 GVG seien weder bekannt noch sonst wie ersichtlich. Nach den vorliegenden Informationen und Unterlagen müsse davon ausgegangen werden, dass die Teilnahme des Richters B. an der mündlichen Verhandlung nicht dem Geschäftsverteilungsplan entsprochen habe.
Mit diesem Vorbringen ist eine Besetzungsrüge nicht schlüssig erhoben. Hierzu ist nach ständiger Rechtsprechung erforderlich, dass der Beschwerdeführer die einzelnen Tatsachen angibt, aus denen sich die nicht vorschriftsmäßige Besetzung des Gerichts ergibt. Handelt es sich dabei um gerichtsinterne Vorgänge, die ihm nicht ohne weiteres bekannt sind, muss er insoweit eine Aufklärung durch zweckentsprechende Ermittlungen anstreben und ggf. darlegen, dass er sich vergeblich um die Aufklärung dieser Tatsachen bemüht hat. Eine lediglich "auf Verdacht" behauptete nicht vorschriftsmäßige Besetzung reicht insoweit nicht aus (vgl. Beschlüsse vom 26. März 1982 - BVerwG 9 CB 1019.81 - Buchholz 310 § 133 VwGO Nr. 36 und vom 18. Mai 1999 - BVerwG 11 B 37.98 - <juris>). Dass die Beschwerdeführer hier überhaupt zweckdienliche Ermittlungen durch Anfrage beim Gericht über den zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung maßgeblichen Stand der Geschäftsverteilung angestellt hätten, lässt sich der Beschwerde indes nicht entnehmen. Die bloße Vermutung, dass ein Präsidiumsbeschluss nach § 21 e Abs. 3 GVG in der Zwischenzeit nicht ergangen sei, genügt insoweit nicht den Anforderungen an die Darlegung des Zulassungsgrundes nach § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO.
Unabhängig davon liegt eine nicht vorschriftsmäßige Besetzung des Gerichts hier auch nicht vor, weil der Richter am Verwaltungsgericht B. durch den 2. Beschluss des Präsidiums des Oberverwaltungsgerichts Berlin zum Geschäftsverteilungsplan 2003 vom 27. Mai 2003 mit Wirkung vom 1. Juni 2003 dem 6. Senat als Beisitzer zugewiesen worden ist (vgl. Band II Bl. 60 der Gerichtsakte). Soweit die Beschwerde nunmehr, nachdem sie von Seiten des Gerichts von diesem Beschluss in Kenntnis gesetzt worden ist, Zweifel an der Zulässigkeit der Änderung der Geschäftsverteilung während des laufenden Jahres nach § 21 e Abs. 3 GVG erhebt (Schriftsatz vom 27. April 2004), handelt es sich zum einen um verspätetes Vorbringen nach Ablauf der Beschwerdebegründungsfrist und zum anderen wiederum um einen durch nichts belegten Verdacht. Im Übrigen ergibt sich bereits aus der Tatsache, dass die Zuweisung des Richters am Verwaltungsgericht B. an den 6. Senat ersichtlich u.a. wegen des bevorstehenden Ausscheidens der dort tätigen Richterin am Verwaltungsgericht Dr. B. erfolgte, dass insoweit von einer willkürlichen Entscheidung des Präsidiums nicht die Rede sein kann (vgl. zur Überprüfung von Präsidiumsentscheidungen durch das Revisionsgericht: Beschluss vom 18. Mai 1999 - BVerwG 11 B 37.98 - und BSG, Entscheidung vom 27. Juni 2001 - B 6 KA 83/00 B - beide in <juris>).
2. Die Beschwerde rügt ferner, das angefochtene Urteil beruhe auf einem Verfahrensmangel (§ 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO), weil das Berufungsgericht den in der mündlichen Verhandlung gestellten Hilfsbeweisantrag auf Vernehmung des Zeugen B. nicht entsprochen habe. Dieser Zeuge sei zu zwei Aspekten des Verfolgungsschicksals der Kläger benannt worden, nämlich zu den Umständen um den Tod des Kindes der Kläger zu 1 und 2 sowie zum Umfang der Unterstützungstätigkeit des Klägers zu 1 für die PKK. Während das Berufungsgericht das Vorbringen der Kläger bezüglich der Tötung des Kindes als wahr unterstellt habe, habe es hinsichtlich der Unterstützungstätigkeit des Klägers zu 1 "erhebliche Zweifel" geäußert, da der Kläger zu 1 die angeblichen Unterstützungshandlungen für die PKK erst im Laufe des Verfahrens nachgeschoben habe. Da der Zeuge diese Zweifel hätte ausräumen können, hätte das Gericht auf dessen Vernehmung nicht verzichten dürfen. Zumindest hätte es die Ablehnung des Hilfsbeweisantrages ordnungsgemäß begründen müssen.
Der damit sinngemäß geltend gemachte Verstoß gegen die gerichtliche Aufklärungspflicht (§ 86 Abs. 1 VwGO) liegt nicht vor. Während die Voraussetzungen für die Ablehnung eines in der mündlichen Verhandlung unbedingt gestellten Beweisantrags sich aus § 86 Abs. 2 i.V.m. Abs. 1 VwGO ergeben, wird mit einem nur hilfsweise gestellten Beweisantrag lediglich die weitere Erforschung des Sachverhalts nach § 86 Abs. 1 VwGO angeregt (stRspr; vgl. etwa Beschluss vom 10. Juni 1999 - BVerwG 9 B 81.99 - Buchholz 310 § 86 Abs. 1 VwGO Nr. 302 m.w.N.). Die Ablehnung eines Hilfsbeweisantrags kann daher grundsätzlich nur mit der Aufklärungsrüge angegriffen werden. Diese ist nur dann begründet, wenn sich dem Gericht auf der Grundlage seiner Rechtsauffassung eine weitere Beweisaufnahme hätte aufdrängen müssen. Das zeigt die Beschwerde nicht auf.
Das Berufungsgericht hat die hilfsweise beantragte Vernehmung des Zeugen B. nicht für erforderlich gehalten, weil es nach seiner Auffassung auf die Frage der individuellen Verfolgung der Kläger in ihrer Heimatregion vor ihrer Ausreise, zu deren Nachweis der Zeuge benannt war, nicht entscheidungserheblich ankam. Nach Auffassung des Gerichts stand dem Kläger zu 1 schon im Zeitpunkt seiner Ausreise auch bei Wahrunterstellung der von ihm behaupteten Verfolgungsmaßnahmen in seiner Heimatregion eine inländische Fluchtalternative im Westen der Türkei zur Verfügung. Bei den Klägern zu 2 bis 6 war dies nach Ansicht des Gerichts jedenfalls im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung der Fall, weil sie nach den Feststellungen des Gerichts bei einer Rückkehr in den Westen der Türkei dort derzeit hinreichend sicher vor politischer Verfolgung sind und auch sonst keine existenziellen Gefahren zu befürchten haben (UA S. 12 f.). Die so begründete Ablehnung des Beweisantrags ist prozessrechtlich nicht zu beanstanden und hätte im Übrigen auch die Ablehnung eines unbedingten Beweisantrags getragen. Denn eine Beweiserhebung über Umstände, die nach der Rechtsauffassung des Gerichts nicht entscheidungserheblich sind, ist prozessrechtlich unter keinem Gesichtspunkt geboten. Soweit die Beschwerde meint, das Gericht hätte nicht einerseits Zweifel an dem Vortrag des Klägers über seine individuelle Verfolgung äußern, gleichwohl aber die Vernehmung des für die Richtigkeit dieses Vortrags benannten Zeugen ablehnen dürfen, verkennt sie, dass das Berufungsgericht seine Entscheidung letztlich nicht auf die Zweifel an der Richtigkeit des Vorbringens des Klägers zu 1 zu den Vorfällen vor der Ausreise aus der Türkei gestützt hat, sondern dieses - namentlich die mit dem Hilfsbeweisantrag angesprochenen Verhaftungen und dabei erlittenen Misshandlungen wegen der Weigerung, das Dorfschützeramt zu übernehmen - als wahr unterstellt hat.
3. Die Beschwerde rügt ferner, das Berufungsgericht habe das rechtliche Gehör der Kläger verletzt, weil es in seiner Entscheidung letztlich von der teilweisen Unglaubwürdigkeit des Klägers zu 1 ausgegangen sei, ohne entsprechende Hinweise im Erörterungs- oder Verhandlungstermin erteilt zu haben. Wäre diese Einschätzung im Verhandlungstermin mitgeteilt worden, hätte er Gelegenheit gehabt, die Zweifel an seiner Glaubwürdigkeit auszuräumen.
Damit ist eine Gehörsrüge (§ 132 Abs. 2 Nr. 3 i.V.m. § 108 Abs. 2 VwGO, Art. 103 Abs. 1 GG) nicht ordnungsgemäß erhoben. Es fehlt schon an der erforderlichen Darlegung, dass der behauptete Verfahrensmangel sich auf entscheidungserhebliche Ausführungen des Berufungsurteils bezieht. Wie bereits oben zu 2. ausgeführt, hat das Berufungsgericht seine Entscheidung im Ergebnis nicht auf die teilweise Unglaubwürdigkeit oder Unglaubhaftigkeit der Angaben des Klägers zu 1 über sein Verfolgungsschicksal gestützt, sondern darauf, dass ein Anspruch auf Asyl oder Abschiebungsschutz nach § 51 Abs. 1 AuslG wegen der jedenfalls derzeit bestehenden inländischen Fluchtalternative im Westen der Türkei auch dann nicht gegeben sei, wenn man von der Richtigkeit des gesamten Vorbringens der Kläger über ihre Verfolgung vor der Ausreise ausginge. Auf weitere Darlegungsmängel dieser Gehörsrüge braucht daher nicht eingegangen zu werden.
4. Schließlich greift auch die weitere von der Beschwerde erhobene Gehörsrüge wegen "überraschender Tatbestandswürdigung" des Vortrags des Klägers zu 1 über die Verweigerung des Dorfschützeramtes nicht durch. Die Beschwerde bemängelt, dass das Berufungsgericht unter Bezugnahme auf die Anhörung des Klägers zu 1 vor dem Bundesamt angenommen habe, der Kläger zu 1 sei lediglich im Kollektiv mit anderen männlichen Dorfbewohnern zur Übernahme des Dorfschützeramtes gedrängt worden (UA S. 22). Dies sei schon deshalb unzutreffend, weil der Kläger zu 1 in der Anhörung vor dem Bundesamt keine Einzelheiten über die Verweigerung des Dorfschützeramtes durch ihn vorgetragen habe. Bei korrekter Würdigung seines Vorbringens hätte der Kläger zu 1 vielmehr als "individualisierter" Verweigerer des Dorfschützeramtes im Sinne der Rechtsprechung des Oberverwaltungsgerichts Münster in seinem Urteil vom 27. Juni 2002 - 8 A 4782/99.A - angesehen und deshalb als landesweit gefährdet eingestuft werden müssen.
Es kann dahinstehen, ob das Berufungsgericht mit dem Hinweis auf die Anhörung des Klägers zu 1 vor dem Bundesamt im Rahmen der Ausführungen über eine kollektive Verweigerung des Dorfschützeramtes (UA S. 22) das Vorbringen des Klägers zutreffend wiedergegeben hat (vgl. im Übrigen UA S. 11 f.). Denn ein etwa darin liegender Fehler betrifft nicht die entscheidungstragenden Ausführungen des Berufungsurteils und wirkt sich daher im Ergebnis nicht aus. Das Berufungsgericht hat sich nämlich in den nachfolgenden Passagen eingehend auch mit den individuellen Verweigerern des Dorfschützeramtes befasst und ist aufgrund seiner Bewertung der Erkenntnismittel zu der Auffassung gelangt, dass entgegen der Ansicht des Oberverwaltungsgerichts Münster diesem Personenkreis keine landesweite asylerhebliche Verfolgung droht und ihm daher im Westen der Türkei grundsätzlich eine inländische Fluchtalternative zur Verfügung steht. Die Beschwerde räumt im Übrigen selbst ein, dass die Berufungsentscheidung letztlich auf dieser Einschätzung der Verfolgungsgefahr für individuelle Verweigerer des Dorfschützeramtes beruht (Beschwerdebegründung S. 7).
5. Die Beschwerde rügt ferner eine Abweichung von der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 2. Juli 1980 (BVerfGE 54, 341). Sie sieht in dem Umstand, dass das Berufungsgericht für die Kläger zu 2 bis 6 offen gelassen habe, ob für sie im Zeitpunkt der Ausreise eine inländische Fluchtalternative im Westen der Türkei bestanden habe, eine Divergenz zu der genannten Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts. Sie meint, im Hinblick auf den je nach Beantwortung dieser Frage unterschiedlichen Prognosemaßstab hätte das Gericht eine Feststellung dazu treffen müssen, ob die Kläger zu 2 bis 6 unverfolgt oder verfolgt ausgereist seien.
Damit ist eine Divergenz im Sinne des § 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO nicht dargetan, weil die Beschwerde keinen bestimmten abstrakten Rechtssatz aus der Berufungsentscheidung benennt, der zu einem ebensolchen Rechtssatz der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts in Widerspruch steht. Einen Rechtssatz, der in Widerspruch zu den von der Rechtsprechung entwickelten unterschiedlichen Prognosemaßstäben bei vorverfolgt und nicht vorverfolgt ausgereisten Asylsuchenden steht, hat das Berufungsgericht aber weder ausdrücklich noch konkludent aufgestellt. Seine Feststellung, dass die Kläger zu 2 bis 6 bei einer Rückkehr in den Westen der Türkei jedenfalls derzeit vor politischer Verfolgung hinreichend sicher wären und ihnen dort auch keine anderen Nachteile und Gefahren drohten, die nach ihrer Intensität und Schwere einer asylerheblichen Rechtsbeeinträchtigung aus politischen Gründen gleichkämen, genügen dem im Falle einer Vorverfolgung anzulegenden herabgestuften Prognosemaßstab. Eine Abweichung von den vom Bundesverfassungsgericht und Bundesverwaltungsgericht aufgestellten Grundsätzen zum asylrechtlichen Prognosemaßstab liegt mithin nicht vor. Soweit die Beschwerde in diesem Zusammenhang beanstandet, das Berufungsgericht habe nur auf Gruppenverfolgungsaspekte, nicht aber auf die Individualverfolgung der Kläger zu 2 bis 6 abgestellt, rügt sie allenfalls eine fehlerhafte Rechtsanwendung im Einzelfall, nicht aber einen grundsätzlichen Rechtssatzwiderspruch, wie es für die Zulassung wegen Divergenz nach § 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO erforderlich ist.
6. Die von der Beschwerde schließlich geltend gemachte grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache gemäß § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO kann ebenfalls nicht zur Zulassung der Revision führen. Diese Bestimmung setzt voraus, dass eine klärungsfähige und klärungsbedürftige R e c h t s frage aufgeworfen wird. Eine solche lässt sich der Beschwerde nicht entnehmen. Die Beschwerde hält die Frage für grundsätzlich bedeutsam, ob auch solche Verweigerer des Dorfschützeramtes, bei denen sich der Verdacht "individualisiert" hat, asylrechtlich nicht gefährdet sind. Sie meint diese Frage sei von grundsätzlicher Bedeutung, weil es hierzu voneinander abweichende obergerichtliche Rechtsprechung gebe. Dies reicht für die Annahme einer Grundsatzbedeutung allerdings nicht aus. Denn die unterschiedliche obergerichtliche Rechtsprechung bezieht sich auf die Feststellung und Bewertung der tatsächlichen Verhältnisse in der Türkei und damit auf eine Tatsachenfrage, die der Klärung in einem Revisionsverfahren nicht zugänglich ist.
Von einer weiteren Begründung wird abgesehen (§ 133 Abs. 5 Satz 2 Halbsatz 2 VwGO).
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO. Gerichtskosten werden gemäß § 83 b Abs. 1 AsylVfG a.F. (= § 83 b AsylVfG i.d.F. des Kostenrechtsmodernisierungsgesetzes vom 5. Mai 2004, BGBl I S. 718) nicht erhoben; der Gegenstandswert ergibt sich aus § 83 b Abs. 2 AsylVfG a.F. (vgl. § 60 RVG).