Beschluss vom 10.05.2021 -
BVerwG 8 B 60.20ECLI:DE:BVerwG:2021:100521B8B60.20.0

  • Zitiervorschlag

    BVerwG, Beschluss vom 10.05.2021 - 8 B 60.20 - [ECLI:DE:BVerwG:2021:100521B8B60.20.0]

Beschluss

BVerwG 8 B 60.20

  • VG Greifswald - 03.08.2020 - AZ: VG 2 A 1874/18 HGW

In der Verwaltungsstreitsache hat der 8. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 10. Mai 2021
durch die Vorsitzende Richterin am Bundesverwaltungsgericht Dr. Held-Daab,
die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Dr. Rublack und
den Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Seegmüller
beschlossen:

  1. Die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Urteil des Verwaltungsgerichts Greifswald vom 3. August 2020 wird zurückgewiesen.
  2. Der Kläger trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
  3. Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwerdeverfahren und für das erstinstanzliche Verfahren, insoweit in Abänderung des Beschlusses des Verwaltungsgerichts Greifswald vom 3. August 2020, auf 70 000 € festgesetzt.

Gründe

1 Der Kläger begehrt, ihm im Wege des Wiederaufgreifens des Verfahrens eine Ausgleichsleistung für das im Zuge der Bodenreform entschädigungslos enteignete Gut B. mit M. zuzuerkennen.

2 Bei dessen Enteignung war W. als Eigentümer im Grundbuch eingetragen. Sein Erbe P. meldete 1990 vermögensrechtliche Ansprüche hinsichtlich des Gutes an und beantragte nach deren Ablehnung die Gewährung einer Ausgleichsleistung. Unter dem 27. November 2001 stellte die Mutter des Klägers ihrerseits einen Ausgleichsleistungsantrag bezüglich des Gutes. Das Verwaltungsgericht verpflichtete das Landesamt zur Regelung offener Vermögensfragen mit Urteil vom 5. April 2011, einen Entschädigungsanspruch zugunsten des Erben von P., A., festzustellen. Den Antrag der Mutter des Klägers lehnte das Landesamt mit Bescheid vom 5. Januar 2010 wegen Versäumens der Ausschlussfrist des § 6 Abs. 1 Satz 3 AusglLeistG ab und führte aus, eine Nachsichtgewährung komme nicht in Betracht. Die hiergegen vom Kläger als einem der Erben seiner Mutter erhobene Klage nahm dieser im Juni 2011 zurück.

3 Der Beklagte lehnte den Antrag des Klägers auf Wiederaufgreifen des Verfahrens ab. Die Klage dagegen hat das Verwaltungsgericht abgewiesen. Die Revision gegen sein Urteil hat es nicht zugelassen.

4 Die Beschwerde hiergegen, die sich auf eine Divergenz im Sinne des § 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO beruft und Verfahrensmängel im Sinne des § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO geltend macht, hat keinen Erfolg.

5 Bezüglich der entscheidungstragenden Erwägung, Wiederaufgreifensgründe im Sinne des § 51 VwVfG VM lägen nicht vor, sind solche Revisionszulassungsgründe nicht dargelegt (1.). Die Rügen betreffend die Zusatzerwägungen des Verwaltungsgerichts zum Urteil vom 5. April 2011 (UA S. 22 bis 24) können der Beschwerde ebenfalls nicht zum Erfolg verhelfen (2.).

6 1. Hinsichtlich der entscheidungstragenden Begründung des Verwaltungsgerichts, der Kläger habe keinen Anspruch auf Wiederaufgreifen des Verfahrens, liegt keiner der geltend gemachten Zulassungsgründe vor.

7 a) Die Revision ist insoweit nicht wegen eines der vom Kläger gerügten Verfahrensmängel (§ 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO) zuzulassen.

8 aa) Das Beschwerdevorbringen lässt nicht erkennen, dass das Verwaltungsgericht entscheidungserheblichen Akteninhalt übergangen oder aktenwidrige Tatsachen angenommen und dadurch gegen den Überzeugungsgrundsatz verstoßen hätte.

9 Nach § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO hat das Gericht seiner Überzeugungsbildung das Gesamtergebnis des Verfahrens zugrunde zu legen. Es darf nicht einzelne nach seiner materiell-rechtlichen Rechtsauffassung erheblichen Tatsachen oder Beweisergebnisse aus seiner Würdigung ausblenden. Im Übrigen darf es zur Überzeugungsbildung die ihm vorliegenden Tatsachen und Beweise frei würdigen. Die Einhaltung der verfahrensrechtlichen Grenzen zulässiger Sachverhalts- und Beweiswürdigung ist deshalb nicht schon dann in Frage gestellt, wenn ein Beteiligter das vorliegende Tatsachenmaterial anders würdigt oder aus ihm andere Schlüsse ziehen will als das Gericht. Diese Grenzen sind erst dann überschritten, wenn das Gericht nach seiner eigenen Rechtsauffassung entscheidungserheblichen Akteninhalt übergeht oder aktenwidrige Tatsachen annimmt, oder wenn die von ihm gezogenen tatsächlichen Schlussfolgerungen gegen die Denkgesetze verstoßen (vgl. BVerwG, Beschluss vom 7. Februar 2017 - 6 B 31.16 - Rn. 10 juris m.w.N.). Solche Mängel legt der Kläger nicht dar.

10 Nach der materiell-rechtlichen Rechtsauffassung der Vorinstanz setzt ein Anspruch des Klägers auf Wiederaufgreifen des Verfahrens voraus, dass die mit dessen Antrag vorgelegten Beweismittel bei Zugrundelegen der den bestandskräftigen Ablehnungsbescheid vom 5. Januar 2010 tragenden Rechtsauffassung eine ihm günstigere Entscheidung herbeigeführt hätten (§ 51 Abs. 1 Nr. 2 VwVfG MV). Dies verneint das angegriffene Urteil, weil die vom Kläger vorgelegten Urkunden weder eine rechtzeitige Antragstellung seiner Mutter noch Umstände belegten, aus denen sich nach der den Ablehnungsbescheid tragenden Rechtsauffassung ein Anspruch auf Nachsichtgewährung ergeben hätte.

11 Das Beschwerdevorbringen lässt nicht erkennen, dass das Verwaltungsgericht seiner Würdigung die jenen Bescheid tragende Rechtsauffassung in aktenwidriger oder unvollständiger Weise zugrunde gelegt hätte. Insbesondere zeigt das Beschwerdevorbringen nicht auf, dass die zusammenfassende Wiedergabe der den Bescheid tragenden Erwägungen aus der materiell-rechtlichen Sicht der Vorinstanz Wesentliches ausblendete.

12 Auch eine Aktenwidrigkeit wird nicht dargetan. Dazu hätte die Beschwerdebegründung aufzeigen müssen, dass zwischen den tatsächlichen Feststellungen des angegriffenen Urteils und dem insoweit unumstrittenen Akteninhalt ein offensichtlicher, keiner weiteren Beweiserhebung bedürftiger, zweifelsfreier Widerspruch vorliegt (BVerwG, Beschluss vom 14. Juli 2010 - 10 B 7.10 - NVwZ 2011, 55 Rn. 5 f. m.w.N.). Das ist nicht geschehen. Die Einwände gegen die verwaltungsgerichtliche Darstellung der Begründung des Ablehnungsbescheides bezeichnen keinen solchen Widerspruch. Sie wenden sich gegen ein vermeintlich unzutreffendes Verständnis der Begründung des Bescheides und betreffen insoweit dem sachlichen Recht zuzuordnende Interpretationsfragen. Auch der Vorwurf, die Begründung des Bescheides widerspreche Auffassungen, die das Landesamt in anderen Äußerungen vertreten habe, zeigt keinen offenkundigen, keiner Beweiswürdigung bedürftigen Widerspruch der Urteilsfeststellungen zum unumstrittenen Akteninhalt auf. Gleiches gilt für den übrigen Vortrag zur Aktenwidrigkeit wie etwa zur Dauer der Testamentsvollstreckung und zur Entscheidungsreife des Verwaltungsverfahrens bei Ergehen des Ablehnungsbescheides. Insoweit wird zudem nicht substantiiert dargelegt, inwieweit das angegriffene Urteil - und nicht nur der Ablehnungsbescheid - von unrichtigen Annahmen ausgeht und auf den angeblichen Mängeln beruhen kann.

13 Ob das Landesamt in seinem Bescheid alle rechtlichen Aspekte einer Nachsichtgewährung zutreffend gewürdigt hat, war nach der materiell-rechtlichen Auffassung der Vorinstanz für einen Anspruch des Klägers auf Wiederaufgreifen nicht erheblich und kann daher keinen Verstoß des angegriffenen Urteils gegen den Überzeugungsgrundsatz begründen. Die Einwände des Klägers betreffend § 2a VermG und die materiell-rechtliche und prozessuale Stellung von Miterben eines Antragstellers sind danach ebenfalls nicht geeignet, einen solchen Verfahrensmangel darzutun.

14 bb) Eine Verletzung seines Rechts auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG, § 108 Abs. 2 VwGO) hat der Kläger hinsichtlich der Erwägungen der Vorinstanz zum Fehlen eines Wiederaufgreifensanspruchs nicht substantiiert. Er legt nicht dar, dass die Vorinstanz nach ihrer Rechtsauffassung entscheidungserheblichen Vortrag des Klägers dazu nicht zur Kenntnis genommen oder nicht berücksichtigt hätte. Die weitere Rüge, das Verwaltungsgericht habe eine Überraschungsentscheidung getroffen, betrifft nicht die selbständig tragende Begründung der Klageabweisung mit dem Fehlen eines Wiederaufgreifensanspruchs, sondern die davon unabhängige Zusatzerwägung, ein für den Kläger günstigerer Zweitbescheid könne wegen des Urteils vom 5. April 2011 nicht ergehen (dazu sogleich Rn. 15 f.).

15 b) Die geltend gemachte Divergenz (§ 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO) zum Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 14. Juni 2017 - 8 C 7.16 - (BVerwGE 159, 136 Rn. 26 ff.) liegt nicht vor. Das Verwaltungsgericht hat seiner Entscheidung den dieses Urteil tragenden Rechtssatz, wonach es für einen Wiederaufgreifensanspruch aus § 51 Abs. 1 Nr. 2 VwVfG auf die für die bestandskräftige Entscheidung im Erstverfahren tragende Rechtsauffassung ankommt, ausdrücklich zugrunde gelegt. Seine Zusatzerwägung, dass dem Kläger selbst nach einem Wiederaufgreifen wegen des Urteils vom 5. April 2011 keine Ausgleichsleistungen für das Gut zuerkannt werden könnten, stellt keinen gegenteiligen Rechtssatz auf. In Anwendung des vom Bundesverwaltungsgericht entwickelten Rechtssatzes unterstellt diese Zusatzerwägung vielmehr ein Wiederaufgreifen des Verfahrens und verneint nur die Möglichkeit einer für den Kläger günstigeren Zweitentscheidung.

16 2. Die weiteren Divergenz- und Verfahrensrügen betreffen die bereits erwähnte Zusatzerwägung des Verwaltungsgerichts zum Urteil vom 5. April 2011 (UA S. 22 bis 24). Diese Rügen wenden sich im Wesentlichen gegen die Folgerungen, die die Vorinstanz aus der Rechtskraft des genannten Urteils zieht, und gegen eine - nach Auffassung des Verwaltungsgerichts - über die Rechtskraftwirkung hinausgehende Bindungswirkung auch gegenüber nicht am Verfahren Beteiligten. Sie können nicht zur Revisionszulassung führen, weil das angegriffene Urteil nicht auf der Zusatzerwägung beruhen kann. Bei dieser handelt es sich um ein obiter dictum ohne entscheidungstragende Funktion. Das ergibt sich ungeachtet der mehrdeutigen Einleitung (mit "Hinzu kommt...", vgl. UA S. 22 oben) aus dem Hinweis, auf diesen "weiteren Grund" (UA S. 22) "komm[e] es ... nicht an", weil es bereits an einem Anspruch auf ein Wiederaufgreifen des Verfahrens und damit auf eine neue Entscheidung fehle (UA S. 24, 2. Abs. a.E.). Damit spricht das Urteil der Zusatzerwägung eine selbständig tragende Funktion ab.

17 Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO. Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 47 Abs. 1 und 3, § 52 Abs. 1 und § 63 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 GKG und berücksichtigt den Flächenanteil des streitgegenständlichen Gutes an der Gesamtfläche der Güter, die bei der Entschädigungsberechnung des Beklagten im Verfahren zum Az. 1096-05SL-vh einbezogen wurden, sowie den Anteil des Klägers von einem Fünftel an der begehrten Entschädigung.