Urteil vom 09.03.2023 -
BVerwG 3 C 15.21ECLI:DE:BVerwG:2023:090323U3C15.21.0
Inverkehrbringen von vorverpackten Lebensmitteln ohne Angabe der Zahl der in der Verpackung enthaltenen Einzelstücke
Leitsätze:
1. Bei einem vorverpackten Lebensmittel i. S. d. Art. 2 Abs. 2 Buchst. e LMIV muss die Vorverpackung das Lebensmittel nicht unmittelbar umschließen.
2. Im Rahmen des Begriffs der nicht als Verkaufseinheit anzusehenden Einzelpackung i. S. d. Anhangs IX Nr. 4 LMIV ist nicht nach der Größe der Einzelpackung oder verschiedenen Verpackungsmodalitäten zu differenzieren.
-
Rechtsquellen
GrCh Art. 15, Art. 16, Art. 20, Art. 52 Abs. 1 LMIV Art. 2 Abs. 2 Buchst. e, Art. 9 Abs. 1 Buchst. e, Art. 23 Abs. 1 und 3, Art. 44 Abs. 1, Anhang IX Nr. 3 und Nr. 4 VwGO § 43 Abs. 1, § 137 Abs. 1 und 2 FPackV § 9, § 16 Abs. 1, § 26 Abs. 1 und 2 -
Instanzenzug
VG Koblenz - 28.04.2021 - AZ: 2 K 511/20.KO
OVG Koblenz - 02.11.2021 - AZ: 6 A 10695/21
-
Zitiervorschlag
BVerwG, Urteil vom 09.03.2023 - 3 C 15.21 - [ECLI:DE:BVerwG:2023:090323U3C15.21.0]
Urteil
BVerwG 3 C 15.21
- VG Koblenz - 28.04.2021 - AZ: 2 K 511/20.KO
- OVG Koblenz - 02.11.2021 - AZ: 6 A 10695/21
In der Verwaltungsstreitsache hat der 3. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
auf die mündliche Verhandlung vom 9. März 2023
durch die Vorsitzende Richterin am Bundesverwaltungsgericht Dr. Philipp,
den Richter am Bundesverwaltungsgericht Liebler,
die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Dr. Kuhlmann,
den Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Sinner und
die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Hellmann
für Recht erkannt:
- Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Oberverwaltungsgerichts Rheinland-Pfalz vom 2. November 2021 wird zurückgewiesen.
- Die Klägerin trägt die Kosten des Revisionsverfahrens.
Gründe
I
1 Die Beteiligten streiten darüber, ob auf Verpackungen von Süßwaren die Zahl der enthaltenen Einzelstücke anzugeben ist.
2 Die Klägerin stellt Süßwaren her und bringt diese unter anderem in Beuteln in den Verkehr, in denen sich mehrere einzeln mit Bonbonpapier umwickelte oder auf ähnliche Weise umhüllte Stücke befinden. Bei einer amtlichen Kontrolle stellte das Landesamt für Mess- und Eichwesen des beklagten Landes im Juli 2019 fest, dass auf den Verpackungen der Produkte "K. Mini" und "m. Konfekt" die Füllmenge zwar nach Gewicht der Süßigkeiten angegeben war, nicht aber nach Zahl der enthaltenen Stücke. Wegen der fehlenden Stückzahlangabe wurde ein Ordnungswidrigkeitenverfahren gegen einen Mitarbeiter der Klägerin eingeleitet, in das im Folgenden auch die Produkte "n. Familienpackung", "n.", "R.", "W. Candies" und "T. Melange" einbezogen wurden.
3 Die Klägerin hat im Juni 2020 Klage erhoben und beantragt festzustellen, dass das Inverkehrbringen der streitgegenständlichen Produkte ohne Angabe der Stückzahl keinen Verstoß gegen Art. 9 Abs. 1 Buchst. e, Art. 23 Abs. 1 und 3 i. V. m. Anhang IX Nr. 4 der Lebensmittelinformationsverordnung (LMIV) darstelle.
4 Das Verwaltungsgericht hat die Klage als unbegründet abgewiesen. Die hiergegen eingelegte Berufung der Klägerin hat das Oberverwaltungsgericht mit Urteil vom 2. November 2021 zurückgewiesen. Die Pflicht, auf der Verpackung auch die Zahl der enthaltenen Stücke anzugeben, folgt aus Art. 9 Abs. 1 Buchst. e, Art. 23 Abs. 1 und 3 i. V. m. Anhang IX Nr. 4 LMIV. Zwar handle es sich bei den Produkten der Klägerin nicht um vorverpackte Lebensmittel im Sinne der Lebensmittelinformationsverordnung, weil es an der erforderlichen Unmittelbarkeit zwischen Lebensmittel und Vorverpackung fehle. Die streitgegenständlichen Produkte seien aber Vorverpackungen i. S. d. Anhangs IX Nr. 4 LMIV und enthielten zwei oder mehr Einzelpackungen, die nicht als Verkaufseinheiten anzusehen seien. Für eine Differenzierung zwischen Einzelpackungen nach Art oder Sinn und Zweck der jeweiligen Verpackung gebe die Lebensmittelinformationsverordnung nichts her. Die Regelung in Anhang IX Nr. 4 LMIV sei auch nicht unverhältnismäßig. Der Angabe der Zahl der enthaltenen Einzelpackungen könne ein ergänzender Informationswert nicht abgesprochen werden. Sie gebe dem Käufer eine Orientierungshilfe, die ihm, etwa wenn er eine bestimmte Zahl von Gästen erwarte, die Kaufentscheidung erleichtern könne. Demgegenüber sei nicht ersichtlich, dass die Kennzeichnungspflicht die Lebensmittelunternehmer über Gebühr belaste. Dies gelte auch, soweit die nach dem Fertigpackungsrecht bestehenden Vorschriften über die maximal zulässigen Füllmengenabweichungen sowohl im Hinblick auf das Gewicht als auch hinsichtlich der Stückzahl eingehalten werden müssten. Ein Weg, trotz der von der Klägerin angeführten Schwankungen des Gewichts der einzelnen Stücke der Süßwaren die Angabe der Stückzahl unter Beibehaltung des derzeitigen Abfüllprozesses der Klägerin rechtsbeständig vornehmen zu können, liege darin, die geringstmögliche Stückzahl (Gesamtnettofüllmenge unter Abzug der maximalen Minusabweichung dividiert durch das Maximalstückgewicht) zu ermitteln und auf den Vorverpackungen anzugeben. Soweit die Klägerin auf eine hieraus folgende mögliche Fehlerhaftigkeit der Nährwertangaben pro Portion verweise, handle es sich dabei um eine freiwillige Angabe.
5 Mit ihrer vom Oberverwaltungsgericht zugelassenen Revision verfolgt die Klägerin ihr Feststellungsbegehren weiter. Zur Begründung trägt sie im Wesentlichen vor: Bei den in Rede stehenden Verpackungen handle es sich unstreitig um Vorverpackungen, das Berufungsgericht habe dies aber unzutreffend begründet. Anders als im Urteil angenommen, seien ihre Produkte auch vorverpackte Lebensmittel; die vom Berufungsgericht geforderte Unmittelbarkeit zwischen Vorverpackung und Lebensmittel finde keine Stütze in den maßgeblichen Vorschriften. Auch die Ausführungen des Berufungsgerichts zur Auslegung des Begriffs der Einzelpackung i. S. d. Anhangs IX Nr. 4 LMIV seien fehlerhaft. Kleinstückige Süßwaren stellten keine Einzelpackungen dar. Das Berufungsgericht habe bei seiner Auslegung weder die Abweichungen in der französischen und englischen Sprachfassung des Anhangs IX Nr. 3 und 4 LMIV noch die Sicht der Verbraucher berücksichtigt. Im Hinblick auf die bestehenden Unsicherheiten werde eine Vorlage an den Europäischen Gerichtshof angeregt. Die Regelung sei im Übrigen unverhältnismäßig. Auf Seiten des Verbrauchers bestehe kein nennenswertes Interesse an der Kenntnis der konkreten Anzahl der in einer Packung enthaltenen Stücke, während für den Hersteller unzumutbarer Aufwand entstehe. Zudem komme es zu unauflösbaren Widersprüchen zum Fertigpackungsrecht und den dort geltenden Toleranzgrenzen für Abweichungen von Gewichts- und Stückzahlangaben.
6 Der Beklagte verteidigt das angefochtene Urteil.
II
7 Die zulässige Revision ist unbegründet und daher zurückzuweisen (Art. 144 Abs. 2 VwGO). Das angegriffene Urteil beruht nicht auf einem Verstoß gegen Bundesrecht (§ 137 Abs. 1 Nr. 1 VwGO). Das Oberverwaltungsgericht hat die gegen die Klageabweisung gerichtete Berufung der Klägerin zu Recht zurückgewiesen. Die Klage ist unter Zugrundelegung der bindenden tatsächlichen Feststellungen des Berufungsgerichts (§ 137 Abs. 2 VwGO) zulässig (1.), aber unbegründet (2.).
8 1. Das Berufungsgericht hat im Einklang mit revisiblem Recht angenommen, dass die Klage als Feststellungsklage gemäß § 43 Abs. 1 Alt. 1 VwGO zulässig ist. Zwischen den Beteiligten besteht ein feststellungsfähiges Rechtsverhältnis. Sie streiten vor dem Hintergrund eines gegen einen Mitarbeiter der Klägerin eingeleiteten Ordnungswidrigkeitenverfahrens darüber, ob die in Rede stehenden Produkte der Klägerin ohne Angabe der Anzahl der enthaltenen Stücke in den Verkehr gebracht werden dürfen. Die Klägerin hat auch ein berechtigtes Interesse an der begehrten Feststellung, denn diese würde ihre Position in rechtlicher und wirtschaftlicher Hinsicht verbessern.
9 2. Die Klage ist indes unbegründet. Das Berufungsgericht hat zu Recht einen Anspruch der Klägerin auf die beantragte Feststellung verneint. Sie ist nach Art. 9 Abs. 1 Buchst. e, Art. 23 Abs. 1 und 3 i. V. m. Anhang IX Nr. 4 der Verordnung (EU) Nr. 1169/2011 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25. Oktober 2011 betreffend die Information der Verbraucher über Lebensmittel und zur Änderung der Verordnungen (EG) Nr. 1924/2006 und (EG) Nr. 1925/2006 des Europäischen Parlaments und des Rates und zur Aufhebung der Richtlinie 87/250/EWG der Kommission, der Richtlinie 90/496/EWG des Rates, der Richtlinie 1999/10/EG der Kommission, der Richtlinie 2000/13/EG des Europäischen Parlaments und des Rates, der Richtlinien 2002/67/EG und 2008/5/EG der Kommission und der Verordnung (EG) Nr. 608/2004 der Kommission (ABl. L 304 S. 18) - Lebensmittelinformationsverordnung - LMIV - in der maßgeblichen zum Zeitpunkt der Entscheidung des Revisionsgerichts geltenden Fassung der Verordnung (EU) 2015/2283 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25. November 2015 über neuartige Lebensmittel, zur Änderung der Verordnung (EU) Nr. 1169/2011 des Europäischen Parlaments und des Rates und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 258/97 des Europäischen Parlaments und des Rates und der Verordnung (EG) Nr. 1852/2001 der Kommission (ABl. L 327 S. 1) verpflichtet, auf den im Antrag genannten Produkten neben dem Gesamtnettogewicht auch die Zahl der enthaltenen Stücke anzugeben.
10 Das Berufungsgericht hat zutreffend angenommen, dass die Lebensmittelinformationsverordnung auf die Klägerin Anwendung findet (a). Gemäß Art. 9 Abs. 1 Buchst. e LMIV ist für die in Rede stehenden Produkte die Nettofüllmenge anzugeben (b). Ohne Bundesrechtsverstoß hat das Berufungsgericht entschieden, dass dabei gemäß Art. 23 Abs. 1 und 3 i. V. m. Anhang IX Nr. 4 LMIV die Gesamtnettofüllmenge und die Gesamtzahl der enthaltenen Einzelpackungen anzugeben sind (c) und diese Pflicht nicht unverhältnismäßig ist (d). Sie verstößt auch nicht gegen Art. 20 GrCh (e).
11 a) Die Lebensmittelinformationsverordnung ist gemäß ihrem Art. 1 Abs. 3 anwendbar. In Streit steht die die Bereitstellung von Informationen über Lebensmittel an Verbraucher (Art. 2 Abs. 2 Buchst. a LMIV) betreffende Tätigkeit der Klägerin als Lebensmittelunternehmerin i. S. d. Art. 2 Abs. 1 Buchst. a LMIV i. V. m. Art. 3 Nr. 3 der Verordnung (EG) Nr. 178/2002 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 28. Januar 2002 zur Festlegung der allgemeinen Grundsätze und Anforderungen des Lebensmittelrechts, zur Errichtung der Europäischen Behörde für Lebensmittelsicherheit und zur Festlegung von Verfahren zur Lebensmittelsicherheit (ABl. L 31 S. 1) - Basis-VO -. Die vom Antrag erfassten Erzeugnisse der Klägerin sind Lebensmittel i. S. d. Art. 2 Abs. 1 Buchst. a LMIV i. V. m. Art. 2 Satz 1 Basis-VO und für den Endverbraucher (Art. 2 Abs. 1 Buchst. a LMIV i. V. m. Art. 3 Nr. 18 Basis-VO) bestimmt. Zutreffend hat das Oberverwaltungsgericht ausgeführt, dass ein Vorrang nationaler Regelungen etwa durch Notifikation gemäß Art. 42 LMIV vorliegend nicht in Betracht kommt (UA S. 11 f.).
12 b) Nach Art. 9 Abs. 1 Buchst. e LMIV gehört zu den verpflichtenden Informationen über Lebensmittel die Angabe der Nettofüllmenge. Diese Pflicht gilt für vorverpackte und - nach Maßgabe nationaler Regelungen nach Art. 44 Abs. 1 Buchst. b LMIV - für nicht vorverpackte Lebensmittel. Ob entsprechende nationale Regelungen bestehen, kann offenbleiben, denn bei den verfahrensgegenständlichen Produkten der Klägerin handelt es sich um vorverpackte Lebensmittel (aa). Soweit das Berufungsgericht dies verneint hat, verletzt sein Urteil zwar Bundesrecht (bb), es beruht aber nicht darauf (cc).
13 aa) Die Produkte der Klägerin sind vorverpackte Lebensmittel i. S. d. Art. 2 Abs. 2 Buchst. e LMIV. Nach dieser Vorschrift ist ein vorverpacktes Lebensmittel jede Verkaufseinheit, die als solche an den Endverbraucher und an Anbieter von Gemeinschaftsverpflegung abgegeben werden soll und die aus einem Lebensmittel und der Verpackung besteht, in die das Lebensmittel vor dem Feilbieten verpackt worden ist, gleichviel, ob die Verpackung es ganz oder teilweise umschließt, jedoch auf solche Weise, dass der Inhalt nicht verändert werden kann, ohne dass die Verpackung geöffnet werden muss oder eine Veränderung erfährt; Lebensmittel, die auf Wunsch des Verbrauchers am Verkaufsort verpackt oder im Hinblick auf ihren unmittelbaren Verkauf vorverpackt werden, werden vom Begriff des vorverpackten Lebensmittels nicht erfasst.
14 Die in Rede stehenden Produkte der Klägerin unterfallen dieser Definition. Die einzelnen Süßwarenstücke sind Lebensmittel, von denen jeweils mehrere Exemplare in einen Beutel gefüllt wurden. Dieser Beutel umschließt die Lebensmittel und muss geöffnet werden, um an die Süßwaren zu gelangen. Der Verpackungsvorgang hat vor dem Feilbieten und nicht erst auf Wunsch des Käufers am Verkaufsort oder im Hinblick auf den unmittelbaren Verkauf stattgefunden. Der befüllte Beutel ist auch für den Kauf durch den Endverbraucher bestimmt; gemeinsam stellen Beutel und Inhalt die Verkaufseinheit dar, die an die Verbraucher abgegeben werden soll.
15 bb) Soweit das Berufungsgericht angenommen hat, bei den Produkten der Klägerin handle es sich nicht um vorverpackte Lebensmittel, weil es an der Unmittelbarkeit zwischen Lebensmittel und Vorverpackung fehle, steht dies nicht mit Bundesrecht in Einklang. Bei einem vorverpackten Lebensmittel i. S. d. Art. 2 Abs. 2 Buchst. e LMIV muss die Vorverpackung das Lebensmittel nicht unmittelbar umschließen. Ein solches Unmittelbarkeitserfordernis findet im Wortlaut der Norm keine Stütze. Es wäre auch nicht mit der Voraussetzung in Anhang IX Nr. 4 LMIV vereinbar, dass eine Vorverpackung mehrere einzelne Packungen enthalten kann, die als solche keine Verkaufseinheit darstellen, d. h. als solche nicht an den Endverbraucher abgegeben werden. In diesen Fällen kann die Vorverpackung - als die Verpackung, in der das Produkt zur Abgabe an den Verbraucher bestimmt ist - nicht unmittelbar mit dem Lebensmittel verbunden sein. Gründe dafür, eine aus mehreren Lebensmitteleinzelpackungen bestehende Vorverpackung nicht als vorverpacktes Lebensmittel zu betrachten - mit der Konsequenz, dass etwa die Pflicht nach Art. 12 Abs. 2 LMIV, die verpflichtenden Informationen direkt auf der Verpackung oder auf einem an dieser befestigten Etikett anzubringen, nicht eingriffe –, sind nicht erkennbar.
16 cc) Auf dem dargestellten Verstoß gegen Bundesrecht beruht das Berufungsurteil indes nicht. Das Berufungsgericht ist trotz der Verneinung des Vorliegens vorverpackter Lebensmittel davon ausgegangen, dass die Klägerin gemäß Art. 9 Abs. 1 Buchst. e LMIV die Nettofüllmenge des Lebensmittels angeben muss.
17 c) Das Berufungsgericht hat weiter angenommen, dass die Produkte der Klägerin den Vorschriften der Art. 23 Abs. 1 und 3 i. V. m. Anhang IX Nr. 4 LMIV unterfallen. Ausgehend von seinen nach § 137 Abs. 2 VwGO bindenden tatsächlichen Feststellungen ist dies mit Bundesrecht vereinbar.
18 Art. 23 Abs. 1 LMIV bestimmt, dass die Nettofüllmenge eines Lebensmittels in Litern, Zentilitern, Millilitern, Kilogramm oder Gramm auszudrücken ist, und zwar, je nachdem, was angemessen ist, d. h. bei flüssigen Erzeugnissen in Volumeneinheiten, bei sonstigen Erzeugnissen in Masseeinheiten. Art. 23 Abs. 3 LMIV verweist für technische Vorschriften für die Anwendung von Absatz 1 der Vorschrift auf Anhang IX. Nach Anhang IX Nr. 4 LMIV ist die Nettofüllmenge in Fällen, in denen eine Vorverpackung aus zwei oder mehr Einzelpackungen besteht, die nicht als Verkaufseinheiten anzusehen sind, in der Weise anzugeben, dass die Gesamtnettofüllmenge und die Gesamtzahl der Einzelpackungen angegeben werden. Bei dem äußeren Beutel, der mehrere Süßwarenstücke umschließt, handelt es sich - wie gezeigt - um eine Vorverpackung. Das Oberverwaltungsgericht hat weiter zutreffend angenommen, dass die einzelnen, gesondert umhüllten Süßwarenstücke, die unstreitig nicht als Verkaufseinheit anzusehen sind, Einzelpackungen i. S. d. Anhangs IX Nr. 4 LMIV darstellen. Es hat in Einklang mit revisiblem Recht den Begriff der Einzelpackung ausgelegt (aa) und ist zu Recht davon ausgegangen, dass eine Differenzierung nach der Größe der Einzelpackung oder den Modalitäten ihrer Verpackung nicht in Betracht kommt (bb).
19 aa) Das Berufungsgericht hat angenommen, dass eine Einzelpackung aus einer Kombination von Lebensmittel und Verpackung besteht. Für die Elemente des Begriffs der Verpackung könne auf die Definition des vorverpackten Lebensmittels zurückgegriffen werden. Eine Verpackung liegt nach Auffassung des Berufungsgerichts damit vor, wenn das Lebensmittel ganz oder teilweise umhüllt wird und der Inhalt nicht entnommen werden kann, ohne dass die Verpackung geöffnet werden muss oder eine Veränderung erfährt.
20 Dieses Verständnis steht mit Bundesrecht in Einklang. Die für den Verpackungsbegriff maßgeblichen Elemente können Art. 2 Abs. 2 Buchst. e LMIV entnommen werden. Während dort bei der Definition des vorverpackten Lebensmittels zum Teil ausschließlich für die Vorverpackung Geltung beanspruchende Merkmale - insbesondere die zeitliche Komponente und die Bestimmung als Verkaufseinheit - aufgeführt sind, stellen die Voraussetzungen der (teilweisen) Umhüllung des Lebensmittels und der Notwendigkeit, diese Umhüllung zu öffnen oder zu verändern, um an den Inhalt zu gelangen, Kennzeichen eines allgemeinen - von der Beschreibung der Vorverpackung notwendigerweise umfassten - Begriffs der Verpackung dar.
21 bb) Ebenfalls in Einklang mit revisiblem Recht hat das Berufungsgericht angenommen, dass im Rahmen des Begriffs der nicht als Verkaufseinheit anzusehenden Einzelpackung i. S. d. Anhangs IX Nr. 4 LMIV nicht nach der Größe der Einzelpackung oder den Verpackungsmodalitäten - etwa Art oder Zweck der jeweiligen Verpackung - zu differenzieren ist.
22 (1) Dem Wortlaut des Anhangs IX Nr. 4 LMIV lässt sich kein Ansatzpunkt für eine solche Differenzierung entnehmen. Der dargelegte Verpackungsbegriff und der Umstand, dass die Verordnung in anderen Bestimmungen Sonderregelungen für bestimmte Verpackungen vorsieht - etwa in Art. 16 Abs. 2 LMIV für Verpackungen, deren größte Oberfläche weniger als 10 cm2 beträgt –, sprechen dafür, dass der Unionsgesetzgeber es ausdrücklich geregelt hätte, wenn er bestimmte Einzelpackungen abhängig von Größe oder Eigenheiten der jeweiligen Verpackung von der Regelung in Anhang IX Nr. 4 LMIV hätte ausnehmen wollen.
23 Aus einem Vergleich der verschiedenen Sprachfassungen von Anhang IX Nr. 3 und Nr. 4 LMIV ergibt sich nichts Anderes. Soweit die Klägerin darauf hinweist, in der deutschen Sprachfassung werde in Nr. 3 und Nr. 4 einheitlich von "Einzelpackungen" gesprochen, während in der englischen und französischen Sprachfassung verschiedene Begriffe – "préemballages individuels" bzw. "individual prepacked items" in Nr. 3 und "emballages individuels" bzw. "individual packages" in Nr. 4 - verwandt würden, übersieht sie, dass auch die deutsche Sprachfassung in Anhang IX Nr. 3 und 4 unterschiedliche Begriffe enthält. So ist in Nr. 3 die Rede von "Einzelpackungen", in Nr. 4 von "Einzelpackungen, die nicht als Verkaufseinheit anzusehen sind". Davon abgesehen ist nicht erkennbar, was sich hieraus für die Definition der Einzelpackungen in Anhang IX Nr. 4 LMIV ergeben soll.
24 (2) Auch die Gesetzgebungshistorie lässt nicht erkennen, dass im Rahmen des Anhangs IX Nr. 4 LMIV zwischen verschiedenen nicht als Verkaufseinheit bestimmten Einzelpackungen zu differenzieren ist. Soweit der deutsche Verordnungsgeber bei Schaffung der Verordnung über Fertigpackungen (Fertigpackungsverordnung) vom 18. Dezember 1981 (BGBl. I S. 1585) in Umsetzung der Richtlinie 79/112/EWG des Rates vom 18. Dezember 1978 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Etikettierung und Aufmachung von für den Endverbraucher bestimmten Lebensmitteln sowie die Werbung hierfür (ABl. L 33 S. 1) angenommen hat, "einzeln umhüllte Erzeugnisse, bei denen die bloße Umhüllung nicht als Packmittel betrachtet werden kann, wie z. B. einzeln umhüllte Bonbons oder Pralinen" gälten nicht als Packung im Sinne des Art. 8 RL 79/112/EWG, einer der Vorgängerregelungen des Anhangs IX Nr. 4 LMIV (vgl. BR-Drs. 424/81 S. 73), lässt dies keine Rückschlüsse auf den Willen des Unionsgesetzgebers zu. Die historische Betrachtung spricht vielmehr dagegen, Unterscheidungen zwischen verschiedenen Verpackungsmodalitäten zu machen. Der Unionsgesetzgeber hat in Anhang IX Nr. 4 LMIV - anders als in den Vorgängerregelungen in Art. 8 RL 79/112/EWG und Art. 8 Abs. 2 Buchst. d der Richtlinie 2000/13/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. März 2000 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Etikettierung und Aufmachung von Lebensmitteln sowie die Werbung hierfür (ABl. L 109 S. 29) – keine Möglichkeiten mehr vorgesehen, durch unionsrechtliche oder nationale Regelungen von der Angabe der Gesamtzahl der Einzelpackungen abzusehen. Dies deutet darauf hin, dass er eine umfassende Geltung der Vorschrift des Anhangs IX Nr. 4 LMIV beabsichtigt hat.
25 (3) Sinn und Zweck der Regelung in Anhang IX Nr. 4 LMIV sprechen ebenfalls nicht für eine Differenzierung nach der Größe der Einzelpackung oder den Modalitäten ihrer Verpackung. Die Vorschrift ermöglicht es dem Verbraucher, bei einer Mehrzahl von einzeln verpackten Lebensmitteln in einer Vorverpackung - etwa einem Beutel - zu erkennen, wie viele einzelne Stücke er bei Kauf eines solchen Beutels erhält. Diese Information ist für ihn unabhängig davon nützlich, aus welchem Grund - etwa zum Schutz vor Zusammenkleben oder Verunreinigungen - der Lebensmittelunternehmer die Stücke einzeln umhüllt hat. Sinn und Zweck der Vorschrift sprechen dafür, auch kleinteilige Einzelpackungen wie einzeln umhüllte Bonbons unter den Begriff der Einzelpackung zu fassen. Der Information des Verbrauchers über die Zahl der enthaltenen Einzelpackungen kommt nicht nur bei größeren, einzeln abgezählten Stücken Bedeutung zu. Unabhängig davon, dass offen bliebe, wo die Grenze zwischen "kleinen" und "großen" Einzelpackungen zu ziehen wäre, ist jedenfalls bei kleineren Einzelstücken die Gesamtzahl der in einer Vorverpackung enthaltenen Stücke regelmäßig eher schwerer abzuschätzen als bei größeren Einzelstücken. Ob der einzelne Verbraucher einen Bonbon als "Einzelpackung" betrachten würde, ist dabei nicht relevant.
26 d) Das Berufungsgericht hat auf der Grundlage seiner den Senat bindenden tatsächlichen Feststellungen ohne Verstoß gegen revisibles Recht angenommen, dass die Informationspflichten der Lebensmittelunternehmer nach Anhang IX Nr. 4 LMIV in der vorstehenden Auslegung nicht unverhältnismäßig in ihre Grundrechte eingreifen. Dabei ist es zutreffend davon ausgegangen, dass, soweit es um die Pflichten nach der Lebensmittelinformationsverordnung geht als Maßstab die Grundrechte der EU-Grundrechtecharta heranzuziehen sind, denn insoweit richtet sich der Rechtsstreit nach durch das Unionsrecht vollständig vereinheitlichten Regelungen (vgl. BVerfG, Beschluss vom 6. November 2019 - 1 BvR 276/17 - BVerfGE 152, 216 Rn. 42 - Recht auf Vergessen II).
27 aa) In Betracht kommt ein Eingriff durch die Pflicht zur Angabe der in der Vorverpackung enthaltenen Einzelpackungen in die Berufsfreiheit (Art. 15 GrCh) oder die unternehmerische Freiheit (Art. 16 GrCh) der Lebensmittelunternehmer.
28 bb) Ein Eingriff in diese Grundrechte ist gemäß Art. 52 Abs. 1 GrCh zulässig. Hiernach muss jede Einschränkung der Ausübung der in der Charta anerkannten Rechte und Freiheiten gesetzlich vorgesehen sein und den Wesensgehalt dieser Rechte und Freiheiten achten. Unter Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit dürfen Einschränkungen nur vorgenommen werden, wenn sie erforderlich sind und den von der Union anerkannten dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzungen oder den Erfordernissen des Schutzes der Rechte und Freiheiten anderer tatsächlich entsprechen. Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verlangt nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs, dass die Handlungen der Unionsorgane nicht die Grenzen dessen überschreiten, was zur Erreichung der mit der fraglichen Regelung zulässigerweise verfolgten Ziele geeignet und erforderlich ist, wobei dann, wenn mehrere geeignete Maßnahmen zur Auswahl stehen, die am wenigsten belastende zu wählen ist und die verursachten Nachteile nicht außer Verhältnis zu den angestrebten Zielen stehen dürfen (EuGH, Urteil vom 30. Juni 2016 - C-134/15 [ECLI:EU:C:2016:498] - Rn. 33).
29 Die Anforderungen des Art. 52 Abs. 1 GrCh sind erfüllt. Die Informationspflichten nach Art. 23 Abs. 1 und 3 i. V. m. Anhang IX Nr. 4 LMIV sind gesetzlich vorgesehen und achten den Wesensgehalt der berührten Grundrechte. Auch steht die Annahme des Berufungsgerichts, es handle sich um eine verhältnismäßige Regelung, ausgehend von seinen bindenden tatsächlichen Feststellungen in Einklang mit revisiblem Recht.
30 (1) Der Unionsgesetzgeber verfolgt mit der Bestimmung in Anhang IX Nr. 4 LMIV, nach der neben dem Füllgewicht der Vorverpackung auch die Zahl der enthaltenen Einzelpackungen anzugeben ist, von der Union anerkannte, dem Gemeinwohl dienende Zielsetzungen i. S. d. Art. 52 Abs. 1 Satz 2 GrCh. Mit der Angabe soll - ebenso wie mit den weiteren verpflichtenden Informationen - Verbrauchern eine für ihre Kaufentscheidungen relevante Information zugänglich gemacht werden, damit sie eine fundierte Wahl treffen können (vgl. etwa Erwägungsgründe 4 und 17 LMIV). Die Verbraucherinformation ist eines der von der Union zu fördernden Ziele (vgl. Art. 169 Abs. 1 AEUV).
31 (2) Die (zusätzliche) Pflicht zur Angabe der Zahl der in einer Vorverpackung enthaltenen Einzelpackungen ist geeignet, dieses Ziel zu erreichen. Das Oberverwaltungsgericht hat angenommen, dass der Angabe der Stückzahl ein ergänzender Informationswert zukommt. Die Anzahl der in einer Vorverpackung enthaltenen Einzelpackungen gebe dem Käufer eine weitere Orientierungshilfe, die ihm die Kaufentscheidung erleichtern könne. Insbesondere bei Produkten, die in unterschiedlich großen Vorverpackungen angeboten würden, könne die Stückzahl die Kaufentscheidung beeinflussen. Hilfreich sei dies vor allem, wenn der Verbraucher abschätzen müsse, wie viele Vorverpackungen er für bestimmte Anlässe erwerben müsse. Die Klägerin hat gegen diese Feststellungen keine Verfahrensrügen erhoben. Ihre inhaltliche Kritik, es handle sich bei der Angabe der Stückzahl um einen systemwidrigen Informationsüberschuss, mit dem dem Verbraucher kein Mehrwert an Information geliefert werde, überzeugt nicht. Das Berufungsgericht hat nachvollziehbar mehrere Fallgestaltungen aufgezeigt, in denen die Stückzahl und damit die Information hierüber Einfluss auf die Kaufentscheidung des Verbrauchers haben kann.
32 (3) Anhaltspunkte dafür, dass die Regelung in Anhang IX Nr. 4 LMIV über das hinausgeht, was zur Zielerreichung notwendig ist, oder ein weniger belastendes geeignetes Mittel gegeben ist, sind nicht erkennbar.
33 (4) Schließlich stehen die Nachteile durch die Pflicht zur Angabe der Stückzahl nicht außer Verhältnis zum damit angestrebten Ziel der Verbraucherinformation. Wie dargestellt kann die Kenntnis von der Anzahl der in einer Vorverpackung enthaltenen Artikel nicht unerhebliche Bedeutung für die Kaufentscheidung der Verbraucher haben. Erhebliche Belastungen der Lebensmittelunternehmer, die außer Verhältnis zu dem Informationsgewinn für den Verbraucher stehen, sind ausgehend von den bindenden tatsächlichen Feststellungen des Berufungsgerichts nicht zu erkennen.
34 Insbesondere kommt es nicht zu unzumutbaren Belastungen durch das Zusammenspiel von Lebensmittelinformationsverordnung und Fertigpackungsrecht. Die Lebensmittelinformationsverordnung regelt, wie die Nettofüllmenge eines vorverpackten Lebensmittels anzugeben ist, das Fertigpackungsrecht, welche Abweichungen der Befüllung von der Nennfüllmenge zulässig sind. Zwar führt die Angabe der Zahl der in einer Vorverpackung enthaltenen Einzelpackungen zusätzlich zur Angabe des Füllgewichts dazu, dass nicht nur die Bestimmungen zur zulässigen Abweichung des tatsächlichen Gewichts vom angegebenen Gewicht einzuhalten sind (vgl. die in Umsetzung von Anhang I der Richtlinie 76/211/EWG des Rates vom 20. Januar 1976 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Abfüllung bestimmter Erzeugnisse nach Gewicht oder Volumen in Fertigpackungen <ABl. L 46 S. 1> erlassene Vorschrift des § 16 Abs. 1 i. V. m. § 9 der Verordnung über Fertigpackungen und andere Verkaufseinheiten <Fertigpackungsverordnung - FPackV> vom 18. November 2020 <BGBl. I 2504>), sondern zugleich auch die Regelungen zur Abweichung bei Stückzahlangaben (vgl. § 16 Abs. 1 i. V. m. § 26 Abs. 1 und 2 Nr. 2 FPackV) gewahrt werden müssen. Eine unverhältnismäßige Belastung der Lebensmittelunternehmer folgt hieraus aber nicht.
35 Allein der Umstand, dass § 16 Abs. 1 i. V. m. § 26 Abs. 1 FPackV bei einer Nennfüllmenge von 30 oder weniger Stück keine Minusabweichung von der angegebenen Zahl der Einzelstücke zulässt und damit strenger ist als die Füllmengenanforderungen an nach Gewicht gekennzeichnete Fertigpackungen in § 16 Abs. 1 i. V. m. § 9 FPackV, die gewisse Toleranzen der Füllmengen zulassen, begründet keine unverhältnismäßigen Nachteile. Bei nach Gewicht gekennzeichneten Fertigpackungen genügt es, dass bei Herstellung ein näher bestimmter Mittelwert der Füllmengen die Nennfüllmenge nicht unterschreitet (§ 9 Abs. 1 Nr. 1 FPackV) und 98 % der Packungen die zulässigen Minusabweichungen nicht unterschreiten (§ 9 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 3 FPackV). Sie dürfen in den Verkehr gebracht werden, wenn zum Zeitpunkt der Herstellung und beim Inverkehrbringen keine Packung das Zweifache der nach Absatz 3 zugelassenen Minusabweichung überschreitet (§ 9 Abs. 4 FPackV). Dass mit Blick hierauf die Einhaltung der Füllmengenanforderungen an nach Stückzahl gekennzeichnete Fertigpackungen eine unzumutbare Härte darstellt, ist nicht erkennbar; ein Anspruch darauf, dass bei zwei einzuhaltenden Vorschriften nur die günstigere Anwendung findet, besteht nicht. Im Übrigen ist nicht ersichtlich, inwiefern die verpflichtende Kennzeichnung nach Stückzahl - wie die Klägerin meint - zu einer "Abschaffung des Mittelwertprinzips" führen sollte. Die auf den Mittelwert der Füllmengen abstellende Vorschrift für nach Gewicht gekennzeichnete Fertigpackungen bleibt anwendbar. Für nach Stückzahl gekennzeichnete Fertigpackungen mit einer Nennfüllmenge von mehr als 30 Stück genügt es ebenfalls, wenn ein näher bestimmter Mittelwert der Füllmengen die Nennfüllmenge nicht unterschreitet und keine Packung eine zulässige Minusabweichung überschreitet (§ 26 Abs. 2 FPackV).
36 Auch ist die gleichzeitige Einhaltung der beiden dargestellten Toleranzgrenzen ohne unverhältnismäßige Belastungen der Lebensmittelunternehmer möglich. Das Oberverwaltungsgericht hat festgestellt, dass bei einem - wie bei der Klägerin - am Gewicht orientierten Abfüllprozess trotz produktionsbedingter Schwankungen des Gewichts der Einzelstücke Gesamtgewicht und Stückzahl so angegeben werden können, dass sie nicht gegen die Vorschriften über die maximal zulässigen Füllmengenabweichungen verstoßen. Hierfür könne die geringstmögliche Stückzahl ermittelt werden, indem die Gesamtnettofüllmenge unter Abzug der maximalen Minusabweichung durch das Maximalstückgewicht dividiert werde. Die so ermittelte geringstmögliche Stückzahl könne auf der Vorverpackung angegeben werden. Die Klägerin hat diese Feststellung nicht mit zulässigen und begründeten Verfahrensrügen angegriffen. Soweit sie im Schriftsatz vom 30. Januar 2023 vorgetragen hat, das Oberverwaltungsgericht sei nach § 86 VwGO verpflichtet gewesen, ein Sachverständigengutachten zur Frage der Schwankungen der Einzelstückgewichte bei kleinteiligen Süßwaren einzuholen, betraf dieser Vortrag die Repräsentativität der Probenziehung durch den Beklagten (UA S. 22 unter (1)), nicht die das Urteil selbständig tragende Ermittlung der Stückzahl im Rechenwege (UA S. 23 f. unter (2)). Im Übrigen hat die Beklagte den Verfahrensmangel erst nach Ablauf der Frist für die Begründung der Revision (§ 139 Abs. 3 Satz 1 und 4 VwGO) geltend gemacht.
37 Das vom Berufungsgericht dargelegte Vorgehen ist den Lebensmittelunternehmern auch zumutbar. Soweit es dazu führen sollte, dass sich regelmäßig mehr Einzelstücke in der Vorverpackung befinden als angegeben, verstößt dies nicht gegen die dargestellten Füllmengenvorschriften, die allein Minusabweichungen beschränken. Dass bei einer regelmäßigen Plusabweichung das Ansehen der Lebensmittelunternehmer gegenüber dem Verbraucher geschädigt würde, erscheint lebensfremd. Die Stückzahlangabe verliert damit auch nicht ihren Wert für den Verbraucher, denn dieser erfährt hierdurch, mit wie vielen Einzelstücken er beim Kauf der jeweiligen Vorverpackungen im Rahmen der zulässigen Minusabweichung sicher rechnen kann. Daher stehen auch eine Irreführung des Verbrauchers i. S. d. Art. 7 Abs. 1 LMIV oder ein Verstoß gegen Art. 7 Abs. 2 LMIV insoweit nicht im Raum. Ein nennenswerter Wettbewerbsnachteil gegenüber den Produzenten vergleichbarer Produkte wird regelmäßig nicht eintreten, denn mit produktionsbedingten Schwankungen des Gewichts der Einzelstücke sind sie ebenfalls konfrontiert. Sollte es durch die Plusabweichung der enthaltenen Einzelstücke gegenüber den angegebenen Stücken zu Ungenauigkeiten bei den Portionsangaben kommen, die nach Art. 33 Abs. 1 LMIV erforderlich sind, wenn Nährwerte nicht nur pro 100 Gramm, sondern auch pro Portion angegeben werden, kann dies die Unzumutbarkeit des dargestellten Vorgehens nicht begründen. Dem Lebensmittelunternehmer steht es insoweit frei, auf die nach Art. 33 Abs. 1 LMIV freiwillige Angabe der Nährwerte pro Portion zu verzichten. Dass es durch einen solchen Verzicht zu unverhältnismäßigen Nachteilen kommen würde, ist nicht erkennbar. Auch hier wird in aller Regel ein Wettbewerbsnachteil gegenüber sich in vergleichbarer Situation befindenden Lebensmittelunternehmern ausscheiden.
38 Ist es damit nach den tatsächlichen Feststellungen des Berufungsgerichts möglich, auch bei Beibehaltung des gewichtsorientierten Abfüllprozesses die Stückzahl anzugeben und die Füllmengenanforderungen einzuhalten, zeigt der Hinweis der Klägerin auf einen - nicht weiter konkretisierten - Aufwand für technische Umrüstungen ebenfalls keine unzumutbaren Belastungen für die Lebensmittelunternehmer auf. Dass bei dem vom Oberverwaltungsgericht beschriebenen Vorgehen Abfüllprozesse umgestellt werden müssten, ist nicht erkennbar.
39 e) Die Bestimmung in Anhang IX Nr. 4 LMIV verstößt auch nicht gegen Art. 20 GrCh. Diese Gewährleistung verlangt, dass vergleichbare Sachverhalte nicht unterschiedlich und unterschiedliche Sachverhalte nicht gleich behandelt werden, es sei denn, dass eine solche Behandlung objektiv gerechtfertigt ist (stRspr, vgl. EuGH, Urteile vom 5. März 2015 - C-463/12 [ECLI:EU:C:2015:144] - Rn. 32 und vom 22. September 2016 - C-110/15 [ECLI:EU:C:2016:717] - Rn. 44).
40 aa) Eine Ungleichbehandlung von Vorverpackungen, die unter Anhang IX Nr. 4 LMIV fallen, gegenüber solchen, die von Anhang IX Nr. 3 LMIV erfasst werden, liegt im Hinblick auf die Pflicht zur Angabe der enthaltenen Einzelpackungen nicht vor. Beide Vorschriften verlangen die Stückzahlangabe. Soweit die Klägerin vorträgt, durch die Regelung in Anhang IX Nr. 3 LMIV werde der Verbraucher für die Gesamtfüllmenge auf den Rechenweg verwiesen, folgt aus diesem Umstand keine Ungleichbehandlung im Hinblick auf die von der Klägerin angegriffene Pflicht zur Angabe der Gesamtzahl der Einzelpackungen.
41 bb) Eine gegen Art. 20 GrCh verstoßende Ungleichbehandlung liegt auch nicht darin, dass bei Vorverpackungen, die mehrere nicht einzeln umhüllte Lebensmittel enthalten, die Anzahl der einzelnen Stücke nicht angegeben werden muss. Die Sachverhalte sind insoweit bereits nicht vergleichbar i. S. d. Art. 20 GrCh. Für einzeln verpackte Lebensmittel eröffnen sich durch die gesonderte Verpackung gegenüber dem nicht einzeln umhüllten Lebensmittel erweiterte Verwendungsmöglichkeiten. Sie eignen sich insbesondere dafür, einzeln oder in Teilmengen an eine Vielzahl von Personen weitergegeben zu werden. Im Hinblick auf eine solche Verwendung ist es von besonderem Interesse, die Anzahl der enthaltenen Stücke zu kennen, um etwa ermitteln zu können, wie viele Vorverpackungen - hier in Form von Beuteln mit Süßwaren - mit Blick auf eine bekannte Anzahl von Personen, an die das Lebensmittel einzeln weitergegeben werden soll, erworben werden müssen.
42 f) Nichts Anderes ergibt sich im Hinblick darauf, dass die Belastungen durch die Füllmengenanforderungen im nationalen Recht wurzeln, aus dem nationalen Verfassungsrecht, insbesondere aus Art. 12 Abs. 1 und Art. 3 Abs. 1 GG.
43 3. Angesichts des klaren Befundes zum Verständnis der Tatbestandsmerkmale des Anhangs IX Nr. 4 LMIV und zur Vereinbarkeit dieser Bestimmung mit den Grundrechten der Grundrechte-Charta besteht für den Senat kein Anlass, Fragen zu ihrer Auslegung dem Gerichtshof der Europäischen Union zur Vorabentscheidung nach Art. 267 Abs. 3 AEUV vorzulegen. Eine Vorlagepflicht eines letztinstanzlich entscheidenden Gerichts besteht nur, wenn sich in dem Verfahren entscheidungserheblich eine Frage des Unionsrechts stellt, die sich nicht bereits aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs beantwortet oder deren Beantwortung nicht so offenkundig ist, dass für vernünftige Zweifel keinerlei Raum bleibt. Dabei darf das Gericht nur dann davon ausgehen, dass ein solcher Fall vorliegt, wenn es überzeugt ist, dass auch für die Gerichte der übrigen Mitgliedstaaten und den Gerichtshof die gleiche Gewissheit bestünde (vgl. EuGH, Urteil vom 6. Oktober 2021 - C-561/19 [ECLI:EU:C:2021:799] - Rn. 39 ff, 51). Angesichts des klaren Wortlauts und der Entstehungsgeschichte der Vorschrift bleibt zur Überzeugung des Senats für vernünftige Zweifel an dem Inhalt der Bestimmung in Anhang IX Nr. 4 LMIV, soweit sie entscheidungserheblich ist, kein Raum.
44 Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO.