Beschluss vom 10.02.2023 -
BVerwG 4 VR 1.23ECLI:DE:BVerwG:2023:100223B4VR1.23.0

  • Zitiervorschlag

    BVerwG, Beschluss vom 10.02.2023 - 4 VR 1.23 - [ECLI:DE:BVerwG:2023:100223B4VR1.23.0]

Beschluss

BVerwG 4 VR 1.23

In der Verwaltungsstreitsache hat der 4. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 10. Februar 2023
durch die Vorsitzende Richterin am Bundesverwaltungsgericht Schipper und die Richter am Bundesverwaltungsgericht Brandt und Dr. Decker
beschlossen:

  1. Der Antrag wird abgelehnt.
  2. Die Antragstellerin trägt die Kosten des Verfahrens einschließlich der außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen.
  3. Der Wert des Streitgegenstandes wird auf 15 000 € festgesetzt.

Gründe

I

1 Die Antragstellerin begehrt Eilrechtsschutz gegen die Zulassung des vorzeitigen Baubeginns nach § 44c EnWG und des vorzeitigen Beginns nach § 17 WHG.

2 Die Beigeladene beantragte im Juni 2020 beim Antragsgegner die Planfeststellung für die Errichtung und den Betrieb der sog. Ostküstenleitung, 1. Abschnitt, vom Kreis Segeberg bis Lübeck. Das Vorhaben besteht im Wesentlichen aus der Errichtung und dem Betrieb einer neuen 380-kV-Höchstspannungsleitung zwischen einem neu zu errichtenden 380-kV-Umspannwerk (UW) im Kreis Segeberg und dem UW im Raum Lübeck. Es ist Teil des in der Anlage zu § 1 Abs. 1 BBPlG unter Nr. 42 aufgeführten Vorhabens "Neubau Höchstspannungsleitung Kreis Segeberg - Lübeck - Siems mit Abzweig Ratekau - Göhl; Drehstrom Nennspannung 380 kV" mit verschiedenen Einzelmaßnahmen, das in § 4 Abs. 1 BBPlG als Pilotvorhaben für den Einsatz von Erdkabeln genannt wird. Die Beigeladene plant die Errichtung zweier Erdkabelabschnitte, u. a. im Gebiet der Antragstellerin. Der dort vorgesehene Erdkabelabschnitt soll auf einer Länge von etwa 950 m in einem Düker verlegt werden. Der Planfeststellungsbeschluss soll voraussichtlich im Sommer 2023 erlassen werden.

3 Mit Schreiben vom 21. Oktober 2022 beantragte die Beigeladene für bestimmte Baumaßnahmen die Zulassung des vorzeitigen Baubeginns nach § 44c EnWG und die vorzeitige Zulassung des Beginns der Gewässerbenutzung nach § 17 WHG. Dem entsprach der Antragsgegner mit Bescheid vom 15. Dezember 2022. Hinsichtlich der vorzeitigen Zulassung des Beginns der Gewässerbenutzung ordnete er die sofortige Vollziehung gemäß § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 VwGO an.

4 Am 13. Januar 2023 hat die Antragstellerin Klage erhoben - 4 A 1.23 - und um einstweiligen Rechtsschutz nachgesucht. Die vorzeitig zugelassenen Maßnahmen verletzten ihre Planungshoheit und ihr zivilrechtliches Eigentum. Ihr Aussetzungsinteresse überwiege das Interesse des Antragsgegners und der Beigeladenen an der sofortigen Vollziehung des vorzeitigen Baubeginns. Der Zulassungsbescheid sei rechtswidrig, weil der Trassenkorridor rechtsfehlerhaft ausgewählt worden sei. Die an der BAB 20 verlaufende Korridorvariante sei eindeutig vorzugswürdig. Mit einer Entscheidung im Planfeststellungsverfahren zugunsten der Beigeladenen könne daher nicht gerechnet werden. Auch die sonstigen Voraussetzungen für die Zulassung des vorzeitigen (Bau-)Beginns lägen nicht vor.

5 Der Antragsgegner und die Beigeladene treten dem entgegen.

II

6 Der Antrag hat keinen Erfolg.

7 Das Bundesverwaltungsgericht ist als Gericht der Hauptsache nach § 50 Abs. 1 Nr. 6 VwGO, § 1 Abs. 1 BBPlG i. V. m. Nr. 42 der Anlage zu § 1 Abs. 1 BBPlG für die Entscheidung über den Antrag auf Anordnung bzw. Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung der Klage gemäß § 80a Abs. 3, § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO zuständig.

8 1. Der Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage gegen die Zulassung des vorzeitigen Baubeginns nach § 44c Abs. 1 EnWG ist unzulässig. Er ist zwar gemäß § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO i. V. m. § 44c Abs. 4 Satz 1 EnWG statthaft. Die Antragstellerin ist aber nicht antragsbefugt (§ 42 Abs. 2 VwGO analog).

9 Die Antragsbefugnis setzt voraus, dass die Verletzung eigener Rechte des Antragstellers auf der Grundlage der Antragsbegründung als möglich erscheint, also nicht offensichtlich und eindeutig nach jeder Betrachtungsweise ausgeschlossen werden kann (stRspr, vgl. BVerwG, Urteil vom 15. Dezember 2016 - 4 A 4.15 - BVerwGE 157, 73 Rn. 11). Daran fehlt es. Eine mögliche Verletzung eigener Rechte der Antragstellerin durch die zugelassenen Maßnahmen oder die vorzeitige Zulassung als solche ist nicht ersichtlich.

10 a) Die Antragstellerin wird nicht in ihrer Planungshoheit aus Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG verletzt.

11 Die Planungshoheit vermittelt eine wehrfähige Rechtsposition gegen fremde Fachplanungen auf dem eigenen Gemeindegebiet, wenn das Vorhaben eine bestimmte Planung der Gemeinde nachhaltig stört, wesentliche Teile des Gemeindegebiets einer durchsetzbaren gemeindlichen Planung entzieht oder kommunale Einrichtungen in ihrer Funktionsfähigkeit erheblich beeinträchtigt (stRspr, vgl. BVerwG, Urteile vom 15. Dezember 2016 - 4 A 4.15 - BVerwGE 157, 73 Rn. 58 und vom 27. Juli 2021 - 4 A 14.19 - <insoweit in Buchholz 451.17 § 43 EnWG Nr. 12 nicht abgedruckt> juris Rn. 85). Die gemeindliche Planungshoheit kann auch betroffen sein, wenn sich ein Fachplanungsvorhaben auf wesentliche Teile von Baugebieten auswirkt, die in Bebauungsplänen ausgewiesen sind (BVerwG, Urteil vom 9. Dezember 2021 - 4 A 2.20 - NVwZ-RR 2022, 317 Rn. 13 m. w. N.).

12 Die Antragstellerin macht geltend, in ihrem Flächennutzungsplan würden im Bereich des geplanten Dükers Flächen für Wald, Landwirtschaft und Wohnbauflächen ausgewiesen. Das geplante Erdkabel quere Wohnbauflächen, hierdurch gingen ihr ca. 57 Grundstücke bzw. 131 Einwohner "verloren". Die infrastrukturelle Anbindung des Gebiets werde durch das Erdkabel gekappt. Die im Bebauungsplan Nr. 96, 4. Änderung, vorgesehenen Ausgleichsmaßnahmen könnten wegen des geplanten Erdkabels nur eingeschränkt durchgeführt werden. Insbesondere könnten keine tiefwurzelnden Pflanzen oder Bäume gesetzt werden. Das führt nicht auf eine mögliche Verletzung der Planungshoheit.

13 Die Zulassung des vorzeitigen Beginns hat nicht die Rechtswirkungen, die die Antragstellerin ihr beimisst. Eine Anordnung nach § 44c Abs. 1 EnWG nimmt die endgültige Zulassung des Vorhabens nicht vorweg, sondern dient nur Beschleunigungszwecken. Die von § 44c Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 EnWG geforderte Prognose, dass mit einer Entscheidung im Planfeststellungsverfahren zugunsten des Vorhabenträgers gerechnet werden kann, hat keinen Regelungscharakter und entfaltet keine Bindungswirkung für das nachfolgende Verfahren über die endgültige Zulassung des Vorhabens; sie ist lediglich tatbestandliche Voraussetzung für die Zulassung des vorzeitigen Baubeginns (vgl. zu § 7a AbfG/§ 9a WHG: BVerwG, Beschluss vom 30. April 1991 - 7 C 35.90 - NVwZ 1991, 994 <995>; zu § 8a BImSchG: OVG Magdeburg, Beschluss vom 24. August 2016 - 2 M 43/16 - NVwZ-RR 2017, 23 Rn. 16; OVG Münster, Beschluss vom 10. November 2020 - 8 B 1409/20.AK - BauR 2021, 215 <216 f.> = juris Rn. 24 ff.). Die Prognose wird daher im gerichtlichen Verfahren gegen eine Entscheidung nach § 44c EnWG nicht überprüft; von dem Vorhaben Betroffene können Einwände gegen dessen Zulässigkeit nur im Rahmen eines Rechtsmittels gegen die Entscheidung über die endgültige Zulassung erheben (vgl. BVerwG, Beschluss vom 30. April 1991 - 7 C 35.90 - a. a. O. LS. 2; OVG Magdeburg, Beschluss vom 24. August 2016 - 2 M 43/16 - a. a. O. Rn. 16; OVG Münster, Beschluss vom 10. November 2020 - 8 B 1409/20.AK - BauR 2021, 215 <216 f.> = juris Rn. 26). Eine Beeinträchtigung der Planungshoheit kann somit - wenn überhaupt angesichts der beschränkten Geltungsdauer eines Bescheides nach § 44c EnWG - nur durch die zugelassenen Maßnahmen bewirkt werden. Das ist hier offensichtlich nicht der Fall.

14 Die von den Maßnahmen betroffenen Gebiete der Antragstellerin nördlich Beckershof, Henstedter Baum, Maschloh und Gräbenhorst liegen sämtlich außerhalb des Geltungsbereichs der oben genannten Bauleitpläne. Die in den Bauleitplänen ausgewiesenen Flächen befinden sich im Westen des Gemeindegebiets. Dagegen sind die von der Antragstellerin in erster Linie bekämpften Maßnahmen zur Errichtung der Startbaugrube für den Düker und die damit im Zusammenhang stehenden Arbeiten (Gehölzarbeiten, Entnahme von Bäumen, Durchführung von artenschutzrechtlichen Vergrämungsmaßnahmen, archäologische Prospektierungen, Abschieben eines Knicks, Errichtung einer geschotterten Zufahrt, Einbringung von Bohrpfählen, Abschieben von Erdreich) im östlichen Gemeindegebiet vorgesehen.

15 b) Die Antragstellerin ist nicht eigentumsbetroffen.

16 Eine Gemeinde ist zwar nicht Trägerin des Grundrechts aus Art. 14 Abs. 1 GG. Sie kann sich aber wie ein privater Grundstückseigentümer auf ihr zivilrechtlich geschütztes Eigentum berufen (vgl. BVerfG, Beschluss vom 8. Juli 1982 - 2 BvR 1187/80 - BVerfGE 61, 82 <100 f.>; BVerwG, Urteil vom 15. Dezember 2016 - 4 A 4.15 - BVerwGE 157, 73 Rn. 13).

17 Die Zulassung vorzeitiger Maßnahmen auf ihren Grundstücken bewirkt keine Verletzung des zivilrechtlichen Eigentums der Antragstellerin. Die Zulassung des vorzeitigen Baubeginns hat keine enteignungsrechtliche Vorwirkung und entfaltet keine privatrechtlichen Wirkungen. Sie betrifft nur die öffentlich-rechtliche Zulassungsebene und überwindet das durch den Planfeststellungsvorbehalt begründete präventive Bauverbot. Sie verleiht dem Vorhabenträger aber keine privatrechtlichen Befugnisse zur Nutzung fremder Grundstücke. § 44c Abs. 1 EnWG setzt nicht mehr voraus, dass der Vorhabenträger über die für die Maßnahmen notwendigen privaten Rechte verfügt. Der Vorhabenträger muss sich daher begleitend zivilrechtlich um die Zustimmung des jeweiligen Grundstückseigentümers bemühen (vgl. BT-Drs. 20/2042 S. 46). Verweigert dieser seine Zustimmung, können die auf seinem Grundstück geplanten Maßnahmen nicht durchgeführt werden; die Zulassungsentscheidung geht dann insoweit ins Leere (vgl. Kümper, UPR 2020, 468 <472>).

18 So liegen die Dinge hier. Die Antragstellerin hat die Zustimmung zu Arbeiten auf ihren Grundstücken mit Schriftsatz vom 2. Februar 2023 verweigert. Die Beigeladene ist daher zivilrechtlich gehindert, die Grundstücke der Antragstellerin zu nutzen. Damit droht weder eine unmittelbare Beeinträchtigung des Eigentums noch bedarf es insoweit vorläufigen Rechtsschutzes. Mittelbare Einwirkungen auf ihre Grundstücke infolge der vorzeitig zugelassenen Maßnahmen auf benachbarten Grundstücken hat die Antragstellerin nicht geltend gemacht.

19 c) Auch eine Verletzung von drittschützenden Vorschriften ist offensichtlich und eindeutig ausgeschlossen.

20 Die von der Antragstellerin angegriffene Prognose nach § 44c Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 EnWG ist - wie oben angegeben - nicht Gegenstand der Überprüfung im Rahmen eines Drittrechtsbehelfs; § 44c Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 EnWG ist nicht drittschützend (vgl. BVerwG, Beschluss vom 30. April 1991 - 7 C 35.90 - NVwZ 1991, 994 <994 f.>).

21 Gleiches gilt für § 44c Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EnWG, wonach der Vorhabenträger ein berechtigtes oder ein öffentliches Interesse an der Zulassung des vorzeitigen Baubeginns darlegen muss (Nebel/Fest, in: Steinbach/Franke, Kommentar zum Netzausbau, 3. Aufl. 2022, § 44c EnWG Rn. 61).

22 Ob § 44c Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 EnWG drittschützend ist, kann dahinstehen (vgl. dazu etwa Nebel/Fest a. a. O.; zu § 8a Abs. 1 BImSchG: OVG Magdeburg, Beschluss vom 24. August 2016 - 2 M 43/16 - NVwZ-RR 2017, 23 Rn. 17). Dafür spricht, dass diese Regelung nur die Durchführung reversibler Maßnahmen gestattet. Dadurch soll die Schaffung vollendeter Tatsachen auch im Interesse Drittbetroffener verhindert werden, deren Rechtsschutz gegen das Vorhaben wenn nicht rechtlich, so doch faktisch an Effektivität einbüßen könnte (vgl. BVerwG, Beschluss vom 30. April 1991 - 7 C 35.90 - NVwZ 1991, 994 <996> = juris Rn. 17 f.).

23 Unter diesem Gesichtspunkt begegnet die Reversibilität der vorzeitig zugelassenen Maßnahmen entgegen der Auffassung der Antragstellerin keinen Bedenken. Die Maßnahmen zur Herstellung der Startbaugrube, die mit Zustimmung des Eigentümers auf einem an Grundstücke der Antragstellerin angrenzenden Grundstück eingerichtet werden soll, setzen keinen "Zwangspunkt" für die Errichtung des Dükers. Daran ändert nichts, dass die Bohrpfähle für die Startbaugrube nach dem angefochtenen Bescheid bei einer anderen endgültigen Planung nur bis zu einer Tiefe von 2 m unter Erdoberkante wieder entfernt werden. Es ist nicht ersichtlich, dass das Risiko einer insoweit nur unvollständigen Rückgängigmachung den weiteren Entscheidungsprozess unangemessen belastet und die Planung vor vollendete Tatsachen stellt. Gleiches gilt für den Einwand der Antragstellerin, die partielle Belassung der Bohrpfähle im Untergrund beeinträchtige das Ökosystem Quellgebiet Pinnau.

24 2. Der Antrag auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung der Klage gegen die Zulassung vorzeitigen Beginns nach § 17 WHG ist ebenfalls unzulässig. Es ist weder vorgetragen noch sonst ersichtlich, inwiefern diese Anordnung die Antragstellerin in ihren Rechten verletzen könnte.

25 Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1, § 162 Abs. 3 VwGO, die Festsetzung des Streitwerts aus § 52 Abs. 1 i. V. m. § 53 Abs. 2 Nr. 2 GKG.