Verfahrensinformation

Der Kläger wurde 1979 in Deutschland geboren und ist seit 1995 im Besitz einer unbefristeten Aufenthaltserlaubnis. Er wurde im September 2000 wegen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln unter Einbeziehung einer früheren Strafe zu einer Jugendstrafe von einem Jahr und 10 Monaten ohne Bewährung verurteilt und kurz nach dieser Verurteilung von der Polizei mit einer kleinen Menge Marihuana aufgegriffen. Mit seiner erstinstanzlich erfolgreichen Klage wendet er sich gegen seine im Oktober 2001 verfügte Ausweisung. Der Verwaltungsgerichtshof Mannheim hat die Klage im Berufungsverfahren abgewiesen und insbesondere einen Verstoß gegen Europäisches Gemeinschaftsrecht verneint. Eine Anwendung von Bestimmungen der Richtlinie 64/221/EWG auf türkische Staatsangehörige komme nicht in Betracht. In dem Revisionsverfahren werden die gemeinschaftsrechtlichen Anforderungen an die Ausweisung eines in Deutschland geborenen türkischen Staatsangehörigen zu prüfen sein. Das Bundesverwaltungsgericht wird hierbei zu berücksichtigen haben, dass der EuGH in einem Urteil vom 2. Juni 2005 (C-136/03) inzwischen entschieden hat, dass Garantien der Richtlinie 64/221/EWG jedenfalls für solche türkischen Staatsangehörigen gelten, die sich auf eine Rechtsstellung nach Art. 6 oder Art. 7 des Beschlusses Nr. 1/80 des Assoziationsrates vom 19. September 1980 über die Entwicklung der Assoziation berufen können.


Verfahrensinformation

Der Kläger wurde 1979 in Deutschland geboren und ist seit 1995 im Besitz einer unbefristeten Aufenthaltserlaubnis. Er wurde im September 2000 wegen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln unter Einbeziehung einer früheren Strafe zu einer Jugendstrafe von einem Jahr und 10 Monaten ohne Bewährung verurteilt und kurz nach dieser Verurteilung von der Polizei mit einer kleinen Menge Marihuana aufgegriffen. Mit seiner erstinstanzlich erfolgreichen Klage wendet er sich gegen seine im Oktober 2001 verfügte Ausweisung. Der Verwaltungsgerichtshof Mannheim hat die Klage im Berufungsverfahren abgewiesen und insbesondere einen Verstoß gegen Europäisches Gemeinschaftsrecht verneint. Eine Anwendung von Bestimmungen der Richtlinie 64/221/EWG auf türkische Staatsangehörige komme nicht in Betracht. In dem Revisionsverfahren werden die gemeinschaftsrechtlichen Anforderungen an die Ausweisung eines in Deutschland geborenen türkischen Staatsangehörigen zu prüfen sein. Der Senat wird hierbei zu berücksichtigen haben, dass der EuGH in einem Urteil vom 2. Juni 2005 (C-136/03) inzwischen entschieden hat, dass Garantien der Richtlinie 64/221/EWG jedenfalls für solche türkischen Staatsangehörigen gelten, die sich auf eine Rechtsstellung nach Art. 6 oder Art. 7 des Beschlusses Nr. 1/80 des Assoziationsrates vom 19. September 1980 über die Entwicklung der Assoziation berufen können.


Pressemitteilung Nr. 50/2005 vom 06.10.2005

Fehlerhafte Ausweisungspraxis bei türkischen Staatsangehörigen

Das Bundesverwaltungsgericht in Leipzig hat heute eine vom Regierungspräsidium Stuttgart verfügte Ausweisung eines türkischen Staatsangehörigen in Anwendung von europäischem Gemeinschaftsrecht wegen eines unheilbaren Verfahrensfehlers für rechtswidrig erklärt. Geklagt hatte ein 1979 in Berlin als Kind türkischer Arbeitnehmer geborener türkischer Staatsangehöriger, der ein Aufenthaltsrecht nach dem Assoziationsabkommen zwischen der Europäischen Gemeinschaft und der Türkei (nach Art. 7 ARB 1/80) besitzt. Im September 2000 wurde er in Stuttgart u.a. wegen Handeltreibens mit Haschisch zu einer Einheitsjugendstrafe von einem Jahr und zehn Monaten verurteilt und deshalb im Oktober 2001 vom Regierungspräsidium - unter Anordnung des später vom Verwaltungsgericht aufgehobenen Sofortvollzugs - ausgewiesen. Seit der Entlassung aus dem Jugendstrafvollzug im April 2002 lebt der Kläger wieder bei seiner Familie in Stuttgart.


Mit der heutigen Entscheidung hat das Bundesverwaltungsgericht erneut die Ausweisungspraxis in Baden-Württemberg beanstandet. In diesem Bundesland sind seit 1999 für Ausweisungen von Straftätern - auch von freizügigkeitsberechtigten Unionsbürgern und assoziationsberechtigten türkischen Staatsangehörigen - nur noch die Regierungspräsidien als einzige Verwaltungsinstanz zuständig; das Widerspruchsverfahren ist abgeschafft worden. Diese Verfahrensweise ist, wie das Bundesverwaltungsgericht erst kürzlich entschieden hat (vgl. Presseerklärung Nr. 46 vom 13. September 2005), mit den derzeitigen gemeinschaftsrechtlichen Vorgaben (Art. 9 der Richtlinie 64/221/EWG) nicht vereinbar, es sei denn, es hätte ausnahmsweise ein "dringender Fall" vorgelegen. Für einen solchen Ausnahmefall bestanden hier keine Anhaltspunkte, zumal bereits das Verwaltungsgericht die sofortige Vollziehung der Ausweisung gestoppt hatte und der Kläger daher auch nicht aus der Haft heraus in die Türkei abgeschoben werden konnte.


Das Bundesverwaltungsgericht hat auch den Einwand des Regierungspräsidiums zurückgewiesen, der Kläger könne sich auf die europarechtlichen Verfahrensgarantien nicht berufen, weil sein aus Assoziationsrecht abgeleitetes Aufenthaltsrecht auf jeden Fall durch die Verbüßung der Jugendstrafe wieder erloschen sei. Es hat insoweit auf die inzwischen eindeutige Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften in Luxemburg (EuGH) verwiesen. Danach bestehen die Aufenthaltsrechte freizügigkeitsberechtigter Unionsbürger und assoziationsberechtigter türkischer Staatsangehöriger grundsätzlich auch bei längerer Strafhaft fort. Das Bundesverwaltungsgericht hat außerdem darauf hingewiesen, dass die Erwägung des Regierungspräsidiums in dem angefochtenen Bescheid, die Ausweisung habe "ergänzend" auch aus generalpräventiven Gründen verfügt werden dürfen, mit dem Gemeinschaftsrecht unvereinbar ist. Das Gemeinschaftsrecht lässt eine Ausweisung ausnahmslos nur aus spezialpräventiven Gründen zu, d.h. zum Schutz der Allgemeinheit vor Gefahren, die von dem einzelnen Ausländer persönlich ausgehen, nicht aber zur (generalpräventiven) Abschreckung anderer Ausländer.


BVerwG 1 C 5.04 - Urteil vom 06.10.2005


Urteil vom 06.10.2005 -
BVerwG 1 C 5.04ECLI:DE:BVerwG:2005:061005U1C5.04.0

Leitsätze:

1. Die Ausweisung eines nach dem ARB 1/80 aufenthaltsberechtigten türkischen Staatsangehörigen ist wegen eines unheilbaren Verfahrensfehlers rechtswidrig, wenn die Verfahrensanforderungen aus Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 64/221/EWG

- hier: wegen Abschaffung des Widerspruchsverfahrens - nicht eingehalten werden (im Anschluss an das Urteil vom 13. September 2005 - BVerwG 1 C 7.04 -, zur Veröffentlichung in BVerwGE vorgesehen).

2. Auch eine längere Strafhaft berührt die Rechte aus Art. 7 Satz 1 zweiter Spiegelstrich ARB 1/80 nicht (im Anschluss an EuGH, Urteil vom 11. November 2004 - Rs. C-467/02 -, Cetinkaya, und Urteil vom 7. Juli 2005 - Rs. C-373/03 -, Aydinli).

3. Das Gemeinschaftsrecht lässt eine Ausweisung ausnahmslos nur aus spezialpräventiven Gründen zu, d.h. zum Schutz der Allgemeinheit vor Gefahren, die von dem einzelnen Ausländer persönlich ausgehen, nicht aber - tragend oder auch nur mittragend - zur (generalpräventiven) Abschreckung anderer Ausländer.

  • Rechtsquellen
    AuslG §§ 45, 46, 47, 48
    AufenthG §§ 53, 54, 55, 56
    Richtlinie 64/221/EWG Art. 9
    Beschluss Nr. 1/80 des Assoziationsrats
    EWG-Türkei über die Entwicklung der
    Assoziation - ARB 1/80 - Art. 6, 7, 14

  • VGH Mannheim - 27.01.2004 - AZ: VGH 10 S 1610/03 -
    VGH Baden-Württemberg - 27.01.2004 - AZ: VGH 10 S 1610/03

  • Zitiervorschlag

    BVerwG, Urteil vom 06.10.2005 - 1 C 5.04 - [ECLI:DE:BVerwG:2005:061005U1C5.04.0]

Urteil

BVerwG 1 C 5.04

  • VGH Mannheim - 27.01.2004 - AZ: VGH 10 S 1610/03 -
  • VGH Baden-Württemberg - 27.01.2004 - AZ: VGH 10 S 1610/03

In der Verwaltungsstreitsache hat der 1. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
auf die mündliche Verhandlung vom 6. Oktober 2005
durch die Vizepräsidentin des Bundesverwaltungsgerichts E c k e r t z - H ö f e r ,
die Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. M a l l m a n n und H u n d ,
die Richterin am Bundesverwaltungsgericht B e c k sowie
den Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. D ö r i g
für Recht erkannt:

  1. Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Verwaltungs-gerichtshofs Baden-Württemberg vom 27. Januar 2004 geändert. Die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Stuttgart vom 8. Oktober 2002 wird, soweit das Verfahren noch anhängig ist (Ausweisung), zurückgewiesen.
  2. Der Beklagte trägt auch die Kosten des Berufungs- und des Revisionsverfahrens.

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