Beschluss vom 17.12.2020 -
BVerwG 8 B 45.20ECLI:DE:BVerwG:2020:171220B8B45.20.0
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Zitiervorschlag
BVerwG, Beschluss vom 17.12.2020 - 8 B 45.20 - [ECLI:DE:BVerwG:2020:171220B8B45.20.0]
Beschluss
BVerwG 8 B 45.20
- VG Chemnitz - 21.10.2016 - AZ: VG 5 K 389/13
- OVG Bautzen - 30.04.2020 - AZ: OVG 6 A 713/17
In der Verwaltungsstreitsache hat der 8. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 17. Dezember 2020
durch die Vorsitzende Richterin am Bundesverwaltungsgericht Dr. Held-Daab, den Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Keller
und die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Dr. Rublack
beschlossen:
- Die Beschwerde der Klägerin gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Urteil des Sächsischen Oberverwaltungsgerichts vom 30. April 2020 wird zurückgewiesen.
- Die Klägerin trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
- Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwerdeverfahren auf 878 174,03 € festgesetzt.
Gründe
1 Die Beklagte gewährte der Rechtsvorgängerin der Klägerin im Jahr 2005 eine Zuwendung in Höhe von 4 193 000 € zur Mitfinanzierung der Erweiterung einer Betriebsstätte. In dem - in der Folgezeit mehrfach geänderten - Zuwendungsbescheid wurde die Rechtsvorgängerin der Klägerin unter anderem verpflichtet, das Vorhaben innerhalb einer bestimmten Frist durchzuführen sowie bestehende Arbeits- und Ausbildungsplätze zu erhalten und 64 zusätzliche Arbeitsplätze zu schaffen und zu besetzen. Die Klägerin hielt die Verpflichtungen hinsichtlich der Arbeitsplätze nicht ein. Die Beklagte änderte den Zuwendungsbescheid mit dem angefochtenen Änderungs- und Erstattungsbescheid vom 23. Juli 2012 erneut und forderte die Klägerin zur Erstattung eines Betrages von 878 174,03 € nebst Zinsen auf. Den hiergegen eingelegten Widerspruch wies die Beklagte zurück und widerrief die der Klägerin gewährte Zuwendung in Höhe von 1 039 110,03 €. Das Verwaltungsgericht hat die Bescheide aufgehoben. Auf die Berufung der Beklagten hat das Oberverwaltungsgericht die Klage überwiegend abgewiesen. Der Teilwiderruf der Zuwendung finde seine Rechtsgrundlage in § 49 Abs. 3 Satz 1 VwVfG. Die Jahresfrist (§ 49 Abs. 3 Satz 2 i.V.m. § 48 Abs. 4 VwVfG) sei zum Zeitpunkt des Erlasses des Änderungs- und Erstattungsbescheides noch nicht abgelaufen gewesen. Der Lauf der Frist habe mangels einer vorherigen Anhörung der Klägerin jedenfalls nicht vor dem 16. August 2011 begonnen.
2 Die gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Berufungsurteil gerichtete, allein auf § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO gestützte Beschwerde hat keinen Erfolg.
3 Der Zulassungsgrund der grundsätzlichen Bedeutung ist nur gegeben, wenn die Rechtssache eine Frage des revisiblen Rechts aufwirft, die der - gegebenenfalls erneuten oder weitergehenden - höchstrichterlichen Klärung bedarf, sofern diese Klärung in dem angestrebten Revisionsverfahren zu erwarten steht und dies zu einer Fortentwicklung der Rechtsprechung über den Einzelfall hinaus führen wird. Der Rechtsmittelführer hat darzulegen, dass diese Voraussetzungen vorliegen (§ 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO). Diesen Anforderungen genügt die Beschwerdebegründung nicht.
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Die - sich überschneidenden und von der Klägerin in verschiedenen Abwandlungen formulierten - Fragen,
ob das Erfordernis der Anhörung auch dann vor Rücknahme eines Verwaltungsakts stets unerlässlich sei, wenn der Rücknahmeadressat bereits zuvor unaufgefordert der entscheidenden Behörde und deren Amtswalter alle notwendigen und rücknahmerechtfertigenden Kenntnisse verschafft habe, so dass die Behörde nicht nur die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsakts erkannt, sondern darüber hinaus auch vollständige Kenntnis des für die Rücknahmeentscheidung erheblichen Sachverhalts besessen habe,
ob eine derartige Einlassung im Sinne eines gerichtlichen Geständnisses die Anhörung obsolet mache,
ob die möglicherweise rechtsfehlerhafte Feststellung, eine Anhörung sei unterblieben, zu einer in den Schranken der Verwirkung unendlichen Rücknahmemöglichkeit führe oder die Anhörung ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal des § 48 Abs. 4 VwVfG sei,
ob die gegenüber der Behörde abgegebene vollständige Einlassung des Adressaten der Rückforderung, dass die mit dem Verwaltungsakt verbundene Auflage nicht erfüllt worden und auch nicht erfüllbar sei, in voller Kenntnis der daraus folgenden Rückzahlungsverpflichtung von darüber hinaus gehenden Prüfungshandlungen befreie,
ob die Jahresfrist des § 48 Abs. 4 VwVfG trotz Ausbleibens einer formellen oder konkludenten Anhörung zu laufen beginne,
betreffen den Beginn der Jahresfrist des § 48 Abs. 4 VwVfG im Falle einer unterbliebenen Anhörung. Sie sind, soweit sie in dem angestrebten Revisionsverfahren entscheidungserheblich wären, in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts bereits geklärt.
5 Danach (stRspr, vgl. BVerwG, Urteil vom 23. Januar 2019 - 10 C 5.17 - BVerwGE 164, 237 Rn. 31 f. m.w.N.) beginnt die in § 48 Abs. 4 VwVfG geregelte Jahresfrist erst zu laufen, wenn die Behörde vollständige Kenntnis von dem für die Rücknahme oder den Widerruf des Verwaltungsakts erheblichen Sachverhalt erlangt hat. Das ist der Fall, wenn die Behörde ohne weitere Sachaufklärung objektiv in der Lage ist, unter sachgerechter Ausübung ihres Ermessens über die Rücknahme oder den Widerruf zu entscheiden. Die Jahresfrist ist dementsprechend keine Bearbeitungsfrist, sondern eine Entscheidungsfrist. Ist die Sache allerdings bei Anlegung eines objektiven Maßstabes zur Entscheidung reif, so beginnt die Jahresfrist auch dann zu laufen, wenn die Behörde weitere Schritte zur Sachaufklärung unternimmt, die objektiv nicht mehr erforderlich sind. So liegt es insbesondere, wenn das Ermessen der Behörde auf Null reduziert oder doch im Sinne eines "intendierten" Ermessens regelhaft gebunden ist. Die vollständige Kenntnis auch von den für die Ausübung des Rücknahme- oder Widerrufsermessens maßgeblichen Umständen erlangt die Behörde regelmäßig nur infolge einer - mit einer angemessenen Frist zur Stellungnahme verbundenen - Anhörung des Betroffenen. Unterlässt die Behörde die Anhörung, so läuft die Frist nicht. Wird sie von der Behörde verzögert, so läuft die Frist gleichwohl nicht früher; allerdings greifen dann gegebenenfalls die Grundsätze der Verwirkung ein.
6 Die Beschwerde zeigt nicht auf, dass diese Grundsätze, die das Berufungsgericht seiner Entscheidung zugrunde gelegt hat (UA Rn. 28 und 30), einer erneuten oder weitergehenden Klärung bedürften, sondern beanstandet der Sache nach nur, das Berufungsgericht habe sie unzutreffend angewandt. Sie ist der Auffassung, aufgrund der Vorlage des Verwendungsnachweises im März 2010 habe der Beklagte bereits vollständige Kenntnis von dem für den Widerruf erheblichen Sachverhalt erlangt, so dass es ihrer Anhörung nicht mehr bedurft habe. Die - vom Berufungsgericht im vorliegenden Fall im Ergebnis verneinte - Frage, ob und in welchem Umfang vor dem Widerruf einer Zuwendung eine weitere Sachaufklärung in Form einer Anhörung ausnahmsweise entbehrlich sein kann, lässt sich indessen nur aufgrund der Umstände des Einzelfalls beurteilen und entzieht sich einer rechtsgrundsätzlichen Klärung.
7 Im Übrigen geht die Annahme der Klägerin, eine Anhörung sei hier entbehrlich gewesen, an dem Berufungsurteil vorbei. Das Oberverwaltungsgericht hat ausgeführt, der Beklagte habe sich aufgrund der Ausübung seines Widerrufsermessens auf einen Teilwiderruf der Zuwendung beschränkt und dabei unter anderem die von der Klägerin geltend gemachten, aus ihrer Sicht nicht von ihr zu vertretenden Umstände berücksichtigt, die zu dem Auflagenverstoß geführt hätten (UA Rn. 26). Der Beschwerde lässt sich nicht entnehmen, dass diese nach der materiell-rechtlichen Auffassung des Oberverwaltungsgerichts für die Ermessensausübung der Beklagten maßgeblichen Gesichtspunkte bereits mit dem im März 2010 vorgelegten Verwendungsnachweis vollständig mitgeteilt worden wären. Daraus ergeben sich auch nach dem Vorbringen der Klägerin lediglich die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 49 Abs. 3 Satz 1 VwVfG für den Widerruf der Zuwendung.
8 Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO. Die Festsetzung des Streitwerts folgt aus § 47 Abs. 1 und 3 i.V.m. § 52 Abs. 3 Satz 1 GKG.