Beschluss vom 12.10.2022 -
BVerwG 3 B 24.21ECLI:DE:BVerwG:2022:121022B3B24.21.0

  • Zitiervorschlag

    BVerwG, Beschluss vom 12.10.2022 - 3 B 24.21 - [ECLI:DE:BVerwG:2022:121022B3B24.21.0]

Beschluss

BVerwG 3 B 24.21

  • VG Gießen - 29.03.2017 - AZ: 6 K 1034/16.GI
  • VGH Kassel - 28.07.2021 - AZ: 2 A 1463/20

In der Verwaltungsstreitsache hat der 3. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 12. Oktober 2022
durch die Vorsitzende Richterin am Bundesverwaltungsgericht Dr. Philipp,
den Richter am Bundesverwaltungsgericht Liebler und
die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Hellmann
beschlossen:

  1. Die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Urteil des Hessischen Verwaltungsgerichtshofs vom 28. Juli 2021 wird zurückgewiesen.
  2. Der Kläger trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
  3. Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwerdeverfahren auf 4 800 € festgesetzt.

Gründe

1 Die Nichtzulassungsbeschwerde des Klägers ist unbegründet. Weder hat die Rechtssache die geltend gemachte grundsätzliche Bedeutung (§ 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) noch liegt die behauptete Abweichung des Berufungsurteils von einer Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts vor (§ 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO).

2 I. Der Kläger wendet sich gegen eine Fahrtenbuchauflage.

3 Am 12. September 2015 wurde mit einem PKW, dessen Halter der Kläger ist, die zulässige Höchstgeschwindigkeit innerhalb geschlossener Ortschaften um 26 km/h überschritten. Die Bußgeldstelle des Regierungspräsidiums K. übersandte dem Kläger als Halter des Fahrzeugs am 23. September 2015 einen Zeugenfragebogen, dem ein Foto der Fahrerin beigefügt war. Weder erhielt das Regierungspräsidium eine Antwort noch wurde das Schreiben als nicht zugestellt zurückgesandt. Die Polizeistation G., an die das Regierungspräsidium in der Folge ein Ermittlungsersuchen richtete, teilte dem Regierungspräsidium unter dem 24. November 2015 mit, dass es sich bei der Fahrerin nicht um die Ehefrau des Klägers handele, ansonsten seien die Ermittlungen erfolglos verlaufen. Im Rahmen der polizeilichen Anhörung hatte der Kläger erklärt, er erkenne den verantwortlichen Fahrer auf dem Lichtbild nicht. Er habe 18 Angestellte.
Bei der weiblichen Person auf dem Foto könnte es sich um eine Angehörige der Angestellten handeln. Das Regierungspräsidium sandte den Vorgang mit der Bitte um Prüfung einer Fahrtenbuchauflage an den Beklagten zurück. Mit Bescheid vom 17. März 2016 ordnete der Beklagte gegenüber dem Kläger unter Anordnung des Sofortvollzugs das Führen eines Fahrtenbuchs für den PKW für die Zeit vom 1. April 2016 bis zum 31. März 2017 an.

4 Am 22. April 2016 hat der Kläger Anfechtungsklage erhoben und die Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung der Klage beantragt. Den Eilantrag hat das Verwaltungsgericht Gießen mit Beschluss vom 11. Mai 2016 abgelehnt. Auf die Beschwerde des Klägers hat der Hessische Verwaltungsgerichtshof diese Entscheidung mit Beschluss vom 6. September 2016 geändert und die aufschiebende Wirkung der Klage wiederhergestellt. An der Rechtmäßigkeit der Verfügung bestünden nach der im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes allein gebotenen summarischen Prüfung der Sach- und Rechtslage gewichtige Zweifel. Die Klage hat das Verwaltungsgericht Gießen mit Urteil vom 29. März 2017 abgewiesen. Die vom Hessischen Verwaltungsgerichtshof mit Beschluss vom 25. Mai 2020 wegen ernstlicher Zweifel an der Richtigkeit dieser Entscheidung zugelassene Berufung hat das Berufungsgericht mit Urteil vom 28. Juli 2021 durch die Vorsitzende und Berichterstatterin als Einzelrichterin (§ 87a Abs. 2 VwGO) zurückgewiesen. Zur Begründung wird im Wesentlichen ausgeführt: Die Voraussetzungen des § 31a Abs. 1 der Straßenverkehrs-Zulassungs-Ordnung (StVZO) für die Anordnung, ein Fahrtenbuch zu führen, hätten vorgelegen. Der Einwand des Klägers, es liege ein zur Rechtswidrigkeit der Anordnung führendes Ermittlungsdefizit vor, greife nicht durch. Die bis zum Eintritt der Verfolgungsverjährung erfolglos gebliebenen Bemühungen des Beklagten zur Ermittlung der verantwortlichen Fahrerin genügten den rechtlichen Anforderungen. Entgegen der Auffassung des Klägers hätten dessen Angaben bei der Polizei keinen hinreichend konkreten Anlass zu weiterer Ermittlungsarbeit gegeben. Die Angabe, es könne sich bei der Fahrerin um "einen Angehörigen der Angestellten" handeln, sei nicht geeignet gewesen, den Kreis der in Betracht kommenden Personen so einzugrenzen, dass weitere Ermittlungen innerhalb der Verjährungszeit Erfolg versprochen hätten. Auch dem Einwand des Klägers, der ermittelnde Polizeibeamte hätte ihn unter Setzung einer kurzen Äußerungsfrist zu einer Nachfrage unter seinen Angestellten nach der Fahrerin veranlassen müssen, werde unter ausdrücklicher Aufgabe der Auffassung im Senatsbeschluss vom 6. September 2016 nicht gefolgt. Es sei nicht zu erkennen, dass der Kläger zu weiteren Ermittlungen auf eine solche Nachfrage hin bereit gewesen wäre.

5 II. Die Voraussetzungen für eine Revisionszulassung wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache (1.) oder Divergenz (2.) sind nicht erfüllt.

6 1. Die vom Kläger als revisionsgerichtlich klärungsbedürftig angesehene Frage,
"darf derselbe Senat oder können Teile dessen in demselben Verfahren bei unveränderter Sach- und Tatsachenlage seine Rechtsprechung entgegen der Argumentation im einstweiligen Rechtsschutzverfahren sowie im Rahmen des Verfahrens zur Zulassung der Berufung aufheben oder entfaltet eine vorher ergangene Entscheidung, welche in demselben Verfahren vor demselben Senat getroffen wurde, aufgrund des Verbots widersprüchlichen Verhaltens für die Hauptsache Bindungswirkung",
rechtfertigt keine Revisionszulassung auf der Grundlage von § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO. Es steht auch ohne die Durchführung eines Revisionsverfahrens außer Zweifel, dass die vom Kläger für möglich gehaltene Bindungswirkung nicht besteht.

7 Aus der Fragestellung und der weiteren Begründung der Nichtzulassungsbeschwerde ergibt sich, dass der Kläger von "demselben Verfahren" bereits dann ausgeht, wenn es sich um "Entscheidungen gleichen Rubrums" handelt (vgl. Beschwerdebegründung vom 29. September 2021 S. 4), es also nicht darauf ankommen soll, ob es sich - bei gleichen Beteiligten - um ein Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes, das Verfahren auf Zulassung der Berufung oder das Berufungsverfahren selbst handelt.

8 Die hinter dieser Fragestellung stehende Annahme einer möglichen Bindungswirkung geht daran vorbei, dass die vom Kläger als widersprüchlich angesehenen Entscheidungen des Hessischen Verwaltungsgerichtshofs im Eilverfahren und dem Beschwerdeverfahren nach § 124a Abs. 4 VwGO einerseits sowie im Berufungsverfahren andererseits auf dem unterschiedlichen rechtlichen Maßstab beruhen, den das Gericht bei seiner Prüfung jeweils zugrunde zu legen hatte. Während das Berufungsurteil eine vollständige Überprüfung der Sach- und Rechtslage durch das Berufungsgericht voraussetzt, ergeht die Entscheidung im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes auf der Grundlage einer nur summarischen Prüfung. Hierauf hatte der Verwaltungsgerichtshof in seinem Eilbeschluss auch ausdrücklich hingewiesen (vgl. BA S. 2). Ebenso wenig wurde mit der Zulassung der Berufung wegen ernstlicher Zweifel an der Richtigkeit des erstinstanzlichen Urteils (§ 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO), die (Hauptsache-)Entscheidung über die Berufung des Klägers präjudiziert oder gar vorweggenommen. Das folgt auch hier aus dem gegenüber der anschließenden Entscheidung über die Berufung abgesenkten Maßstab der gerichtlichen Prüfung. In der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ist anerkannt, dass die Frage nach der Richtigkeit der angefochtenen Entscheidung im Zulassungsverfahren nicht abschließend geklärt werden kann. Das Zulassungsverfahren wäre andernfalls in der Sache ein Berufungsverfahren. Die abschließende Prüfung des angefochtenen Urteils in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht ist nach wie vor dem Berufungsverfahren vorbehalten (BVerwG, Beschluss vom 10. März 2004 - 7 AV 4.03 - Buchholz 310 § 124 VwGO Nr. 33 S. 9). Ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des Berufungsurteils bestehen demgegenüber - wie im Zulassungsbeschluss ausgeführt wird - bereits dann, wenn gegen die Richtigkeit der angegriffenen Entscheidung gewichtige Gesichtspunkte sprechen. Dies sei der Fall, wenn der die Zulassung begehrende Beteiligte einen die angegriffene Entscheidung tragenden Rechtssatz mit schlüssigen Argumenten infrage stelle und sich die Ergebnisrichtigkeit - unabhängig von der vom Verwaltungsgericht für sie gegebenen Begründung - nicht aufdränge (vgl. BA S. 2). Ausdrücklich weist das Beschwerdegericht darauf hin, dass es hier noch der (weiteren) Klärung in einem Berufungsverfahren bedürfe (BA S. 3). Es liegt auf der Hand, dass das Berufungsgericht dann auf der Grundlage dieser Prüfung, zumal unter Berücksichtigung des weiteren Vorbringens der Beteiligten im Berufungsverfahren und der Erkenntnisse aus der mündlichen Verhandlung, zu einer anderen Beantwortung der hier streitentscheidenden Frage kommen konnte, ob die Behörde nach den Umständen des Einzelfalls vor der Verhängung der Fahrtenbuchauflage alle angemessenen und zumutbaren Aufklärungsbemühungen zur Feststellung der Identität des für den Verkehrsverstoß verantwortlichen Täters unternommen hatte (vgl. zu den rechtlichen Anforderungen an eine Fahrtenbuchauflage: BVerwG, Urteil vom 17. Dezember 1982 - 7 C 3.80 - Buchholz 442.16 § 31a StVZO Nr. 12 S. 6 f.). Dass die geänderte Bewertung durch das Berufungsgericht das Willkürverbot verletzt, ist nicht zu erkennen.

9 2. Die behauptete Abweichung des Berufungsurteils vom Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 17. Dezember 1982 - 7 C 3.80 - (Buchholz 442.16 § 31a StVZO Nr. 12) besteht nicht.

10 Eine Abweichung im Sinne von § 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO liegt vor, wenn das Berufungsgericht in Anwendung derselben Vorschrift mit einem seine Entscheidung tragenden (abstrakten) Rechtssatz von einem in der Rechtsprechung des übergeordneten Gerichts aufgestellten solchen Rechtssatz abgewichen ist (stRspr, vgl. etwa BVerwG, Beschluss vom 19. August 1997 - 7 B 261.97 - Buchholz 310 § 133 <n. F.> VwGO Nr. 26 S. 14). Das Darlegungserfordernis nach § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO verlangt, dass die sich widersprechenden Rechtssätze der Berufungsentscheidung einerseits und der Entscheidung des übergeordneten Gerichts andererseits in der Beschwerdebegründung angegeben werden.

11 Hier arbeitet der Kläger jedoch keinen abweichenden rechtlichen Obersatz im Berufungsurteil heraus; der Verwaltungsgerichtshof nimmt auf die vermeintlich divergierende Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts sogar ausdrücklich Bezug (UA S. 8 f.). Der Sache nach rügt der Kläger hier vielmehr allein eine unzutreffende Anwendung des vom Bundesverwaltungsgericht im Urteil vom 17. Dezember 1982 aufgestellten rechtlichen Obersatzes. Die Abweichung ergebe sich - so der Kläger - daraus, dass in dem damals vom Bundesverwaltungsgericht entschiedenen Fall eine gänzlich andere Tatsachengrundlage vorgelegen habe. Ein solcher - vermeintlicher - Subsumtionsfehler des Berufungsgerichts ist aber keine Abweichung im Sinne von § 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO.

12 Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO. Die Festsetzung des Streitwerts beruht auf § 47 Abs. 1 und 3 i. V. m. § 39 Abs. 1, § 52 Abs. 1 GKG sowie Nr. 46.11 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit.