Beschluss vom 19.04.2016 -
BVerwG 6 B 3.16ECLI:DE:BVerwG:2016:190416B6B3.16.0

  • Zitiervorschlag

    BVerwG, Beschluss vom 19.04.2016 - 6 B 3.16 - [ECLI:DE:BVerwG:2016:190416B6B3.16.0]

Beschluss

BVerwG 6 B 3.16

  • VG Braunschweig - 21.01.2014 - AZ: VG 6 A 110/12
  • OVG Lüneburg - 06.10.2015 - AZ: OVG 2 LB 279/14

In der Verwaltungsstreitsache hat der 6. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 19. April 2016
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Neumann und die Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Möller und Hahn
beschlossen:

  1. Die Beschwerde der Beklagten gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Urteil des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts vom 6. Oktober 2015 wird zurückgewiesen.
  2. Die Beklagte trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
  3. Der Wert des Streitgegenstandes wird auf 7 500 € festgesetzt.

Gründe

I

1 Der Kläger studierte ab dem Wintersemester 2005/2006 in dem von der Beklagten, der Technischen Universität B., und der Hochschule für Bildende Künste B. gemeinsam durchgeführten Magister-Studiengang Medienwissenschaften, der mit dem Wintersemester 2011/2012 ausgelaufen ist. Eine erste Magisterarbeit des Klägers galt wegen nicht fristgerechter Abgabe als mit "nicht ausreichend" bewertet. Mit Bescheid vom 13. Januar 2012 stellte die Beklagte fest, dass eine zweite Magisterarbeit mangels fristgerechter Anmeldung ebenfalls als mit "nicht ausreichend" bewertet gelte und die Magisterprüfung endgültig nicht bestanden sei. Den Widerspruch des Klägers gegen diesen Bescheid wies die Beklagte unter dem 4. April 2012 zurück. Das Verwaltungsgericht hat die genannten Bescheide aufgehoben und die Beklagte verpflichtet, den Kläger zur Magisterprüfung zuzulassen, sobald die Voraussetzungen des die Zulassung zur Magisterprüfung regelnden § 17 der seinerzeitigen Magisterprüfungsordnung der Beklagten vorlägen. Auf die Berufung der Beklagten hat das Oberverwaltungsgericht das erstinstanzliche Urteil geändert und die Klage mit dem auf eine Verpflichtung der Beklagten auf Zulassung des Klägers zur (Wiederholung der) Magisterprüfung gerichteten Begehren abgewiesen. Hingegen hat das Oberverwaltungsgericht die Berufung der Beklagten zurückgewiesen, was die seiner Einschätzung nach von der Klage umfasste Anfechtung der Entscheidung über das endgültige Nichtbestehen der Magisterprüfung anbelangt. Das Verwaltungsgericht habe den Bescheid vom 13. Januar 2012 und den Widerspruchsbescheid vom 4. April 2012 zu Recht aufgehoben, weil dem Kläger für die Anmeldung zu der zweiten Magisterarbeit keine ordnungsgemäße Frist gesetzt worden sei, es bei Erlass der Bescheide an einer Rechtsgrundlage für die Feststellung des endgültigen Nichtbestehens der Magisterprüfung wegen nicht fristgerechter Anmeldung zu der zweiten Magisterarbeit gemangelt habe und dieser Mangel auch nicht nachträglich durch § 9 der seit Januar 2015 geltenden gemeinsamen Prüfungsordnung der Beklagten und der Hochschule für Bildende Künste für Studierende des Magisterstudiengangs mit Hauptfach Medienwissenschaften, der eine entsprechende Regelung des Nichtbestehens enthält, geheilt worden sei. Das Oberverwaltungsgericht hat die Revision gegen sein Urteil nicht zugelassen. Hiergegen richtet sich die Beschwerde der Beklagten.

II

2 Die auf die Revisionszulassungsgründe der Divergenz nach § 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO (1.) und des Verfahrensmangels im Sinne des § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO (2.) gestützte Beschwerde hat keinen Erfolg.

3 1. Die Revision ist nicht wegen Divergenz gemäß § 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO zuzulassen. Dieser Zulassungsgrund ist erfüllt, wenn die Vorinstanz mit einem ihre Entscheidung tragenden abstrakten Rechtssatz in Anwendung derselben Rechtsvorschrift einem ebensolchen Rechtssatz, der in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts, des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts aufgestellt worden ist, widersprochen hat. Gemäß § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO ist die Abweichung in der Beschwerdebegründung darzulegen. Den Ausführungen der Beklagten lassen sich die Merkmale einer solchen die Revision eröffnenden Abweichung nicht entnehmen.

4 a) Die Beklagte verweist auf das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 27. April 1990 - 8 C 70.88 - (Buchholz 310 § 74 VwGO Nr. 9 S. 5) und die darin enthaltene Aussage, dass bei der Auslegung von Prozesserklärungen die für die Auslegung von Willenserklärungen des bürgerlichen Rechts geltenden Rechtsgrundsätze der §§ 133, 157 BGB anzuwenden sind. Sie beruft sich ferner auf die Ausführungen in den Beschlüssen des Bundesverwaltungsgerichts vom 29. August 1989 - 8 B 9.89 - (Buchholz 310 § 88 VwGO Nr. 17 S. 1) und vom 5. März 1998 - 7 B 325.97 - (juris Rn. 4) sowie in dem Urteil vom 15. April 2015 - 8 C 14.14 - (BVerwGE 152, 26 Rn. 30), denen zufolge ein Gericht bei der Antragsauslegung nach § 88 VwGO nicht an die Stelle dessen, was ein Beteiligter erklärtermaßen will, dasjenige setzen darf, was er zur Verwirklichung seines Bestrebens wollen sollte. Die Beklagte meint, das Oberverwaltungsgericht habe in Widerspruch hierzu den Rechtssatz aufgestellt, dass immer dann, wenn in einer Klage die Formulierung "unter Aufhebung des Widerspruchsbescheides in Gestalt des Ausgangsbescheides" auftauche und logisch eine Anfechtungssituation vorliege, eine Anfechtungsklage angenommen werden müsse. Dies ist indes nicht der Fall. Das Oberverwaltungsgericht ist vielmehr der Sache nach von den genannten Maßgaben in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ausgegangen, indem es festgestellt hat, dass der Kläger nicht genau zwischen dem Vorgehen gegen die in dem Bescheid vom 13. Januar 2012 enthaltene Entscheidung über das endgültige Nichtbestehen der Magisterprüfung einerseits und dem sinngemäßen Begehren auf Zulassung zur Wiederholung der Prüfung andererseits unterschieden habe, und vor dem Hintergrund dieser Feststellung das Klagebegehren - auch - im Sinne einer Anfechtungsklage ausgelegt hat (UA S. 9). Ob diese Auslegung in ihrem konkreten Ergebnis richtig war, ist für den Revisionszulassungsgrund des § 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO unerheblich. Denn eine Divergenz ist nicht gegeben, wenn ein als solcher nicht in Frage gestellter Rechtssatz im Einzelfall nicht zutreffend angewandt worden sein sollte.

5 b) Aus dem gleichen Grund geht auch die weitere Divergenzrüge ins Leere, die die Beklagte im Hinblick auf die Prüfung erhebt, auf deren Grundlage das Oberverwaltungsgericht die für § 9 Abs. 1 und 2 der Magisterprüfungsordnung für Studierende des Magisterstudiengangs mit Hauptfach Medienwissenschaften vom Januar 2015 vorgesehene echte Rückwirkung zum 1. Januar 2010 als unzulässig angesehen hat. Die Beklagte bezieht sich auf den Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 17. Dezember 2013 - 1 BvL 5/08 - (BVerfGE 135, 1 Rn. 61 ff.) sowie das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 30. Oktober 2014 - 2 C 7.13 - (juris Rn. 80) und die dort aufgeführten anerkannten Fallgruppen, in denen mangels eines gerechtfertigten Vertrauens der Bürger auf eine bestimmte Rechtslage eine Ausnahme von der Unzulässigkeit einer echten Rückwirkung von belastenden Normen in Betracht kommt. Die Beklagte hebt hervor, dass nach dieser Rechtsprechung die besagten Fallgruppen nicht abschließend sind. Sie ist der Auffassung, das Oberverwaltungsgericht habe in Abweichung hiervon seinem Urteil als Rechtssatz die Annahme eines abschließenden Charakters der Fallgruppen zu Grunde gelegt. Dass dem nicht so ist, erkennt die Beklagte im Ansatz selbst. Denn sie führt zutreffend aus, dass das Oberverwaltungsgericht die Maßstäbe der herangezogenen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und des Bundesverwaltungsgerichts übernommen hat. Indes hat das Oberverwaltungsgericht entgegen der fehlgehenden Einschätzung der Beklagten dadurch, dass es in der Folge den Sachverhalt des vorliegenden Falles nur nach den Maßstäben der seiner Einschätzung nach in Betracht kommenden zwei Fallgruppen einer ausnahmsweise zulässigen Rückwirkung ausdrücklich geprüft hat, nicht den abstrakten Rechtssatz aufgestellt, dass diese Fallgruppen Teile eines abschließenden Kanons seien. Es hat lediglich Erwägungen, denen es keine Relevanz beigemessen hat, beiseitegelassen. Ob dies im Ergebnis zu Recht geschehen ist, kann bei der Behandlung des Revisionszulassungsgrunds der Divergenz unerörtert bleiben.

6 2. Mit ihrer Verfahrensrüge kann die Beklagte ebenfalls nicht durchdringen. Aus der Beschwerdebegründung ergibt sich nicht, dass das angefochtene Urteil unter einem Verfahrensmangel im Sinne des § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO leidet.

7 a) Die Beklagte macht geltend, das Oberverwaltungsgericht habe das Gebot zur Gewährung rechtlichen Gehörs aus § 108 Abs. 2 VwGO, Art. 103 Abs. 1 GG verletzt, weil es Vortrag nicht berücksichtigt habe, den sie im Berufungsverfahren zu der Passivlegitimation der Beklagten, zu einem rechtsmissbräuchlichen Verhalten des Klägers, zu einer von diesem begangenen Täuschung sowie zur Bedeutung der Aufforderung des Klägers durch die zuständige Prüfungsausschussvorsitzende, sich sofort bei dem Prüfungsamt zu melden, angebracht habe.

8 Das Gebot, rechtliches Gehör zu gewähren, verpflichtet das Gericht, das Vorbringen jedes Beteiligten bei seiner Entscheidung in Erwägung zu ziehen. Dies bedeutet allerdings nicht, dass das Gericht das gesamte Vorbringen der Beteiligten in den Urteilsgründen behandeln muss. Vielmehr sind nach § 108 Abs. 1 Satz 2 VwGO in dem Urteil nur diejenigen tatsächlichen und rechtlichen Gründe anzugeben, die für die richterliche Überzeugung leitend gewesen sind. Daher kann aus dem Umstand, dass das Gericht einen Aspekt des Vorbringens eines Beteiligten in den Urteilsgründen nicht erwähnt hat, nur dann geschlossen werden, es habe diesen Aspekt nicht in Erwägung gezogen, wenn er nach dem materiell-rechtlichen Rechtsstandpunkt des Gerichts eine Frage von zentraler Bedeutung betrifft (stRspr; vgl. etwa m.w.N.: BVerwG, Beschluss vom 27. Januar 2015 - 6 B 43.14 - Buchholz 421.0 Prüfungswesen Nr. 421 Rn. 25). Hieran gemessen, zeigen die Darlegungen der Beklagten einen Gehörsverstoß nicht auf.

9 Die Frage der von der Beklagten vor dem Hintergrund des hochschulübergreifend betriebenen Studiengangs Medienwissenschaften problematisierten Passivlegitimation der Beklagten hat das Oberverwaltungsgericht gesehen und - soweit für seine Entscheidung erforderlich - der Sache nach bejaht. Es hat im Tatbestand seines Urteils festgestellt, der Kläger habe "nur" gegen die Beklagte Klage erhoben (UA S. 4). In den Entscheidungsgründen hat es bei dem geprüften Anfechtungsbegehren die alleinige Maßgeblichkeit der Magisterprüfungsordnung der Beklagten betont (UA S. 12, vgl. auch S. 14). Mit einem Verpflichtungsbegehren konnte der Kläger nach Einschätzung des Oberverwaltungsgerichts unabhängig von der Frage der Passivlegitimation der Beklagten schon wegen des Fehlens einer entsprechenden Antragstellung im Verwaltungsverfahren nicht durchdringen (UA S. 15).

10 Die von der Beklagten geäußerte Ansicht, der Kläger handele rechtsmissbräuchlich, wenn er sich auf das Fehlen einer normativen Grundlage für ein Nichtbestehen der Prüfung wegen nicht fristgerechter Anmeldung der zweiten Magisterarbeit berufe, obwohl er zuvor auf eine Verlängerung der entsprechenden Frist gedrungen habe, hat das Oberverwaltungsgericht zur Kenntnis genommen und verworfen. Es hat den entsprechenden Vortrag der Beklagten im Tatbestand seines Urteils zusammengefasst (UA S. 7). In den Entscheidungsgründen ist es ihm mit der Erwägung entgegengetreten, dass es zwar einerseits ein Entgegenkommen der Beklagten gegenüber dem Kläger dargestellt habe, diesem zunächst die Möglichkeit einzuräumen, sich trotz Fristablaufs noch mit der zweiten Magisterarbeit anzumelden, und dem Kläger auch das Laufen von Fristen laienhaft bekannt gewesen sei, dass jedoch andererseits die Beklagte keine genaue Nachfrist gesetzt habe und die laienhafte Fristenkenntnis des Klägers die fehlende Rechtsgrundlage für die Feststellung des Nichtbestehens der Prüfung nicht ersetzen könne (UA S. 9, 12). Es liegt auf der Hand, dass das Oberverwaltungsgericht zu dieser Beurteilung in der Sache nur gelangen konnte, weil es den Aspekt des Rechtsmissbrauchs auch im Zusammenhang mit dem Rechtsschutzbedürfnis des Klägers als nicht durchgreifend erachtet hat.

11 Die Rüge der Beklagten, das Oberverwaltungsgericht habe ihren Vortrag unberücksichtigt gelassen, das Verhalten des Klägers stelle eine Täuschung im Sinne des § 9 Abs. 4 der vormaligen Magisterprüfungsordnung dar, geht ebenfalls fehl. Das Oberverwaltungsgericht hat vielmehr in den Entscheidungsgründen zunächst den ersten Absatz dieser Vorschrift in den Blick genommen und sodann festgestellt, dass auch die anderen Vorschriften dieser Prüfungsordnung den vorliegenden Fall nicht erfassten (UA S. 11). Mit dieser Wendung können nur die weiteren Absätze des § 9 der in Rede stehenden Prüfungsordnung gemeint sein, da das Oberverwaltungsgericht unmittelbar anschließend als weitere eigenständige Vorschrift die Bestimmung des § 22 geprüft hat.

12 Schließlich hat das Oberverwaltungsgericht, anders als die Beklagte meint, in die Entscheidungsgründe seines Urteils den Vortrag der Beklagten aufgenommen, die Prüfungsausschussvorsitzende habe dem Kläger aufgegeben, sich für die Wiederholung der Magisterarbeit sofort bei dem Prüfungsamt zu melden. Das Oberverwaltungsgericht hat allerdings - wie bereits erwähnt - dem Verwaltungsvorgang auch entnommen, dass dem Kläger die Möglichkeit eingeräumt worden ist, sich trotz des Fristablaufs noch mit der zweiten Magisterarbeit anzumelden. Hieraus hat das Oberverwaltungsgericht auf eine Fristverlängerung geschlossen (UA S. 9).

13 b) Soweit die Beklagte mit ihrer Einlassung, sie sei sich nicht sicher, ob das Oberverwaltungsgericht im Zusammenhang mit der Aufforderung des Klägers durch die Prüfungsausschussvorsitzende, sich sofort bei dem Prüfungsamt zu melden, den Sachverhalt richtig erfasst habe, eine Verletzung des Überzeugungsgrundsatzes nach § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO geltend machen möchte, hätte sie die Darlegungsanforderungen des § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO verfehlt. Danach muss ein Verfahrensmangel sowohl in den ihn vermeintlich begründenden Tatsachen als auch in seiner rechtlichen Würdigung substantiiert dargetan werden (BVerwG, Beschluss vom 19. August 1997 - 7 B 261/97 - Buchholz 310 § 133 <n.F.> VwGO Nr. 26 S. 14). Bloße Vermutungen reichen hierfür nicht aus.

14 3. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO. Die Festsetzung des Streitwerts beruht auf § 47 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 3, § 52 Abs. 1 GKG.