Verfahrensinformation

Asylrecht;


hier: Drittstaaten-Verfahren (Ungarn)


Urteil vom 07.09.2021 -
BVerwG 1 C 3.21ECLI:DE:BVerwG:2021:070921U1C3.21.0

Berücksichtigung von Hilfe- und Unterstützungsleistungen nichtstaatlicher Organisationen bei der Prognose materieller Lebensverhältnisse im Abschiebungszielstaat

Leitsatz:

Unterstützungsleistungen vor Ort tätiger nichtstaatlicher Hilfeorganisationen sind bei der Prognose zu berücksichtigen, ob international Schutzberechtigte im Mitgliedstaat der Zuerkennung der ernsthaften Gefahr ausgesetzt sein werden, eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne von Art. 4 GRC zu erfahren, weil sie unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not leben müssen, die es ihnen nicht erlaubt, ihre elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen.

  • Rechtsquellen
    AEUV Art. 267 Abs. 1
    AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 2, § 77 Abs. 1, § 83b
    AufenthG § 11 Abs. 1, § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1
    EMRK Art. 3
    GG Art. 1 Abs. 1, Art. 2 Abs. 1, Art. 16a Abs. 2 Satz 1
    GRC Art. 4
    RL 2011/95/EU Art. 34
    RL 2013/32/EU Art. 33 Abs. 2 Buchst. a, Art. 34 Abs. 1
    VwGO § 101 Abs. 2, § 108 Abs. 1 Satz 1, § 125 Abs. 1 Satz 1, § 133 Abs. 3, § 134 Abs. 4, § 137 Abs. 2, § 141 Satz 1, § 144 Abs. 1

  • VG Frankfurt (Oder) - 13.11.2020 - AZ: VG 10 K 1594/18.A

  • Zitiervorschlag

    BVerwG, Urteil vom 07.09.2021 - 1 C 3.21 - [ECLI:DE:BVerwG:2021:070921U1C3.21.0]

Urteil

BVerwG 1 C 3.21

  • VG Frankfurt (Oder) - 13.11.2020 - AZ: VG 10 K 1594/18.A

In der Verwaltungsstreitsache hat der 1. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 7. September 2021
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Berlit, die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Fricke,
den Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Fleuß,
die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Dr. Rudolph und
den Richter am Bundesverwaltungsgericht Böhmann
ohne mündliche Verhandlung für Recht erkannt:

  1. Die Revision der Kläger gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Frankfurt/Oder vom 13. November 2020 wird zurückgewiesen.
  2. Die Kläger tragen die Kosten des Revisionsverfahrens je zur Hälfte.

Gründe

I

1 Die Kläger wenden sich gegen die Ablehnung ihrer Asylanträge als unzulässig und die Androhung ihrer Abschiebung nach Ungarn.

2 Die Kläger sind - nach eigenen Angaben 1989 bzw. 1991 geborene - afghanische Staatsangehörige tadschikischer Volkszugehörigkeit und miteinander verheiratet. Sie beantragten - nach Asylanträgen zunächst in Ungarn und dann der Schweiz - Anfang Juni 2018 bei dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) Asyl. Ein an sie gerichtetes Aufnahmeersuchen lehnte die schweizerische Asylverwaltung unter Verweis darauf ab, dass die Kläger seit Januar 2018 in Ungarn als subsidiär Schutzberechtigte anerkannt seien. Bei den persönlichen Gesprächen zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaates sowie ihren persönlichen Anhörungen zur Klärung der Zulässigkeit der gestellten Asylanträge gaben die Kläger an, dass ihre Asylanträge in Ungarn und in der Schweiz abgelehnt worden seien. In Ungarn seien sie unangemessen behandelt und in einer Abschiebeeinrichtung inhaftiert worden. Auf Anfrage des Bundesamtes bestätigten die ungarischen Behörden, dass die Kläger in Ungarn internationalen Schutz erhalten hätten.

3 Mit Bescheid vom 18. Juni 2018 lehnte das Bundesamt daraufhin die Asylanträge nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG als unzulässig ab (Ziffer 1), stellte es fest, dass Abschiebungsverbote gemäß § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen (Ziffer 2), forderte es die Kläger zum Verlassen der Bundesrepublik Deutschland innerhalb von 30 Tagen nach Bekanntgabe der Entscheidung bzw. nach unanfechtbarem Abschluss des Asylverfahrens auf, drohte es ihnen für den Fall nicht fristgerechter Ausreise die Abschiebung nach Ungarn bzw. in einen anderen Staat, in den sie einreisen dürfen oder der zu ihrer Rücknahme verpflichtet ist, an, stellte es aber fest, dass sie nicht in die Islamische Republik Afghanistan abgeschoben werden dürfen (Ziffer 3), und befristete es das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG (a.F.) auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung (Ziffer 4). Die Asylanträge der Kläger seien aufgrund der Zuerkennung subsidiären Schutzes in Ungarn unzulässig. Dort drohe ihnen weder Folter noch relevante unmenschliche oder erniedrigende Behandlung; wegen der Zuerkennung subsidiären Schutzes sei eine erneute Inhaftierung nicht zu besorgen. Insbesondere begründeten die derzeitigen humanitären Bedingungen für in Ungarn anerkannte Schutzberechtigte keine Verletzung des Art. 3 EMRK.

4 Mit dem angefochtenen Urteil vom 13. November 2020 bestätigte das Verwaltungsgericht in Auseinandersetzung mit dem ergänzenden Vorbringen der Kläger seinen die Klage abweisenden Gerichtsbescheid vom 11. September 2020, weil die Kläger in Ungarn als subsidiär Schutzberechtigte anerkannt seien und ihnen dort keine ernsthafte Gefahr drohe, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung im Sinne des Art. 4 GRC ausgesetzt zu werden.

5 Die jedenfalls derzeitige Situation international Schutzberechtigter in Ungarn sei mit den unionsrechtlichen Mindeststandards vereinbar. International Schutzberechtigten stünden in Ungarn die gleichen sozialen Ansprüche und Rechte wie ungarischen Staatsangehörigen zu. Als junge, gesunde und damit uneingeschränkt arbeitsfähige Erwachsene ohne Unterhaltsverpflichtungen könnten die Kläger eine Arbeitsstelle finden und auf diesem Wege für ihren Lebensunterhalt sorgen. Eine quasi ausweglose Situation könne bei ihnen nicht prognostiziert werden. Es sei vielmehr zu erwarten, dass sie aus eigenen Kräften und gegebenenfalls mithilfe der in Ungarn tätigen, hierin durch das sog. Stop-Soros-Gesetz nicht gefährdeten Leistungen nichtstaatlicher Hilfsorganisationen einer ernsthaften und lebensbedrohlichen Armut entgehen könnten. Zur Erfüllung unionsrechtlicher Mindeststandards genüge es, wenn international Schutzberechtigte in Ungarn mithilfe nichtstaatlicher Hilfsorganisationen sowie eigener Erwerbstätigkeit ein Auskommen einschließlich Obdach, Verpflegung sowie unabweisbarer medizinischer Versorgung finden könnten.

6 Das Fehlen staatlicher Integrationsmaßnahmen für anerkannt Schutzberechtigte in Ungarn begründe ebenfalls weder generell noch in Anbetracht der besonderen Umstände für international Schutzberechtigte einen Verstoß gegen Art. 4 GRC bzw. Art. 3 EMRK. Die Kläger müssten bei einer Rückkehr nach Ungarn jedenfalls aufgrund der effektiven Arbeit von Hilfsorganisationen nicht ernsthaft befürchten, in extrem prekäre Verhältnisse zu geraten. Sie könnten außerdem schon von Deutschland aus mit den Hilfsorganisationen Kontakt aufnehmen. Es sei davon auszugehen, dass sie in Ungarn Unterstützung bei der Wohnungs- und Arbeitssuche, beim Erlernen der ungarischen Sprache, erforderlichenfalls bei diversen Anträgen auf Sozialleistungen sowie finanzielle Überbrückungshilfe bis zur Arbeitsaufnahme erhalten würden. Angesichts der relativ geringen Anzahl von in Ungarn anerkannten Schutzberechtigten sei es hinreichend gesichert, dass die Kläger, wenn sie sich darum bemühten, von Hilfsorganisationen tatsächlich Unterstützung erhalten würden. Daneben seien kirchliche Hilfeleistungen erreichbar, die sich wiederum der Hilfe von Nichtregierungsorganisationen bedienten. Nach den dem Gericht vorliegenden Erkenntnismaterialien funktioniere das nichtstaatliche Aufnahmesystem für international Schutzberechtigte in Ungarn und wirke sich die staatliche Verhinderungspolitik auf die Kläger allenfalls mittelbar aus.

7 Die Corona-Pandemie begründe ebenfalls keine ernsthafte Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung der Kläger. Da den Klägern in Ungarn keine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne von Art. 4 GRC drohe, könnten sie aufgrund der humanitären Verhältnisse kein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK beanspruchen. Zur Begründung ihrer Sprungrevision rügen die Kläger sinngemäß eine Verletzung des Art. 4 GRC bzw. Art. 3 EMRK, der Menschenwürde nach Art. 1 Abs. 1 GG sowie der Persönlichkeitsrechte der Kläger nach Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG. Zur Begründung heben sie hervor, das Verwaltungsgericht verkenne die für anerkannt Schutzberechtigte in Ungarn herrschenden Lebensbedingungen. Anerkannt Schutzberechtigte könnten in Ungarn weder Sozialhilfe beantragen noch kostenlos in einer staatlichen Einrichtung untergebracht werden noch in eine kommunale Sozialwohnung vermittelt werden. Eine Unterstützung durch nichtstaatliche Hilfsorganisationen sei nicht gesichert. Eine Rückführung der Kläger nach Ungarn verletze sie auch deswegen in ihren Rechten, weil sie in Deutschland leben wollten, wo sie sich sprachlich integriert hätten und eine Berufsausbildung anstrebten. Insoweit werde eine Vorlage der aufgeworfenen Rechtsfragen an den Gerichtshof der Europäischen Union im Vorabentscheidungsverfahren angeregt.

8 Die Beklagte verteidigt die angegriffene Entscheidung und hebt hervor, allein die Nichtberücksichtigung ihres Wunsches, weiter in Deutschland leben zu wollen, verletze die Kläger weder in ihrer Menschenwürde noch in ihren Persönlichkeitsrechten. Bei der Prognose, ob bei Abschiebung nach Ungarn den Klägern eine Verletzung von Art. 4 GRC bzw. Art. 3 EMRK drohe, sei neben eigener Erwerbsfähigkeit jedwede Hilfe, und damit auch solche durch nichtstaatliche Hilfsorganisationen, zu berücksichtigen.

9 Der Vertreter des Bundesinteresses beim Bundesverwaltungsgericht hat mitgeteilt, dass er sich nicht an dem Verfahren beteiligt.

II

10 Die Sprungrevision der Kläger, über die der Senat im Einverständnis der Beteiligten ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung entscheidet (§ 101 Abs. 2 i.V.m. § 141 Satz 1 und § 125 Abs. 1 Satz 1 VwGO), ist zulässig, aber unbegründet. Das Verwaltungsgericht hat im Einklang mit Bundesrecht (§ 137 Abs. 1 VwGO) entschieden, dass in dem für seine Entscheidung maßgeblichen Zeitpunkt (1.) der Asylantrag der Kläger wegen der Zuerkennung internationalen Schutzes in Ungarn unzulässig ist (§ 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG) (2.) und insbesondere der Ausnahmefall nicht vorliegt, dass die Kläger in Ungarn Lebensumstände erwarten, die einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 GRC gleichkommen (3.). Soweit gegen die Entscheidung zu den weiteren Teilentscheidungen in dem Bescheid des Bundesamtes Revisionsrügen geltend gemacht worden sind, greifen diese nicht durch (4. und 5.).

11 1. Maßgeblich für die rechtliche Beurteilung des Klagebegehrens sind das Asylgesetz in der Fassung der Bekanntmachung vom 2. September 2008 (BGBl. I S. 1798), zuletzt geändert durch den am 15. Juli 2021 in Kraft getretenen Art. 9 des Gesetzes zur Weiterentwicklung des Ausländerzentralregisters vom 9. Juli 2021 (BGBl. I S. 2467), - AsylG - und die Richtlinie 2013/32/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zu gemeinsamen Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes (ABl. L 180 S. 60) sowie das Gesetz über den Aufenthalt, die Erwerbstätigkeit und die Integration von Ausländern im Bundesgebiet (Aufenthaltsgesetz - AufenthG) vom 30. Juli 2004 (BGBl. I S. 1950) in der Fassung der Bekanntmachung vom 25. Februar 2008 (BGBl. I S. 162), zuletzt geändert durch den am 15. Juli 2021 in Kraft getretenen Art. 3 des Gesetzes zur Weiterentwicklung des Ausländerzentralregisters vom 9. Juli 2021 (BGBl. I S. 2467), - AufenthG -. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts sind Rechtsänderungen, die nach der letzten mündlichen Verhandlung oder Entscheidung des Tatsachengerichts eintreten, im Revisionsverfahren zu berücksichtigen, wenn das Tatsachengericht - entschiede es anstelle des Revisionsgerichts - sie seinerseits zu berücksichtigen hätte (BVerwG, Urteil vom 11. September 2007 - 10 C 8.07 - BVerwGE 129, 251 Rn. 19). Da es sich vorliegend um eine asylrechtliche Streitigkeit handelt, bei der das Berufungsgericht nach § 77 Abs. 1 AsylG regelmäßig auf die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung abzustellen hat, müsste es seiner Entscheidung, wenn es diese nunmehr träfe, die aktuelle Rechtslage zugrunde legen, soweit nicht hiervon eine Abweichung aus Gründen des materiellen Rechts geboten ist (stRspr, vgl. BVerwG, Urteil vom 20. Februar 2013 - 10 C 23.12 - BVerwGE 146, 67 Rn. 12).

12 2. Das Verwaltungsgericht hat im Einklang mit Bundesrecht dahin erkannt, dass - vorbehaltlich der Frage, ob hiervon wegen der Verhältnisse in Ungarn eine Ausnahme zu machen ist (dazu 3.) - die Voraussetzungen des § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG erfüllt sind, die Entscheidung des Bundesamtes über die Unzulässigkeit des Asylbegehrens mithin rechtmäßig ist.

13 2.1 Nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG ist ein Asylantrag unzulässig, wenn ein anderer Mitgliedstaat der Europäischen Union dem Ausländer bereits internationalen Schutz gewährt hat. Damit findet keine inhaltliche Prüfung des Asylantrags statt. Vielmehr ist der Asylantrag als unzulässig abzulehnen und der Antragsteller - auf der Grundlage einer eigenständigen Abschiebungsentscheidung - in den Staat abzuschieben, in dem er Schutz gefunden hat. Mit dieser Regelung hat der nationale Gesetzgeber von der Ermächtigung in Art. 33 Abs. 2 Buchst. a RL 2013/32/EU Gebrauch gemacht.

14 2.2 Nach den tatsächlichen Feststellungen des Verwaltungsgerichts, die für den Senat bindend sind (§ 137 Abs. 2 VwGO), zumal sie im vorliegenden Verfahren nicht mit der Verfahrensrüge angegriffen worden sind und nicht angegriffen werden können (§ 134 Abs. 4 VwGO), ist den Klägern in Ungarn subsidiärer Schutz gewährt worden, der weiterhin fortwirkt. Vor der Entscheidung des Bundesamtes sind die Kläger in einer Weise angehört worden, die den Anforderungen nach § 29 Abs. 2 Satz 1 AsylG genügt und in der die Kläger hinreichend Gelegenheit hatten, sich zu der Anwendung der Gründe nach Art. 33 RL 2013/32/EU in ihrem besonderen Fall zu äußern (vgl. auch Art. 34 Abs. 1 RL 2013/32/EU).

15 2.3 Der Wunsch der Kläger, im Bundesgebiet zu verbleiben, steht auch in Ansehung der insoweit geltend gemachten Aufenthaltsdauer und bereits unternommener Integrationsanstrengungen einer Unzulässigkeitsentscheidung nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG nicht entgegen. Aus Völker- oder Unionsrecht folgt kein Recht auf Wahl des Zufluchtslandes. Hat ein Schutzsuchender in einem Mitgliedstaat der Europäischen Union Schutz vor Verfolgung gefunden, folgt hieraus grundsätzlich (zu Ausnahmen siehe 3.) kein Recht auf Weiterwanderung in einen anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union oder auf die Durchführung eines weiteren Asylverfahrens. Ein solches Recht ergibt sich auch nicht aus dem Grundgesetz, namentlich auch nicht aus der Garantie der Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG). Art. 16a Abs. 2 Satz 1 GG regelt im Einklang mit dem Grundgesetz (BVerfG, Urteil vom 14. Mai 1996 - 2 BvR 1938/93, 2 BvR 2315/93 - BVerfGE 94, 49) für das nationale Asylrecht, dass sich auf den Schutz politisch Verfolgter durch das Asylrecht nicht berufen kann, wer aus einem Mitgliedstaat der Europäischen Gemeinschaft oder aus einem anderen Drittstaat einreist, in dem die Anwendung des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge und der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten sichergestellt ist. Dies schließt auch einen von den Klägern geltend gemachten, unmittelbar aus der Menschenwürde abgeleiteten Anspruch auf Beachtung ihres Wunsches aus, als Schutzberechtigte in Deutschland und nicht in Ungarn leben zu wollen.

16 3. Die Entscheidung des Bundesamtes über die Unzulässigkeit des Asylantrages ist auch nicht deswegen rechtswidrig, weil die Lebensverhältnisse, welche die Kläger als anerkannte Schutzberechtigte in Ungarn erwarteten, sie der ernsthaften Gefahr aussetzten, eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne von Art. 4 GRC zu erfahren. Das Nichtvorliegen einer solchen Gefahr ist - wovon zutreffend auch das Verwaltungsgericht ausgegangen ist - allerdings ungeschriebene Tatbestandsvoraussetzung bereits einer Unzulässigkeitsentscheidung nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG (3.1). Das Verwaltungsgericht ist im Einklang mit den hierzu in der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union und des Bundesverwaltungsgerichts entwickelten Grundsätzen (3.2.1) in Bewertung des herangezogenen Erkenntnismaterials zu der das Bundesverwaltungsgericht mangels beachtlicher Verfahrensrügen bindenden (§ 137 Abs. 2 VwGO) Würdigung gelangt, dass den Klägern derartige Gefahren nicht drohen (3.2.2). Das Verwaltungsgericht ist dabei insbesondere zutreffend davon ausgegangen, dass bei der Würdigung der Lebensverhältnisse, welche die Kläger in Ungarn zu erwarten haben, auch Unterstützungsleistungen nichtstaatlicher Stellen und Organisationen zu berücksichtigen sind (3.3). Anlass für eine weitere Klärung durch den Gerichtshof der Europäischen Union besteht insoweit nicht (3.4).

17 3.1 Liegen die beschriebenen Voraussetzungen des § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG vor, kann eine Unzulässigkeitsentscheidung nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union aus Gründen vorrangigen Unionsrechts gleichwohl ausnahmsweise ausgeschlossen sein. Das ist der Fall, wenn die Lebensverhältnisse, die den Antragsteller bzw. Kläger als anerkannten Schutzberechtigten in dem anderen Mitgliedstaat erwarten würden, ihn der ernsthaften Gefahr aussetzen würden, eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne von Art. 4 GRC zu erfahren. Unter diesen Voraussetzungen ist es den Mitgliedstaaten untersagt, von der durch Art. 33 Abs. 2 Buchst. a RL 2013/32/EU eingeräumten Befugnis Gebrauch zu machen, einen Antrag auf internationalen Schutz als unzulässig abzulehnen (vgl. ausdrücklich EuGH, Beschluss vom 13. November 2019 - C-540/17 u.a. [ECLI:​EU:​C:​2019:​964], Hamed u.a. - Rn. 35; s.a. Urteil vom 19. März 2019 - C-297/17 u.a. [ECLI:​EU:​C:​2019:​219], Ibrahim u.a. - Rn. 88). Verstöße gegen Art. 4 GRC im Mitgliedstaat der anderweitigen Schutzgewährung sind mithin nicht nur bei der Prüfung der Rechtmäßigkeit einer Abschiebungsandrohung zu berücksichtigen, sondern führen bereits zur Rechtswidrigkeit der Unzulässigkeitsentscheidung (BVerwG, Urteil vom 20. Mai 2020 - 1 C 34.19 - Rn. 15).

18 3.2 Die Voraussetzungen dieser Ausnahme liegen nicht vor.

19 3.2.1 Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union (vgl. EuGH, Urteile vom 19. März 2019 - C-297/17 u.a., Ibrahim u.a. - Rn. 89 - 91 und - C-163/17 [ECLI:​EU:​C:​2019:​218], Jawo - Rn. 91 - 93 und Beschluss vom 13. November 2019 - C-540/17 u.a., Hamed u.a. - Rn. 39), welcher der Senat in ständiger Rechtsprechung folgt (s. nur BVerwG, Urteil vom 20. Mai 2020 - 1 C 34.19 - Rn. 19) fallen systemische oder allgemeine oder bestimmte Personengruppen betreffende Schwachstellen nur dann unter Art. 4 GRC, wenn sie eine besonders hohe Schwelle der Erheblichkeit erreichen, die von sämtlichen Umständen des Falles abhängt und die dann erreicht wäre, wenn die Gleichgültigkeit der Behörden eines Mitgliedstaats zur Folge hätte, dass eine vollständig von öffentlicher Unterstützung abhängige Person sich unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not befände, die es ihr nicht erlaubte, ihre elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen, wie insbesondere sich zu ernähren, sich zu waschen und eine Unterkunft zu finden, und die ihre physische oder psychische Gesundheit beeinträchtigte oder sie in einen Zustand der Verelendung versetzte, der mit der Menschenwürde unvereinbar wäre. Diese Schwelle ist selbst bei durch große Armut oder eine starke Verschlechterung der Lebensverhältnisse der betreffenden Person gekennzeichneten Situationen nicht erreicht, sofern diese nicht mit extremer materieller Not verbunden sind, aufgrund deren die betreffende Person sich in einer solch schwerwiegenden Situation befindet, dass sie einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung gleichgestellt werden kann.

20 Der bloße Umstand, dass im ersuchenden Mitgliedstaat die Sozialhilfeleistungen und/oder die Lebensverhältnisse günstiger sind als im normalerweise für die Prüfung des Antrags auf internationalen Schutz zuständigen Mitgliedstaat, kann dabei nicht die Schlussfolgerung stützen, dass die betreffende Person im Fall ihrer Überstellung in den zuletzt genannten Mitgliedstaat tatsächlich der Gefahr ausgesetzt wäre, eine gegen Art. 4 der Charta verstoßende Behandlung zu erfahren (EuGH, Urteil vom 19. März 2019 - C-163/17, Jawo - Rn. 97). Auch Mängel in dem normalerweise für die Prüfung des Antrags auf internationalen Schutz zuständigen bzw. dem schutzgewährenden Mitgliedstaat bei der Durchführung von Programmen zur Integration von Personen, denen dieser Schutz zuerkannt worden ist, können keinen ernsthaften und durch Tatsachen bestätigten Grund für die Annahme darstellen, dass die betreffende Person im Fall ihrer Überstellung in diesen Mitgliedstaat tatsächlich Gefahr liefe, einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 der Charta ausgesetzt zu sein (EuGH, Urteil vom 19. März 2019 - C-163/17, Jawo - Rn. 96).

21 3.2.2 Das Verwaltungsgericht hat auf der Grundlage objektiver, zuverlässiger, genauer und gebührend aktualisierter Angaben und im Hinblick auf den durch das Unionsrecht gewährleisteten Schutzstandard der Grundrechte geprüft, ob entweder systemische oder allgemeine oder aber bestimmte Personengruppen betreffende Schwachstellen vorliegen (s.a. EuGH, Beschluss vom 13. November 2019 - C-540/17 u.a., Hamed und Omar - Rn. 38) und hat in Anwendung der vorgenannten Grundsätze die Verhältnisse in Ungarn dahin bewertet, dass die Kläger bei einer Abschiebung nach Ungarn dort nicht der ernsthaften Gefahr ausgesetzt wären, eine mit Art. 4 GRC unvereinbare Behandlung zu erfahren. Soweit die Kläger hiergegen u.a. auf die ablehnende Haltung der ungarischen Regierung gegen die Einwanderung von Flüchtlingen, die nicht oder nur schwer erfüllbaren Voraussetzungen für den Bezug von Sozialhilfe, die Befristung der kostenlosen staatlichen Unterbringungen, das Fehlen spezieller Integrationsmaßnahmen sowie das Verbot von Hilfeleistungen für Asylbewerber im Namen einer Organisation durch das "Stop-Soros-Gesetz" verweisen, hat sich das Verwaltungsgericht mit diesen Einwendungen auseinandergesetzt und diese für nicht durchgreifend erachtet. Das Vorbringen der Kläger sowie der Umstand, dass diese die Bewertung des Verwaltungsgerichts für "nicht überzeugend" halten, richtet sich gegen die revisionsrechtlich diesem vorbehaltene Feststellung und Würdigung des Sachverhalts. Selbst wenn damit eine Verfahrensrüge hätte erhoben werden sollen, griffe diese nicht durch; sie wäre zudem nicht statthaft (§ 134 Abs. 4 VwGO). Für einen Verstoß gegen den Überzeugungsgrundsatz (§ 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO) (BVerwG, Urteil vom 22. Mai 2019 - 1 C 11.18 - NVwZ-RR 2019, 1018 <1021>) ist ebenfalls nichts vorgetragen oder ersichtlich.

22 3.3 Das Verwaltungsgericht hat bei seiner Bewertung der Lebensverhältnisse, welche die Kläger erwarten, im Einklang mit Unions- und Bundesrecht bei seiner Prognose, dass keine ernsthafte Gefahr einer mit Art. 4 GRC unvereinbaren Situation zu besorgen sei, im rechtlichen Ansatz neben den staatlichen Unterstützungsleistungen und etwaigen Möglichkeiten der Kläger, den eigenen Lebensunterhalt durch Erwerbstätigkeit auf einem Mindestniveau zu sichern, auch eine Sicherung menschenwürdiger Existenz durch - alleinige oder ergänzende - dauerhafte Unterstützungs- oder Hilfeleistungen von vor Ort tätigen nichtstaatlichen Institutionen oder Organisationen berücksichtigt.

23 3.3.1 Die Berücksichtigung von Unterstützungs- oder Hilfeleistungen vor Ort tätiger nichtstaatlicher Institutionen oder Organisationen, welche - wie hier nach den bindenden tatsächlichen Feststellungen des Verwaltungsgerichts - tatsächlich hinreichend geeignet sind, eine Situation extremer materieller Not (Art. 4 GRC) abzuwenden, folgt bereits aus dem Ausnahmecharakter der ungeschriebenen Rückausnahme vom Grundsatz des wechselseitigen Vertrauens in Fällen drohenden Art. 4 GRC-Verstoßes. Eine ausdrückliche, primär- oder sekundärrechtliche Verpflichtung des ungarischen Staates, den Lebensunterhalt international Schutzberechtigter durch eigene Leistungen (Unterkunft, Befriedigung elementarster Bedürfnisse) unabhängig von zumutbaren, möglichen Eigenbemühungen und den Leistungen Dritter auf einem Niveau oberhalb des durch Art. 4 GRC zu sichern, besteht nicht.

24 Auch Art. 3 EMRK verpflichtet die Konventionsstaaten nicht, jeder ihrer Hoheitsgewalt unterstehenden Person ein Recht auf Unterkunft zu garantieren, und birgt auch keine allgemeine Verpflichtung, Flüchtlinge finanziell zu unterstützen, damit sie ein bestimmtes Lebensniveau behalten können (s.a. EGMR, Urteil vom 2. Juli 2020 - 28820/13 u.a. <N.H. u.a.> - NVwZ 2021, 1121 Rn. 160). Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH, Urteil vom 19. März 2019 - C-163/17, Jawo - Rn. 98) begründen selbst Mängel bei der Durchführung unionsrechtlich geforderter Integrationsprogramme für anerkannt Schutzberechtigte (Art. 34 RL 2011/95/EU) als solche grundsätzlich keine Verletzung von Art. 4 GRC.

25 Im Bereich des Art. 4 GRC trifft den jeweiligen Mitgliedstaat in Bezug auf die Sicherung von Unterkunft und angemessenen materiellen Bedingungen auch sonst (allenfalls) eine Gewährleistungsverantwortung, bei anderweitiger Sicherstellung nicht eine Erfüllungsverantwortung, soweit es gänzlich von öffentlicher Hilfe abhängige, schutzbedürftige Personen betrifft. Die Wahrung des Existenzminimums im Sinne des Art. 4 GRC ist allein ergebnisbezogen. Art. 4 GRC verbietet dem Grundrechtsverpflichteten in der Abwehrdimension u.a. eine unmenschliche oder erniedrigende Strafe oder Behandlung. In der Leistungs- oder Schutzpflichtendimension kommt eine Verletzung durch den Mitgliedstaat erst dann in Betracht, wenn diesen zur Erfüllung einer entsprechenden Schutzpflicht auch eine (unbedingte) Handlungspflicht trifft. In Bezug auf die materiellen Lebensverhältnisse des Einzelnen ist dies unions- oder konventionsrechtlich grundsätzlich nicht der Fall. Ein staatliches Unterlassen bei unzureichenden materiellen Lebensverhältnissen, die staatlichen oder privaten Akteuren nicht unmittelbar zurechenbar sind, wird erst dann erheblich, wenn den Staat eine besondere Schutz-, Gewährleistungs- oder Einstandspflicht trifft und nur durch staatliches Eingreifen in Form existenzsichernder Leistungen eine (drohende) Verletzung des Art. 4 GRC abgewendet werden kann. Die Gefahr einer anderweitig nicht abwendbaren existentiellen materiellen Notlage für die Einzelnen ist hier eine der staatlichen Schutzpflicht vorgelagerte Voraussetzung, nicht nur Anlass staatlicher Leistungsgewähr. Können extrem schlechte materielle Lebensverhältnisse, welche die Gefahr einer Verletzung des Art. 4 GRC begründen, durch eigene Handlungen (z.B. den Einsatz der eigenen Arbeitskraft) oder die Inanspruchnahme der Hilfs- oder Unterstützungsleistungen Dritter (seien es private Dritte, seien es nichtstaatliche Hilfe- oder Unterstützungsorganisationen) abgewendet werden, besteht schon nicht mehr die ernsthafte Gefahr einer Situation extremer materieller Not, die unter Umständen eine staatliche Schutzpflicht zu (ergänzenden) staatlichen Leistungen auslösen kann. Die Hilfs- oder Unterstützungsleistungen vor Ort tätiger nichtstaatlicher Hilfs- oder Unterstützungsorganisationen müssen dabei für international Schutzberechtigte auch real bestehen und - ohne unzumutbare, hier nicht festgestellte, geltend gemachte oder ersichtliche unzumutbare Zugangsbedingungen - hinreichend verlässlich und in dem gebotenen Umfang auch dauerhaft in Anspruch genommen werden können; dann ist auch unerheblich, dass auf sie regelmäßig kein durchsetzbarer Rechtsanspruch besteht.

26 Die Berücksichtigung existenzsichernder Unterstützungsleistungen vor Ort tätiger nichtstaatlicher Hilfs- oder Unterstützungsorganisationen bei der Bewertung, ob bei der Rückführung oder Abschiebung die Gefahr einer Verletzung des Art. 4 GRC droht, folgt auch unmittelbar aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union (vgl. EuGH, Urteile vom 19. März 2019 - C-297/17 u.a., Ibrahim u.a. - Rn. 90 und - C-163/17, Jawo - Rn. 92 und Beschluss vom 13. November 2019 - C-540/17 u.a., Hamed u.a. - Rn. 39), dass die Gleichgültigkeit der Behörden eines Mitgliedstaats nicht zur Folge haben darf, dass eine vollständig von öffentlicher Unterstützung abhängige Person sich unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not befände, die es ihr nicht erlaubte, ihre elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen, wie insbesondere sich zu ernähren, sich zu waschen und eine Unterkunft zu finden, und die ihre physische oder psychische Gesundheit beeinträchtigte oder sie in einen Zustand der Verelendung versetzte, der mit der Menschenwürde unvereinbar wäre. Die Ausnahme vom Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens der Mitgliedstaaten auch in Bezug auf die Sorge für Schutzsuchende und international Schutzberechtigte wird nicht an fehlende oder unzureichende staatliche Leistungen geknüpft, sondern an die tatsächlich menschenunwürdige Lage der Schutzsuchenden oder -berechtigten. Kann durch die Inanspruchnahme der Hilfs- oder Unterstützungsleistungen nichtstaatlicher Hilfs- oder Unterstützungsorganisationen einer extremen individuellen Notlage hinreichend begegnet werden, droht keine Situation extremer materieller Not.

27 Die betroffenen Personen sind bei zumutbar möglicher Inanspruchnahme solcher Leistungen auch nicht vollständig von öffentlicher (im Sinne staatlicher oder staatlich organisierter) Unterstützung abhängig; denn die Gleichgültigkeit der Behörden des Mitgliedstaates muss für sie nicht zur Folge haben, dass sie in eine Situation extremer Not geraten. Ein etwaiger Wille betroffener Personen, nur durch staatliche Institutionen oder durch Einsatz der eigenen Arbeitskraft die eigene Existenz zu sichern, nicht aber durch Inanspruchnahme zumutbar erreichbarer Leistungen nichtstaatlicher Hilfs- oder Unterstützungsorganisationen, wäre unbeachtlich; eine in Folge der Nichtinanspruchnahme eintretende Situation extremer Not wäre gerade nicht von ihren persönlichen Entscheidungen unabhängig. Dies gilt unabhängig davon, ob es sich im Übrigen um besonders schutzbedürftige Personen handelt.

28 3.3.2 Das Verwaltungsgericht hat daher bei seiner Bewertung, es sei zu erwarten, dass die Kläger aus eigenen Kräften und gegebenenfalls mit Hilfe der in Ungarn tätigen Hilfsorganisationen einer ernsthaften und lebensbedrohenden Armut entgehen könnten, zu Recht auch auf die Hilfen nichtstaatlicher Hilfs- oder Unterstützungsorganisationen abgestellt. Nach seinen - den Senat nach § 137 Abs. 2 VwGO bindenden - tatrichterlichen Feststellungen arbeiten die von ihm benannten Hilfsorganisationen effektiv, können bereits vom Bundesgebiet aus kontaktiert werden, leisten Unterstützung bei der Wohnungs- und Arbeitssuche und dem Erlernen der ungarischen Sprache und erforderlichenfalls Hilfestellung bei diversen Antragstellungen auf Sozialleistungen bei den ungarischen Behörden und eine finanzielle Unterstützung zur Überbrückung bis zu einer Arbeitsaufnahme (Gerichtsbescheid vom 11. September 2020, S. 9 f., 12). Es sei auch nicht ersichtlich, dass das sog. "Stop-Soros-Gesetz" aus dem Jahre 2018, gegen das zudem ein Vertragsverletzungsverfahren der EU-Kommission anhängig sei, zu einer Einstellung der Hilfeleistungen für Flüchtlinge geführt hätte.

29 Nach diesen Feststellungen gibt der Fall keinen Anlass zur weiteren Klärung, in welchem Umfang Leistungen durch nichtstaatliche Hilfs- und Unterstützungsorganisationen auch im Zeitverlauf gesichert sein müssen, um bei der Gefahrenprognose staatliche Existenzsicherungsleistungen ergänzen oder ersetzen zu können, und unter welchen Voraussetzungen solche Leistungen unbeachtlich sind, etwa wenn sie sich auf Nothilfe in Ausnahmefällen für einen begrenzten Personenkreis beschränken, sie real nicht oder nur schwer erreichbar sind oder gezielte staatliche Maßnahmen, welche die Tätigkeit solcher Hilfsorganisationen zu behindern oder zu untersagen bestimmt sind, zu beachtlichen Einschränkungen der Unterstützungstätigkeit führen.

30 3.4 Der Senat erachtet die Rechtsfrage, dass Hilfen nichtstaatlicher Hilfs- oder Unterstützungsorganisationen - und erst recht eine zumutbare eigene Erwerbstätigkeit - bei der Beurteilung der Frage zu berücksichtigen sind, ob den Klägern bei Überstellung/Abschiebung nach Ungarn mit Art. 4 GRC unvereinbare materielle Lebensbedingungen drohen, durch die Rechtsprechung des Gerichtshofs als geklärt, sieht auch sonst keinen Anlass zu Zweifeln und hat daher nach der "acte-clair"-Doktrin keine Veranlassung zu einer Vorlage an den Gerichtshof der Europäischen Union. Der Hinweis der Kläger auf im Ergebnis abweichende Bewertungen der Verhältnisse in Ungarn für Schutzsuchende und -berechtigte in der Rechtsprechung zweier Obergerichte (wohl) aus den Jahren 2016 und 2017 rechtfertigt schon deswegen keine Anrufung des Gerichtshofs der Europäischen Union, weil dieser nach Art. 267 Abs. 1 AEUV zu Rechtsfragen bei der Auslegung der Verträge, nicht hingegen über Tatsachenfragen und deren etwa divergierende Bewertung durch die nationalen Gerichte zu entscheiden hat.

31 4. Gründe für die durch Ziffer 2 des Bescheides abgelehnte Feststellung von Abschiebungsverboten gemäß § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG, die nicht an die materiellen Lebensverhältnisse in Ungarn anknüpfen, hat das Verwaltungsgericht verneint; solche Gründe sind im Revisionsverfahren nicht - auch nicht hilfsweise - geltend gemacht worden. Rechtsfehler sind nicht ersichtlich. Entsprechendes gilt für die Abschiebungsandrohung (Ziffer 3); die verfügte Ausreisefrist von 30 Tagen verletzt die Kläger nicht in ihren Rechten (BVerwG, Urteil vom 25. April 2019 - 1 C 51.18 - Buchholz 402.251 § 37 AsylG Nr. 2).

32 5. Die Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots (Ziffer 4 des Bescheides) begegnet im Ergebnis ebenfalls keinen revisionsrechtlich beachtlichen Bedenken. Die in Anwendung von § 11 Abs. 2 Satz 1 AufenthG verfügte Befristung, die notwendig das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot nach § 11 Abs. 1 AufenthG (i.d.F. des Gesetzes vom 27. Juli 2015, BGBl. I S. 1386) voraussetzt, ist bei einer Gesamtbetrachtung nach dem Inkrafttreten der Neufassung des § 11 AufenthG (Zweites Gesetz zur besseren Durchsetzung der Ausreisepflicht vom 15. August 2019, BGBl. I S. 1294) umzudeuten (§ 47 VwVfG) in eine behördliche Anordnung eines befristeten Einreise- und Aufenthaltsverbots.

33 6. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2, § 159 Satz 1 VwGO i.V.m. § 100 Abs. 1 ZPO. Gerichtskosten werden gemäß § 83b AsylG nicht erhoben. Der Gegenstandswert ergibt sich aus § 30 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 1 und Satz 2 RVG. Gründe für eine Abweichung gemäß § 30 Abs. 2 RVG liegen nicht vor.