Urteil vom 02.02.2023 -
BVerwG 2 WD 3.22ECLI:DE:BVerwG:2023:020223U2WD3.22.0

  • Zitiervorschlag

    BVerwG, Urteil vom 02.02.2023 - 2 WD 3.22 - [ECLI:DE:BVerwG:2023:020223U2WD3.22.0]

Urteil

BVerwG 2 WD 3.22

  • TDG Nord 4. Kammer - 28.10.2021 - AZ: N 4 VL 08/20

In dem gerichtlichen Disziplinarverfahren hat der 2. Wehrdienstsenat des Bundesverwaltungsgerichts in der nichtöffentlichen Hauptverhandlung am 2. Februar 2023, an der teilgenommen haben:
Vorsitzender Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Häußler,
Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Burmeister,
Richterin am Bundesverwaltungsgericht Dr. Henke,
ehrenamtlicher Richter Oberstleutnant Schröder und
ehrenamtlicher Richter Stabsgefreiter Buller,
Leitender Regierungsdirektor ...
als Vertreter des Bundeswehrdisziplinaranwalts,
Rechtsanwalt ...
als Verteidiger,
Geschäftsstellenverwalterin ...
als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle,
für Recht erkannt:

  1. Auf die Berufung der Wehrdisziplinaranwaltschaft wird das Urteil der 4. Kammer des Truppendienstgerichts Nord vom 28. Oktober 2021 geändert.
  2. Der Soldat wird aus dem Dienstverhältnis entfernt.
  3. Der Soldat trägt die Kosten des Verfahrens einschließlich der ihm darin erwachsenen notwendigen Auslagen.

Gründe

I

1 Der disziplinarische Vorwurf besteht in dem unerlaubten Fernbleiben vom Dienst.

2 Der ... geborene Soldat hat eine Ausbildung zum Beton- und Stahlbetonbauer erfolgreich absolviert und verfügt über den Realschulabschluss. 2012 trat er den Dienst in der Bundeswehr an und wurde in das Dienstverhältnis eines Soldaten auf Zeit berufen. Zuletzt wurde er 2016 zum Oberstabsgefreiten befördert. Seine Dienstzeit hätte regulär Ende März 2024 ihren Abschluss gefunden.

3 Der Soldat wurde zum Juli 2012 zur .../...bataillon ... und zum Oktober 2014 zur .../...regiment ... versetzt. Auf Antrag wurde er aus gesundheitlichen Gründen zum April 2017 zur Logistikschule der Bundeswehr versetzt. Dort wurde er bis zu seiner vorläufigen Dienstenthebung im April 2019, mit der auch ein Uniformtrageverbot und der Einbehalt von 25 Prozent seiner Dienstbezüge angeordnet wurde, im Bereich ... sowie als Kraftfahrer CE eingesetzt.

4 Der Soldat wurde nicht förmlich beurteilt. Erstinstanzlich hat der frühere Disziplinarvorgesetzte, Hauptmann B., den Soldaten als diszipliniert und militärisch korrekt auftretend beschrieben. Er verfüge über ein sehr gutes militärisches Wissen und erhebliche Erfahrungen. Seine Aufgaben habe er stets zur vollsten Zufriedenheit ausgeführt. Aufgaben, die nicht sein Fachgebiet betroffen hätten, habe er zwar nicht gerne, aber doch korrekt erledigt. In seiner Vergleichsgruppe gehöre er zum oberen Drittel, wenn auch nicht zur Spitze. Für junge Mannschaftsdienstgrade sei er ein Vorbild gewesen, insbesondere da er Fallschirmjäger gewesen sei und dies auch mit Waffengattungsstolz gezeigt habe. Während er vor dem Vorfall extrovertiert gewesen sei, habe er sich danach eher zurückgehalten. Leistungsmäßig habe er sich nach Bekanntwerden des Fehlverhaltens weiter gesteigert. Stabsfeldwebel P., früherer Zugführer des Soldaten, hat diesen leistungsmäßig im oberen Drittel bis Mittelfeld eingeordnet und ihn als motiviert beschrieben. Wegen seiner Ausbildung und Erfahrung seien ihm Zusatzaufgaben zugewiesen worden, die er engagiert wahrgenommen habe. Hauptfeldwebel der Reserve J. beschreibt ihn ebenfalls als leistungsstark und zuverlässig.

5 Dem Soldaten wurde die Einsatzmedaille der Bundeswehr anlässlich der Flutkatastrophe im Jahr 2013 verliehen. Er ist berechtigt, das Fallschirmspringerabzeichen in Bronze (Stufe 1) sowie die Schützenschnur in Gold (Stufe III) zu tragen.

6 Die aktuelle Auskunft aus dem Zentralregister weist als Eintrag das zum Anschuldigungszeitraum Nr. 16 sachgleiche rechtskräftige Strafurteil des Amtsgerichts ... vom 14. August 2019 aus, mit dem der Soldat wegen eigenmächtiger Abwesenheit zu einer Geldstrafe verurteilt worden war. Der aktuelle Auszug aus dem Disziplinarbuch enthält keinen Eintrag.

7 Im Januar 2023 wurde gegen den Soldaten ein weiteres gerichtliches Disziplinarverfahren wegen Verstoßes gegen die politische Treuepflicht eingeleitet. Das staatsanwaltschaftliche Ermittlungsverfahren dazu wurde eingestellt.

8 Der Soldat ist seit dem 16. Juni 2017 verheiratet und Vater eines am 11. November 2017 geborenen Sohnes. In seiner Freizeit engagiert er sich als stellvertretender Ortsbrandmeister bei der Freiwilligen Feuerwehr.

9 Er erhält monatlich Bruttodienstbezüge von etwa 2 900 €, wovon ihm - unter Abzug des angeordneten Einbehalts - gut 2 200 € ausbezahlt werden. Durch eine genehmigte Nebentätigkeit verdient er monatlich 450 € hinzu. Seine Ehefrau verdient im Einzelhandel monatlich zwischen 700 € und 800 €. Neben den laufenden Kosten zahlt der Soldat monatlich Miete in Höhe von 720 € sowie für die Kindertagesstätte 50 €.

II

10 1. Auf der Grundlage des mit Verfügung des Kommandeurs des ...kommandos der Bundeswehr vom 21. Februar 2019 eingeleiteten und des mit Anschuldigungsschrift der Wehrdisziplinaranwaltschaft für den Bereich des Logistikkommandos (Wehrdisziplinaranwaltschaft) vom 7. Februar 2020 betriebenen gerichtlichen Disziplinarverfahrens hat die 4. Kammer des Truppendienstgerichts ... den Soldaten mit Urteil vom 28. Oktober 2021 in den Dienstgrad eines Obergefreiten herabgesetzt.

11 a) Der Soldat sei zwischen dem 8. August 2017 und dem 6. September 2018 seinem Dienst in der ...schule der Bundeswehr in ... in achtzehn angeschuldigten Fällen, nämlich
am 08.08.2017 für zwei Stunden;
vom 06.09. bis 08.09.2017;
am 13.09.2017 für zweieinhalb Stunden;
am 19.09.2017;
am 22.09.2017;
vom 09.10. bis 11.10.2017;
am 09.11.2017;
am 01.12.2017;
am 15.12.2017;
am 05.01.2018;
am 19.01.2018;
am 14.02.2018;
am 01.03.2018;
am 12.06.2018;
am 27.07.2018;
vom 17.08. bis 22.08.2018;
am 31.08.2018 für zwei Stunden; und
am 06.09.2018
ganztägig und an drei Tagen stundenweise ferngeblieben, wobei er in einem Fall auch wehrstrafrechtlich relevant eigenmächtig abwesend gewesen sei. Dadurch habe er schuldhaft und vorsätzlich gegen seine Pflichten verstoßen, treu zu dienen sowie der Achtung und dem Vertrauen gerecht zu werden, die sein Dienst als Soldat erfordere. Denn der Soldat sei - unabhängig von der konkreten Vorgehensweise - unerlaubt dem Dienst ferngeblieben. In den Fällen, in denen der Disziplinarvorgesetzte zwar den Urlaubs- bzw. Dienstzeitausgleichsantrag abgezeichnet und damit den Antrag formal genehmigt habe, könne sich der Soldat auf keine Genehmigung berufen, weil ihr mangels Außenwirkung keine Rechtsverbindlichkeit zugekommen sei. Die Genehmigung sei unter dem inneren Vorbehalt einer ordnungsgemäßen Dokumentation erfolgt.

12 Ausweislich der Urlaubskarteikarte habe der Soldat Ende 2017 über elf Tage und Ende 2018 über neunzehn Tage Resturlaub verfügt.

13 b) Bei vorsätzlich länger dauernder oder - wie vorliegend - wiederholter eigenmächtiger Abwesenheit sowie bei Fahnenflucht sei die Entfernung aus dem Dienstverhältnis indiziert. Auf der zweiten Stufe sei indes ein niedrigerer Schweregrad festzustellen, der zur Abweichung davon führe. Zwar sei bei Bemessung der Disziplinarmaßnahme erschwerend zu gewichten, dass der Schwerpunkt der Verfehlung in der Verletzung der Pflicht zum treuen Dienen liege, die zu den zentralen Pflichten eines Soldaten gehöre. Darüber hinaus habe der vorsätzlich und eigennützig handelnde Soldat gegen seine Pflicht zur Loyalität gegenüber der Rechtsordnung verstoßen, weil er in einem Fall auch kriminelles Unrecht im Sinne von § 15 Abs. 1 WStG begangen habe. Das Dienstvergehen sei des Weiteren durch den "... Kurier" in der Öffentlichkeit bekannt gemacht worden und der Soldat habe vorläufig des Dienstes enthoben werden müssen. Mildernd schlage indes durch, dass der Soldat die Urlaubs- und Dienstzeitausgleichstage nur habe "sparen" wollen, um sich besser um seine Familie kümmern zu können. Insoweit liege der Fall anders als in den Fällen einer Dienstentziehung durch Täuschung. Die Auswirkungen des Dienstvergehens auf den Dienstbetrieb seien auch weniger gravierend gewesen als dies regelmäßig der Fall sei. Die Aufgaben des Soldaten hätten von keinem anderen Kameraden übernommen werden müssen und es sei auch nicht zu Mehrbelastungen gekommen. Der Bruch mit dem Dienstherrn sei nach alledem nicht endgültig gewesen und habe nicht aus einer inneren Abkehr vom Dienst resultiert. Dem entspreche, dass der Soldat immer freiwillig zum Dienst zurückgekehrt sei und keine wiederholte strafbare eigenmächtigen Abwesenheit vorliege. Die Abwesenheiten hätten sich zudem auf Zeiten geringerer Auslastung, die den Soldaten aus seiner Sicht nicht in den Konflikt mit seinen konkreten Aufgaben gebracht hätten, beschränkt.

14 Die Fehlzeiten hätten sich ferner im September und Oktober 2017 auf die Zeiten einer besonderen psychischen Ausnahmesituation konzentriert, da es Komplikationen in der Schwangerschaft gegeben habe, die das Leben und die Gesundheit des Kindes und der Mutter gefährdet hätten. Der Soldat habe sich der Ehefrau gegenüber auch besonders verantwortlich gefühlt, weil er im Gegensatz zu ihr das Kind gewollt habe. Auch während der späteren Zeiträume sei der Soldat belastet gewesen, da er sich den Forderungen seiner Ehefrau hilflos ausgesetzt gesehen habe und er sie nicht habe verlieren wollen. Das in der Einheit praktizierte System der Urlaubs- und Dienstzeitausgleichsgewährung habe es erleichtert, eine ordnungsgemäße Eintragung in der Urlaubskarteikarte zu vermeiden. Die Tatentschlüsse seien spontan und nicht geplant erfolgt. Dabei sei die Hemmschwelle zur Begehung des Dienstvergehens relativ gering gewesen. Spätestens nachdem das Fehlverhalten des Soldaten in einem Fall 2017 bekannt geworden sei, hätte es von Seiten der Einheit Maßnahmen bedurft, um Wiederholungen auszuschließen. Hinzu komme, dass die Karriereoptionen des Soldaten als Fallschirmjäger durch einen Dienstunfall zunichtegemacht worden seien, er ein umfängliches Geständnis abgelegt habe und sein Fehlverhalten aufrichtig bereue. Zwar sei er zur Tatzeit 27 Jahre bzw. 28 Jahre alt und kein Heranwachsender, gleichwohl aber wenig lebens- bzw. beziehungserfahren gewesen. Er sei zudem gut beleumundet und nachbewährt. Dies alles rechtfertige den Übergang zur milderen Maßnahmeart der Dienstgradherabsetzung, wobei die überlange Verfahrensdauer eine Herabsetzung um nur drei Dienstgrade gebiete.

15 2. Die von der Wehrdisziplinaranwaltschaft zu Lasten des Soldaten eingelegte Berufung ist auf die Maßnahmebemessung beschränkt und im Wesentlichen damit begründet worden, dass einige Milderungsgründe nicht vorlägen und somit die Höchstmaßnahme auszusprechen sei.

16 3. Hinsichtlich der Einzelheiten zur Person des Soldaten, zur Anschuldigung und zur Begründung des erstinstanzlichen Urteils wird auf die im Berufungsverfahren eingeführten Unterlagen sowie auf das Protokoll der Berufungshauptverhandlung Bezug genommen.

III

17 Die zulässige Berufung der Wehrdisziplinaranwaltschaft ist begründet.

18 1. Aufgrund der Tat- und Schuldfeststellungen des Truppendienstgerichts steht für den Senat bindend fest, dass der Soldat die erstinstanzlich festgestellten Pflichtverletzungen begangen und dadurch vorsätzlich gegen die Wohlverhaltenspflicht (§ 17 Abs. 2 Satz 1 SG) sowie gegen die Dienstpflicht zum treuen Dienen (§ 7 SG) verstoßen hat. Denn bei einer - wie vorliegend - auf die Bemessung der Disziplinarmaßnahme beschränkten Berufung hat der Senat seiner Entscheidung gemäß § 91 Abs. 1 Satz 1 WDO i. V. m. § 327 StPO grundsätzlich die Tat- und Schuldfeststellungen sowie die disziplinarrechtliche Würdigung des Truppendienstgerichts zugrunde zu legen und auf dieser Grundlage über die angemessene Disziplinarmaßnahme zu befinden. Der Prozessstoff wird somit nicht mehr von der Anschuldigungsschrift, sondern nur von den Tat- und Schuldfeststellungen des angefochtenen Urteils bestimmt.

19 a) Etwas anderes gilt nur, wenn die erstinstanzliche Entscheidung an schweren Mängeln des Verfahrens (im Sinne von § 120 Abs. 1 Nr. 2, § 121 Abs. 2 WDO) leidet. Als schwerwiegender Mangel des Verfahrens ist u. a. das Fehlen von ausreichenden und widerspruchsfreien Feststellungen zur Tat- und Schuldfrage anerkannt. Denn Voraussetzung für die im Berufungsverfahren zu treffende Entscheidung über die angemessene Disziplinarmaßnahme ist, dass die durch die Beschränkung der Berufung unangreifbar gewordenen Tat- und Schuldfeststellungen hinreichend nachvollziehbar, in sich schlüssig und widerspruchsfrei sind. Unklare, lückenhafte oder widersprüchliche Feststellungen können somit keine ausreichende Grundlage für das festzusetzende Disziplinarmaß sein (BVerwG, Urteil vom 15. Oktober 2020 - 2 WD 1.20 - BVerwGE 169, 388 Rn. 20).

20 b) Nach Maßgabe dessen bestehen zwar Bedenken an der Rechtsauffassung des Truppendienstgerichts, der Soldat sei auch in der Fallkonstellation unerlaubt dem Dienst ferngeblieben, in der er zuvor die Genehmigung seines Disziplinarvorgesetzten erhalten, sie aber nicht der Geschäftsstelle übermittelt habe. Denn es ist zweifelhaft, ob es der Genehmigung dadurch an einer zur Rechtswirksamkeit führenden "Außenwirkung" fehlt; stellt doch § 43 Abs. 1 Satz 1 VwVfG für die Wirksamkeit eines Verwaltungsakts auf dessen Bekanntgabe an den Adressaten ab (vgl. Tegethoff, in: Kopp/Ramsauer, VwVfG, 23. Aufl. 2022, § 41 Rn. 7a - 10). Auch dürfte die Annahme eines ausnahmsweise beachtlichen inneren Vorbehalts (§ 116 Satz 2 BGB analog) mit § 43 Abs. 1 Satz 2 VwVfG eher unvereinbar sein. Allein durch eine möglicherweise falsche rechtliche Würdigung werden erstinstanzliche Tatsachen- und Schuldfeststellungen jedoch noch nicht widersprüchlich (BVerwG, Urteil vom 15. Oktober 2020 - 2 WD 1.20 - BVerwGE, 169, 388 Rn. 21 m. w. N.). Der Soldat selbst hat gegen das Urteil im Übrigen auch keine Berufung eingelegt (BVerwG, Urteil vom 14. Mai 2020 - 2 WD 12.19 - Buchholz 450.2 § 38 WDO 2002 Nr. 76 Rn. 10).

21 c) Dabei steht nach der Senatsrechtsprechung ebenfalls fest, dass die Bindungswirkung eines teilrechtskräftigen Urteiles bei einer beschränkt eingelegten Berufung auch die konkreten Straftatbestände erfasst, aus denen das Truppendienstgericht einen auch strafrechtlich begründeten Verstoß gegen die Treuepflicht - wie vorliegend gegen § 15 Abs. 1 WStG - abgeleitet hat (vgl. BVerwG, Urteile vom 23. April 2015 - 2 WD 7.14 - juris Rn. 33 sowie vom 3. Dezember 2020 - 2 WD 4.20 - Buchholz 450.2 § 38 WDO 2002 Nr. 88 Rn. 29 f. m. w. N.).

22 2. Bei Art und Maß der zu verhängenden Disziplinarmaßnahme sind nach § 123 Satz 3 i. V. m. § 58 Abs. 7 i. V. m. § 38 Abs. 1 WDO Eigenart und Schwere des Dienstvergehens und seine Auswirkungen, das Maß der Schuld, die Persönlichkeit, die bisherige Führung und die Beweggründe des Soldaten zu berücksichtigen. Insoweit legt der Senat ein zweistufiges Prüfungsschema zugrunde. Es führt dazu, dass der Soldat gemäß § 58 Abs. 1 Nr. 5, § 63 WDO aus dem Dienstverhältnis zu entfernen ist.

23 a) Auf der ersten Stufe ist zwecks Gleichbehandlung vergleichbarer Fälle sowie im Interesse der Rechtssicherheit und Voraussehbarkeit der Disziplinarmaßnahme eine Regelmaßnahme für die in Rede stehende Fallgruppe als Ausgangspunkt der Zumessungserwägungen zu bestimmen. Für Fälle des vorsätzlichen eigenmächtigen Fernbleibens eines Soldaten von der Truppe ist dies bei kürzerer unerlaubter Abwesenheit grundsätzlich eine Dienstgradherabsetzung; bei länger dauernder, wiederholter eigenmächtiger Abwesenheit oder Fahnenflucht wiegt das Dienstvergehen so schwer, dass es regelmäßig die Höchstmaßnahme indiziert (BVerwG, Urteil vom 16. Juli 2020 - 2 WD 16.19 - Buchholz 450.2 § 38 WDO 2002 Nr. 81 Rn. 13 m. w. N.). Danach bildet Ausgangspunkt der Zumessungserwägungen die Höchstmaßnahme, weil der frühere Soldat in 15 Fällen und somit wiederholt dem Dienst ganztägig unerlaubt ferngeblieben ist (BVerwG, Urteile vom 8. Oktober 2020 - 2 WD 22.19 - Buchholz 450.2 § 38 WDO 2002 Nr. 85 Rn. 14 und vom 15. Juli 2021 - 2 WD 6.21 - juris Rn. 38 m. w. N.).

24 b) Auf der zweiten Stufe ist zu prüfen, ob im Einzelfall im Hinblick auf die genannten Bemessungskriterien des § 38 Abs. 1 WDO und die Zwecksetzung des Wehrdisziplinarrechts Umstände vorliegen, die eine Milderung oder Verschärfung gegenüber der auf der ersten Stufe in Ansatz gebrachten Regelmaßnahme gebieten. Dabei ist zu klären, ob es sich angesichts der be- und entlastenden Umstände um einen schweren, mittleren oder leichten Fall der schuldhaften Pflichtverletzung handelt. Liegt kein mittlerer, sondern ein höherer bzw. niedrigerer Schweregrad vor, ist gegenüber dem Ausgangspunkt der Zumessungserwägungen die zu verhängende Disziplinarmaßnahme - soweit möglich - nach "oben" bzw. nach "unten" zu modifizieren (BVerwG, Urteil vom 18. Juli 2019 - 2 WD 19.18 - BVerwGE 166, 189 Rn. 31).

25 Da Milderungsgründe umso gewichtiger sein müssen je schwerer ein Dienstvergehen wiegt (BVerwG, Urteil vom 24. Oktober 2019 - 2 WD 25.18 - juris Rn. 19 m. w. N.), liegt bei Abwägung aller be- und entlastenden Umstände des vorliegenden Falls kein minderschwerer Fall vor. Vielmehr kann dem Soldaten das notwendige Vertrauen in die ordnungsgemäße Pflichterfüllung objektiv betrachtet nicht mehr entgegengebracht werden (BVerwG, Urteil vom 5. Dezember 2019 - 2 WD 29.18 - Buchholz 449 § 46 SG Nr. 23 Rn. 28 m. w. N.). Im Einzelnen:

26 aa) Das Dienstvergehen wirkt außerordentlich schwer.

27 Durch sein unerlaubtes Fernbleiben hat der Soldat die nach § 7 SG bestehende Pflicht zum treuen Dienen vorsätzlich verletzt. Sie gehört zu den zentralen Pflichten eines Soldaten, deren Verletzung von erheblicher Bedeutung ist. Ein Soldat, der der Truppe unerlaubt fernbleibt, versagt im Kernbereich seiner Dienstpflichten. Die Bundeswehr kann die ihr obliegenden Aufgaben nur dann erfüllen, wenn nicht nur das innere Gefüge der Streitkräfte so gestaltet ist, dass sie ihren militärischen Aufgaben gewachsen ist, sondern auch ihre Angehörigen jederzeit präsent und einsatzbereit sind. Der Dienstherr muss sich darauf verlassen können, dass jeder Soldat seinen Pflichten zur Verwirklichung des Verfassungsauftrages der Bundeswehr nachkommt und alles unterlässt, was dessen konkreter Wahrnehmung zuwiderläuft. Dazu gehören insbesondere die Pflichten zur Anwesenheit und gewissenhaften Dienstleistung. Die Verletzung dieser Pflicht berührt nicht nur die Einsatzbereitschaft der Truppe, sondern erschüttert auch die Grundlagen des Dienstverhältnisses selbst (BVerwG, Urteil vom 15. Juli 2021 - 2 WD 6.21 - juris Rn. 32).

28 Zugleich hat der Soldat damit - wie vom Truppendienstgericht in Übereinstimmung mit dem Amtsgericht für den Senat bindend angenommen - nach § 15 Abs. 1 WStG vorsätzlich eine Straftat verwirklicht und auch dadurch gegen die Pflicht zum treuen Dienen verstoßen, da sie die Verpflichtung zur Loyalität gegenüber der geltenden Rechtsordnung, vor allem die Beachtung der Strafgesetze, einschließt (BVerwG, Urteile vom 1. Februar 2012 - 2 WD 1.11 - Buchholz 449 § 7 SG Nr. 57 Rn. 50 ff. und vom 15. Juli 2021 - 2 WD 6.21 - juris Rn. 33).

29 Hinzu tritt der Verstoß gegen § 17 Abs. 2 Satz 1 SG, weil dem Verhalten des Soldaten unabhängig von anderen Pflichtverstößen die Eignung zur Ansehensminderung innewohnt. Die Achtungs- und die Vertrauenswürdigkeit eines Soldaten können durch sein Verhalten schon dann Schaden nehmen, wenn es Zweifel an seiner Zuverlässigkeit weckt oder seine Eignung für die jeweilige Verwendung in Frage stellt. Für die Feststellung eines solchen Verstoßes reicht es aus, dass das Verhalten des Soldaten geeignet war, eine ansehensschädigende Wirkung auszulösen (vgl. BVerwG, Urteil vom 2. November 2017 - 2 WD 3.17 - juris Rn. 50). Dies ist der Fall, zumal das Verhalten des Soldaten in der Einheit und - ausweislich des Berichts im "...-Kurier" – auch in der Öffentlichkeit publik geworden ist (BVerwG, Urteil vom 15. Juli 2021 - 2 WD 6.21 - juris Rn. 35).

30 Erschwerend kommt hinzu, dass das Dienstvergehen - anders als vom Truppendienstgericht angenommen - durchaus erhebliche nachteilige Auswirkungen hatte. Zum einen wurde der Soldat trotz seiner unerlaubten Abwesenheiten weiter alimentiert, ohne dass dem Dienstherrn seine Arbeitskraft zur Verfügung stand (BVerwG, Urteil vom 8. Oktober 2020 - 2 WD 22.19 - Buchholz 450.2 § 38 WDO 2002 Nr. 85 Rn. 19); zum anderen kam es später zur vorläufigen Dienstenthebung.

31 Der Soldat war zudem - ausweislich der durch Verlesen in die Berufungshauptverhandlung eingeführten Aussagen der glaubwürdigen Zeugen J. und W. – bereits 2017/Anfang 2018 durch sie auf sein Fehlverhalten hingewiesen worden und hat gleichwohl sein pflichtwidriges Verhalten unter Fassung jeweils neuer Tatentschlüsse fortgesetzt, wodurch er eine besondere Renitenz in der Verletzung seiner Dienstpflichten bewiesen hat.

32 Erschwerend wirkt sich ebenfalls aus, dass ihm sowohl 2017 wie auch 2018 noch erheblicher regulärer Erholungsurlaub - insgesamt 30 Tage - zugestanden hat. Deutlich wird dadurch auch, dass der Soldat sich in keiner seelischen Ausnahmesituation befunden hat, die als Milderungsgrund in den Umständen zu gewichten wäre. Denn dies setzt voraus, dass die Situation von so außergewöhnlichen Besonderheiten geprägt gewesen ist, dass von einem Soldaten ein an normalen Maßstäben orientiertes Verhalten nicht mehr erwartet werden kann (vgl. BVerwG, Urteile vom 16. Oktober 2002 - 2 WD 23.01 , 32.02 - BVerwGE 117, 117 <124> und vom 8. Oktober 2020 - 2 WD 22.19 - Buchholz 450.2 § 38 WDO 2002 Nr. 85 Rn. 30). Gegen eine derartige Zuspitzung der - von ihm lediglich behaupteten - familiären Probleme während des sich über zwei Jahre erstreckenden Tatzeitraums spricht nicht nur der Bestand an legal beanspruchbarem Resturlaub, sondern auch die erstinstanzliche Einlassung des Soldaten, im Büro habe es keine Aufträge gegeben und bevor er dort nur rumsitze, habe er seine Frau unterstützen wollen. Der Soldat war folglich durchaus noch in der Lage, die von seinem Verhalten betroffenen dienstlichen und privaten Interessen abzuwägen. Dabei kann seine Einschätzung, auf dem Dienstposten - nach Ablösung von der Funktion als Fallschirmspringer - tendenziell nicht gefordert gewesen zu sein, rechtlich keine Anerkennung finden. Denn ein Soldat hat die ihm übertragenen Aufgaben auch dann zu erfüllen, wenn er dadurch deutlich weniger gefordert wird als bisher oder er die Sinnhaftigkeit der Aufgabenerledigung nicht zu erkennen vermag. Mit Phasen geringerer Arbeitszufriedenheit muss jeder Angehörige des öffentlichen Dienstes rechnen. Diese Umstände begründen keine außergewöhnlichen, das Fernbleiben vom Dienst rechtfertigenden Gründe (BVerwG, Urteil vom 15. Juli 2021 - 2 WD 6.21 - juris Rn. 46).

33 Die durchgreifenden Zweifel am Bestehen einer seelischen Ausnahmesituation werden zudem dadurch verstärkt, dass der Soldat bereits die dafür erforderlichen Tatsachen trotz entsprechender Aufforderung vor der Berufungshauptverhandlung nicht konkretisiert hat (vgl. BVerwG, Urteil vom 8. Oktober 2020 - 2 WD 22.19 - Buchholz 450.2 § 38 WDO 2002 Nr. 85 Rn. 30). Außerdem hat er auch noch nach der Geburt seines Sohnes (am 11. November 2017) über weitere zehn Monate Pflichtverletzungen in Form von unerlaubten Abwesenheiten begangen und damit erst aufgehört, als er nach Meldung durch einen anderen Soldaten (2018) überführt worden ist.

34 bb) Den erschwerenden Umständen stehen auch keine sonstigen für den Soldaten sprechenden Umstände gegenüber, die geeignet wären, erstere zu kompensieren.

35 Die Tat war nicht von jugendlicher Unreife geprägt. Der Soldat war bei der Tatbegehung volljährig und mit 27 Jahren nicht mehr Heranwachsender, sodass nach § 105 Abs. 1 JGG keine Milderungsmöglichkeit besteht. Ebenfalls nicht ersichtlich ist, dass die Tat ein jugendtypisches Gepräge aufweist, insbesondere auf jugendlichem Leichtsinn, Unüberlegtheit oder soziale Unreife zurückgeht (BVerwG, Urteil vom 18. Juli 2019 - 2 WD 19.18 - BVerwGE 166, 189 Rn. 36 ff.).

36 Ebensowenig liegt ein Mitverschulden von Vorgesetzten in Form mangelhafter Dienstaufsicht vor. Dieser Milderungsgrund steht einem Soldaten nur zur Seite, wenn er der Dienstaufsicht bedarf, z. B. in einer Überforderungssituation, die ein hilfreiches Eingreifen des Vorgesetzten erforderlich macht (BVerwG, Urteil vom 28. März 2019 - 2 WD 13.18 - Buchholz 450.2 § 38 WDO 2002 Nr. 62 Rn. 31 m. w. N.). Es bedurfte vorliegend indes keines hilfreichen Eingreifens der Dienstaufsicht, damit der Soldat erkennen konnte, zum Dienst erscheinen zu müssen, solange ihn sein Disziplinarvorgesetzter von der Dienstleistungspflicht nicht aktenkundig entbunden hatte (BVerwG, Urteil vom 15. Juli 2021 - 2 WD 6.21 - juris Rn. 44). Gerade die Vorgehensweisen des Soldaten belegen, dass er sich der dienstrechtlichen Unzulässigkeit seines Verhaltens bewusst gewesen ist.

37 Auch eine Fürsorgepflichtverletzung des Dienstherrn liegt nicht vor (BVerwG, Urteil vom 15. Juli 2021 - 2 WD 6.21 - juris Rn. 45). Vielmehr steht nach den Aussagen der Zeugen J. und W. fest, dass der Soldat 2017, spätestens Anfang 2018 wegen seines früheren Gehens vom Dienst ausdrücklich auf die Pflichtwidrigkeit dessen hingewiesen worden ist (vgl. dazu BVerwG, Urteil vom 28. September 2018 - 2 WD 14.17 - Buchholz 449 § 11 SG Nr. 3 Rn. 92). Dass die Zeugen aus vermeintlicher Kameradschaft davon abgesehen haben, den Vorfall dem Disziplinarvorgesetzten zu melden, ist nicht dem Dienstherrn zuzurechnen. Ebensowenig wirkt zugunsten des Soldaten, dass der Dienstherr bei der Arbeitszeiterfassung auf die korrekte Angabe der Soldaten vertraute; er durfte dies grundsätzlich, da für sie in dienstlichen Angelegenheiten gemäß § 13 Abs. 1 SG eine Wahrheitspflicht besteht. Dass der Soldat immer wieder freiwillig zum Dienst zurückgekehrt ist und nicht durch Feldjäger dem Dienst zugeführt werden musste, bildet keinen mildernden Umstand. Feldjägereinsätze wären vielmehr erschwerend zu berücksichtigen gewesen. Das Nichtvorliegen eines erschwerenden Umstands ist kein Milderungsgrund (BVerwG, Urteil vom 15. Juli 2021 - 2 WD 6.21 - juris Rn. 54).

38 Allerdings ist bei der Beurteilung der Persönlichkeit des früheren Soldaten zu seinen Gunsten zu gewichten, dass er bislang ordnungsgemäßen Dienst geleistet und sich in den ersten Jahren seiner Soldatenlaufbahn dem durchaus anspruchsvollen Dienst eines Fallschirmjägers gestellt hat. Diesen Dienst hat er wohl auch mit Freude ausgeübt. Herausragende Verdienste sind indes nicht festzustellen. Auch der Umstand, dass er sich eine Sprungverletzung zugezogen hat, begründet keinen besonderen Milderungsgrund. Der Dienstherr hat dem dadurch Rechnung getragen, dass er den Soldaten heimatnah versetzt und ihm eine seinen Befähigungen entsprechende Verwendung ermöglicht hat.

39 Auch das ehrenamtliche Engagement des Soldaten in der freiwilligen Feuerwehr seines Wohnorts spricht für ihn. Ferner können die erstinstanzlich bekundete Reue und die vorinstanzlich geständigen Einlassungen des Soldaten, mildernd berücksichtigt werden, obwohl ihnen wegen der vorhergehenden Überführung kein besonderes Gewicht mehr beigemessen werden kann (vgl. BGH, Beschluss vom 24. Mai 2022 - 4 StR 72/22 - NStZ 2023, 95 = juris Rn. 7 m. w. N.). Diese Umstände verfügen indes nicht über das Gewicht, die erschwerenden Umstände zu kompensieren. Vielmehr weicht der vorliegende Sachverhalt nicht in entscheidungserheblicher Weise vom Regelfall einer wiederholten unerlaubten Abwesenheit vom Dienst ab. Im vorliegenden Fall zeigt auch die Reaktion der Vorgesetzten des Soldaten, dass ihr Vertrauen in seine Zuverlässigkeit - wie typischerweise in diesen Fällen - durch sein wiederholtes und hier auch strafbares Fernbleiben vom Dienst zerstört worden ist.

40 cc) Ist das Vertrauen in den Soldaten aber zerstört und deswegen die Höchstmaßnahme zu verhängen, kann eine - etwaige - überlange Verfahrensdauer ebensowenig maßnahmemildernde Wirkungen entfalten (vgl. BVerwG, Urteile vom 5. Dezember 2019 - 2 WD 29.18 - Buchholz 449 § 46 SG Nr. 23 Rn. 28 und vom 15. Juli 2021 - 2 WD 6.21 - Rn. 56) wie besondere Leistungen oder eine etwaige Nachbewährung (BVerwG, Urteile vom 6. September 2012 - 2 WD 26.11 - DokBer 2013, 57 Rn. 73 und vom 14. Februar 2019 - 2 WD 18.18 - Rn. 40). Der Senat sieht auch keinen Anlass, von dieser Rechtsauffassung abzuweichen, da es dem Soldaten auch bei einer Entfernung aus dem Dienst unbenommen bleibt, für die nachteiligen Folgen einer etwaig überlangen Verfahrensdauer nach § 91 Abs. 1 Satz 3 WDO i. V. m. § 198 ff. GVG Entschädigung zu verlangen (vgl. BVerwG, Urteil vom 16. Juli 2020 - 2 WD 16.19 - Buchholz 450.2 § 38 WDO 2002 Nr. 81 Rn. 20).

41 3. Die Kostenentscheidung folgt aus § 139 Abs. 1 Satz 2, Halbs. 1 WDO. Es liegen keine Gründe vor, die es im Sinne des § 140 Abs. 3 Satz 3 WDO unbillig erscheinen ließen, den Soldaten mit den ihm im Rechtsmittelverfahren erwachsenen notwendigen Auslagen zu belasten.