Urteil vom 17.12.2021 -
BVerwG 7 C 7.20ECLI:DE:BVerwG:2021:171221U7C7.20.0
Erweiterung einer Abfallentsorgungsanlage und Vogelschutzrichtlinie
Leitsätze:
1. Der Erfolg einer Versagungsgegenklage gegen die Ablehnung eines Planfeststellungsbeschlusses beurteilt sich nach dem materiellen Recht, das im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung in der Tatsacheninstanz für das Verpflichtungsbegehren gilt. Bei Rechtsänderungen, die nach der letzten mündlichen Verhandlung oder Entscheidung in der Tatsacheninstanz eintreten und die das Tatsachengericht zu berücksichtigen hätte, ist der Zeitpunkt der Entscheidung in der Revisionsinstanz maßgeblich.
2. Nach Abschluss des mitgliedstaatlichen Auswahl- und Meldeverfahrens für europäische Vogelschutzgebiete besteht eine widerlegliche Vermutung, dass im Standarddatenbogen, die für die Gebietsauswahl und -meldung wertbestimmenden Vogelarten vollständig und abschließend aufgezählt sind.
3. Die nachträgliche Einstufung einer Vogelart als wertbestimmend für ein bestimmtes Vogelschutzgebiet erfordert nicht ein erneutes Meldeverfahren nach der Vogelschutzrichtlinie mit einer Ergänzung des Standarddatenbogens.
-
Rechtsquellen
GRCh Art. 51, Art. 17 Abs. 1 RL 2009/147/EG Art. 1 Abs. 1, Art. 3 Abs. 1, Art. 4 Abs. 1 und 4 RL 92/43/EWG Art. 6 Abs. 3 KrWG § 15 Abs. 2, § 35 Abs. 2, § 36 BNatSchG § 20 Abs. 2, § 32 -
Instanzenzug
OVG Lüneburg - 23.05.2019 - AZ: 7 KS 78/17
-
Zitiervorschlag
BVerwG, Urteil vom 17.12.2021 - 7 C 7.20 - [ECLI:DE:BVerwG:2021:171221U7C7.20.0]
Urteil
BVerwG 7 C 7.20
- OVG Lüneburg - 23.05.2019 - AZ: 7 KS 78/17
In der Verwaltungsstreitsache hat der 7. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
auf die mündliche Verhandlung vom 17. Dezember 2021
durch
den Vizepräsidenten des Bundesverwaltungsgerichts Prof. Dr. Korbmacher,
die Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Schemmer, Dr. Günther, Dr. Löffelbein und Dr. Wöckel
für Recht erkannt:
- Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts vom 23. Mai 2019 wird zurückgewiesen.
- Die Kosten des Revisionsverfahrens trägt die Klägerin.
Gründe
I
1 Die Klägerin begehrt die Erweiterung einer Deponie.
2 Sie betreibt im Landkreis Northeim in Niedersachsen eine Deponie mit derzeit ca. 10 ha Fläche. Im Oktober 2014 beantragte sie die Erweiterung der Deponiefläche um ca. 7,1 ha. Ungefähr 4,5 ha der Erweiterungsfläche liegen in dem knapp 17 000 ha umfassenden EU-Vogelschutzgebiet V68 "Sollingvorland", das der Kommission der Europäischen Union 2007 gemeldet worden ist. In dem der Meldung zugrundeliegenden Standarddatenbogen wird in der Artenliste der Neuntöter - neben acht anderen Vogelarten - mit vier Exemplaren erwähnt und das Vorkommen dieser Vogelart mit der Stufe "C" angegeben. Unter dem Gliederungspunkt 4.2 "Quality and Importance" des Standarddatenbogens heißt es: "Hohe Bedeutung für Brutvogelarten der strukturreichen Kulturlandschaft des Berglandes (Rotmilan/Uhu)".
3 Der im Landkreis Holzminden liegende Teil des Schutzgebietes, nicht aber die 655 ha große Teilfläche im Landkreis Northeim, sind in der Folge unter nationalen Gebietsschutz nach § 32 Abs. 2 des Bundesnaturschutzgesetzes (BNatSchG) gestellt worden.
4 Während des Planfeststellungsverfahrens äußerten die zuständigen Behörden Bedenken gegen die Zulässigkeit des Vorhabens im Hinblick auf die Betroffenheit des Neuntöters. Zwischenzeitlich seien 223 Neuntöter-Paare dokumentiert. Das Gebiet sei faktisches Vogelschutzgebiet, weshalb eine Verschlechterung des Erhaltungszustandes unzulässig sei.
5 Das beklagte Staatliche Gewerbeaufsichtsamt Braunschweig stellte mit Beschluss vom 8. August 2017 den Plan der Klägerin für die Deponieerweiterung unter Ablehnung der Erweiterung im Bereich des Vogelschutzgebiets fest. In dem faktischen Vogelschutzgebiet seien in 2012 und 2014 jeweils vier teilweise wechselnde Neuntöter-Reviere in den Randbereichen der Deponie festgestellt worden; jeweils ein Brutrevier habe im geplanten Erweiterungsbereich gelegen. Die zwischen 2010 und 2014 kartierte Populationsgröße von mindestens 223 Exemplaren habe bereits bei der Meldung als Vogelschutzgebiet bestanden, so dass damals die Einstufung als wertbestimmende Art gerechtfertigt gewesen sei. Da die untere Naturschutzbehörde in ihrer Stellungnahme vom 24. Mai 2017 ausgeführt habe, eine erhebliche Beeinträchtigung oder Störung des Vogelschutzgebietes könne nicht ausgeschlossen werden, widerspreche die beantragte Planfeststellung Art. 4 Abs. 4 Satz 1 der Vogelschutzrichtlinie.
6 Die Klage gegen die Ablehnung der Feststellung des Plans für die Erweiterung der Deponie im Bereich des Vogelschutzgebietes hat das Oberverwaltungsgericht mit Urteil vom 23. Mai 2019 abgewiesen. Der Planfeststellungsbeschluss sei im maßgeblichen Zeitpunkt seines Erlasses rechtmäßig. Es sei nicht im Sinne des Kreislaufwirtschaftsgesetzes sichergestellt, dass durch die beantragte Erweiterung der Deponie keine Gefahren für die geschützten Güter hervorgerufen würden. Art. 4 Abs. 4 Satz 1 der Vogelschutzrichtlinie setze der abfallrechtlichen Fachplanung Schranken, die im Wege der Abwägung nicht überwunden werden könnten. Das in der Vogelschutzrichtlinie vorgesehene strenge Schutzregime für faktische Vogelschutzgebiete sei für die streitigen ca. 4,5 ha anzuwenden.
7 Es spreche Überwiegendes dafür, dass bereits 2007 ein Bestand von 223 Exemplaren vorhanden gewesen sei und es sich dabei um einen stetigen Bestand handele. Zwischenzeitlich sei der Neuntöter in der Aufstellung wertbestimmender Vogelarten der EU-Vogelschutzgebiete in Niedersachsen genannt. Zur (nachträglichen) Berücksichtigung des Neuntöters sei keine Ergänzung des Standarddatenbogens in einem neuen Meldeverfahren nach der Vogelschutzrichtlinie erforderlich. Die Richtlinie sei ihrem Zweck nach auf einen dynamischen Schutz aller wildlebenden Vogelarten gerichtet.
8 Die Klägerin hat die vom Senat zugelassene Revision eingelegt und führt aus: Die erfolgte Unterschutzstellung sei ausreichend. Zum Zeitpunkt der Planfeststellung hätten 96 Prozent der an die Kommission gemeldeten Schutzgebietsfläche unter nationalem Schutz gestanden. Eine erhebliche Beeinträchtigung des Neuntöters liege nicht vor. Für den Neuntöter liege es fern, ihn in der äußerst kleinen Teilfläche von 4,5 ha als wertbestimmend anzunehmen. Es fehlten hinreichende Feststellungen dazu, ob und inwieweit die Flächen mit Blick auf den Neuntöter zu den zahlen- und flächenmäßig geeignetsten gehörten. Die Nichtaufnahme des Neuntöters sei nicht bewusst sachwidrig erfolgt. Das Vogelschutzgebiet V68 habe für den Neuntöter den 21. Platz von den 35 Schutzgebieten in Niedersachsen eingenommen, für die in den Vollzugshinweisen des Landes mit Stand 2011 jeweils ein nicht wertbestimmendes Vorkommen der Art angegeben sei. Die Beklagte habe nicht hinreichend belegt, dass die später festgestellten 223 Exemplare auch schon im Jahr 2007 dort gelebt hätten. Die damalige rechtmäßige Gebietsmeldung könne nicht durch spätere Erkenntnisse wieder in Frage gestellt werden. Für ein Nachmeldeverfahren wäre die Landesregierung im Benehmen mit dem Bundesumweltministerium zuständig und müsste den Standarddatenbogen nutzen. Selbst wenn der Neuntöter als wertbestimmend zu betrachten wäre, sei zu prüfen, ob und inwieweit sich dies auf das gesamte Schutzgebiet oder lediglich Teile davon auswirke. Es wären die weitreichenden Folgen einer solchen Nachberücksichtigung mit dem verfassungs- und unionsgrundrechtlich geschützten Eigentum in Ausgleich zu bringen. Auch die Bagatellgrenzen für Flächenverluste seien nicht überschritten. Das Schutz- und Kompensationskonzept gewährleiste, dass ein günstiger Erhaltungszustand der Art gesichert bleibe.
9
Die Klägerin beantragt,
das Urteil des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts vom 23. Mai 2019 zu ändern und den Beklagten zu verpflichten unter Berücksichtigung der Rechtsauffassung des Gerichts erneut über den Planfeststellungsantrag zu entscheiden, soweit darin die Planfeststellung hinsichtlich des im EU-Vogelschutzgebiet ''Sollingvorland'' liegenden Teils des Flurstücks 52/3, Flur 2 der Gemarkung Lüthorst abgelehnt worden ist.
10
Der Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
11 Der Beklagte verteidigt das Urteil und führt ergänzend aus: Auch bei Anwendung allein ornithologischer Kriterien seien die streitgegenständlichen Flächen einzubeziehen. Denn es stehe fest, dass Uhu und Rotmilan als wertbestimmende Arten dort vorkämen. Der Standarddatenbogen aus dem Jahr 2007 bestätige die Einordnung als wertbestimmende Art. Dort sei die Population mit "p>4" angegeben und als signifikant mit Stufe "C" bewertet worden.
II
12 Die Revision ist unbegründet und deshalb zurückzuweisen (§ 144 Abs. 2 VwGO). Das angefochtene Urteil beruht auf keinem Verstoß gegen revisibles Recht.
13 1. Allerdings ist im Hinblick auf die maßgebliche Sach- und Rechtslage entgegen der Auffassung des Oberverwaltungsgerichts auf den Zeitpunkt seiner Entscheidung und nicht auf den des Erlasses des Planfeststellungsbeschlusses abzustellen.
14 Welcher Zeitpunkt für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage maßgebend ist, beantwortet nicht das Prozessrecht, sondern das einschlägige materielle Recht (vgl. BVerwG, Urteile vom 27. April 1990 - 8 C 87.88 - Buchholz 310 § 113 VwGO Nr. 218 und vom 20. Oktober 2016 - 7 C 6.15 - Buchholz 404 IFG Nr. 20 Rn. 12). Danach ist bei Planfeststellungsverfahren für die Begründetheit der Anfechtungsklage wie der auf § 74 Abs. 2 VwVfG gestützten Verpflichtungsklage auf Planergänzung grundsätzlich die Sach- und Rechtslage zum Zeitpunkt des Erlasses des Beschlusses maßgeblich (vgl. BVerwG, Urteile vom 23. April 1997 - 11 A 7.97 - BVerwGE 104, 337 <347>, vom 1. April 2004 - 4 C 2.03 - BVerwGE 120, 276 <283> und vom 12. August 2009 - 9 A 64.07 - BVerwGE 134, 308 Rn. 52). Dies hat - wie das Oberverwaltungsgericht zutreffend ausführt - seinen Grund darin, dass Kern der planerischen Entscheidung die fachplanerische Abwägung durch die Planfeststellungsbehörde ist. Die jeweiligen Vorschriften des Fachplanungsrechts räumen ihr eine planerische Gestaltungsfreiheit ein, die sich auf alle Gesichtspunkte erstreckt, die zur Verwirklichung des gesetzlichen Planungsauftrags und zugleich zur Bewältigung der von dem Vorhaben in seiner räumlichen Umgebung aufgeworfenen Probleme von Bedeutung sind. Diese im Zusammenhang mit Anfechtungsklagen Dritter entwickelte Struktur der fachplanerischen Zulassungsentscheidung ist grundsätzlich auch dann maßgebend, wenn der Vorhabenträger gegen eine ablehnende Entscheidung der Planfeststellungsbehörde klagt (vgl. BVerwG, Urteil vom 24. November 1994 - 7 C 25.93 - BVerwGE 97, 143 <148>). Für den Erfolg der Versagungsgegenklage ist aber entscheidend, ob im Zeitpunkt der letzten mündlichen Tatsachenverhandlung ein Rechtsanspruch des Vorhabenträgers auf eine abwägungsfehlerfreie Entscheidung über seinen Antrag auf Erlass des Planfeststellungsbeschlusses besteht. Dies beurteilt sich nach dem materiellen Recht, dass sich in diesem Zeitpunkt für das Verpflichtungsbegehren Geltung beimisst (vgl. BVerwG, Urteile vom 10. Februar 1978 - 4 C 25.75 - Buchholz 445.4 § 31 WHG Nr. 4 S. 3 und vom 24. November 1994 - 7 C 25.93 - BVerwGE 97, 143 <145 f.>). Bei Rechtsänderungen, die nach der letzten mündlichen Verhandlung oder Entscheidung in der Tatsacheninstanz eintreten und die das Tatsachengericht zu berücksichtigen hätte, ist der Zeitpunkt der Entscheidung in der Revisionsinstanz maßgeblich.
15 2. Ohne Bundesrechtsverstoß hat das Oberverwaltungsgericht die Auffassung des Beklagten bestätigt, dass für den von der Ablehnung betroffenen Teil der beantragten Erweiterung der Deponie L. die Voraussetzungen für den Erlass eines Planfeststellungsbeschlusses gemäß § 35 Abs. 2 Satz 1 i.V.m. § 36 des Kreislaufwirtschaftsgesetzes (KrWG) nicht erfüllt sind.
16 a) Nach § 35 Abs. 2 Satz 1 KrWG bedürfen die Errichtung und der Betrieb von Deponien sowie die wesentliche Änderung einer solchen Anlage oder ihres Betriebes der Planfeststellung durch die zuständige Behörde. Der Planfeststellungsbeschluss nach § 35 Abs. 2 KrWG darf nur erlassen werden, wenn sichergestellt ist, dass das Wohl der Allgemeinheit nicht beeinträchtigt wird, insbesondere keine Gefahren für die in § 15 Abs. 2 Satz 2 KrWG genannten Schutzgüter hervorgerufen werden können (§ 36 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a KrWG). Eine Beeinträchtigung des Wohls der Allgemeinheit liegt nach § 15 Abs. 2 Satz 2 Nr. 2 und 5 KrWG insbesondere vor, wenn Tiere oder Pflanzen gefährdet werden oder die Belange des Naturschutzes nicht berücksichtigt werden. Eine solche Beeinträchtigung des Wohls der Allgemeinheit hat das Oberverwaltungsgericht ohne Bundesrechtsverstoß angenommen. Der begehrte Planfeststellungsbeschluss wäre mit Art. 4 Abs. 4 Satz 1 der Richtlinie 2009/147/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 30. November 2009 über die Erhaltung der wildlebenden Vogelarten (kodifizierte Fassung, ABl L 20 S. 7 - Vogelschutzrichtlinie - VRL) unvereinbar.
17 b) Zutreffend hat das Oberverwaltungsgericht ausgeführt, dass die Vogelschutzrichtlinie den Schutz, die Pflege und Wiederherstellung einer ausreichenden Vielfalt und einer ausreichenden Flächengröße (Lebensräume) für die Erhaltung aller im europäischen Gebiet der Mitgliedstaaten wild lebenden Vogelarten bezweckt (Art. 1 Abs. 1, Art. 3 Abs. 1 VRL). Für die in Anhang I der Richtlinie aufgeführten Arten, wozu auch der Neuntöter (Lanius collurio) gehört, sind nach Art. 4 Abs. 1 Satz 1 VRL besondere Schutzmaßnahmen hinsichtlich ihrer Lebensräume anzuwenden, um ihr Überleben und ihre Vermehrung in ihrem Verbreitungsgebiet sicherzustellen. Nach Art. 4 Abs. 1 Satz 4 VRL erklären die Mitgliedstaaten insbesondere die für die Erhaltung der im Anhang I aufgeführten Vogelarten ''zahlen- und flächenmäßig geeignetsten'' Gebiete zu Schutzgebieten, wobei die Erfordernisse des Schutzes dieser Arten in dem geografischen Meeres- und Landgebiet, in dem die Richtlinie Anwendung findet, zu berücksichtigen sind. Gemäß Art. 4 Abs. 2 VRL haben die Mitgliedstaaten entsprechende Maßnahmen für die nicht in Anhang I der Richtlinie aufgeführten, regelmäßig auftretenden Zugvogelarten hinsichtlich ihrer Vermehrungs-, Mauser- und Überwinterungsgebiete sowie der Rastplätze in ihren Wanderungsgebieten zu treffen. Nach Art. 4 Abs. 4 Satz 1 VRL treffen die Mitgliedstaaten geeignete Maßnahmen, um die Verschmutzung oder Beeinträchtigung der Lebensräume sowie die Belästigung der Vögel, sofern sich diese auf die Zielsetzungen dieses Artikels erheblich auswirken, in den genannten Schutzgebieten zu vermeiden.
18 Die Anforderungen an die Zulässigkeit eines Vorhabens, das sich auf ein dem Schutz der Vogelschutzrichtlinie unterfallendes Gebiet auswirken kann, hängen davon ab, ob das Schutzgebiet gemäß § 32 Abs. 2 BNatSchG zu geschützten Teilen von Natur und Landschaft im Sinne des § 20 Abs. 2 BNatSchG erklärt worden ist. Mit der Schutzgebietserklärung geht das Gebiet nach Art. 7 der Richtlinie 92/43/EWG des Rates vom 21. Mai 1992 zur Erhaltung der natürlichen Lebensräume sowie der wildlebenden Tiere und Pflanzen - Habitatrichtlinie - FFH-RL - (ABl. L 206 S. 7) in das Schutzregime dieser Richtlinie über; ein mit den Erhaltungszielen des Gebiets unverträgliches Vorhaben kann dann im Wege der Ausnahmeprüfung nach § 34 Abs. 3 BNatSchG/Art. 6 Abs. 3 und 4 FFH-RL zugelassen werden (BVerwG, Urteil vom 1. April 2004 - 4 C 2.03 - BVerwGE 120, 276 <282 ff.>). Anderenfalls verbleibt es bei dem strengeren Schutzregime der Vogelschutzrichtlinie, der zufolge nur überragende Gemeinwohlbelange wie der Schutz des Lebens und der Gesundheit von Menschen oder der Schutz der öffentlichen Sicherheit die Verbote des Art. 4 Abs. 4 VRL überwinden können (BVerwG, Urteil vom 1. April 2004 - 4 C 2.03 - BVerwGE 120, 276 <289>). Die zuvor erforderliche Prüfung des Beeinträchtigungsverbots des Art. 4 Abs. 4 Satz 1 VRL und die Verträglichkeitsprüfung nach § 34 Abs. 2 BNatSchG/Art. 6 Abs. 3 FFH-RL erfolgen hingegen nach gleichgerichteten Maßstäben; es geht jeweils um den Ausschluss von - im Hinblick auf die jeweiligen Schutzziele - erheblichen Gebietsbeeinträchtigungen (vgl. BVerwG, Urteile vom 1. April 2004 - 4 C 2.03 - BVerwGE 120, 276 <288 f.> und vom 11. August 2016 - 7 A 1.15 - BVerwGE 156, 20 Rn. 66).
19 c) Hiervon ist auch das Oberverwaltungsgericht ausgegangen. Ohne Verletzung revisiblen Rechts hat es angenommen, die streitbefangene Erweiterungsfläche unterliege als faktisches Vogelschutzgebiet dem strengen Schutzregime der Vogelschutzrichtlinie.
20 aa) Soweit die Mitgliedstaaten ihrer Verpflichtung zur Ausweisung von Vogelschutzgebieten nicht nachkommen, erfahren solche Gebiete als sogenannte faktische Vogelschutzgebiete bis zu ihrer ordnungsgemäßen Unterschutzstellung den strengen Schutz des Art. 4 Abs. 4 Satz 1 VRL. Faktische Vogelschutzgebiete umfassen Lebensräume und Habitate, die für sich betrachtet in signifikanter Weise zur Arterhaltung in dem betreffenden Mitgliedstaat beitragen und damit zum Kreis der zahlen- und flächenmäßig geeignetsten Gebiete im Sinne von Art. 4 Abs. 1 Satz 4 VRL gehören (vgl. BVerwG, Urteile vom 22. Januar 2004 - 4 A 32.02 - BVerwGE 120, 87 <101> und vom 27. März 2014 - 4 CN 3.13 - BVerwGE 149, 229 Rn. 18). Diese Qualität hat das Oberverwaltungsgericht der hier in Rede stehenden Fläche, die zu dem vom Land Niedersachsen im Jahr 2007 der EU-Kommission gemeldeten Vogelschutzgebiet V68 ''Sollingvorland'' gehört, zugesprochen. Es hat dabei zu Recht zugrunde gelegt, dass nach Abschluss des mitgliedstaatlichen Gebietsauswahl- und -meldeverfahrens eine - hier Platz greifende - Vermutung dafür spreche, dass eine gemeldete, aber nicht förmlich unter Schutz gestellte Fläche als faktisches Vogelschutzgebiet anzusehen sei.
21 Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts greift im Stadium eines abgeschlossenen mitgliedstaatlichen Gebietsauswahl- und -meldeverfahrens eine Vermutung des Inhalts, dass ein faktisches Vogelschutzgebiet außerhalb des gemeldeten Vogelschutzgebiets nicht existiert, die nur durch den Nachweis sachwidriger Erwägungen bei der Gebietsabgrenzung widerlegt werden kann (vgl. BVerwG, Urteil vom 27. März 2014 - 4 CN 3.13 - BVerwGE 149, 229 Rn. 25). Diese Vermutung wurzelt in dem den Mitgliedstaaten durch Art. 4 Abs. 1 Satz 4 VRL eröffneten fachlichen Beurteilungsspielraum in der Frage, welche Gebiete nach ornithologischen Kriterien für die Erhaltung der zu schützenden Vogelarten "zahlen- und flächenmäßig" am geeignetsten sind. Die Ausübung dieses Beurteilungsspielraums ist lediglich auf ihre fachwissenschaftliche Vertretbarkeit hin überprüfbar. Diese Vertretbarkeitskontrolle umfasst auch die Netzbildung in den einzelnen Ländern. In dem Maße, in dem sich die Gebietsvorschläge eines Landes zu einem kohärenten Netz verdichten, verringert sich die richterliche Kontrolldichte. Mit dem Fortschreiten des mitgliedstaatlichen Auswahl- und Meldeverfahrens steigen die prozessualen Darlegungsanforderungen für die Behauptung, es gebe ein faktisches Vogelschutzgebiet, das eine "Lücke im Netz" schließen soll. Entsprechendes gilt auch für die zutreffende Gebietsabgrenzung. Die gerichtliche Anerkennung eines faktischen Vogelschutzgebiets kommt im Falle eines abgeschlossenen Gebietsauswahl- und -meldeverfahrens deshalb nur in Betracht, wenn der Nachweis geführt werden kann, dass die Nichteinbeziehung bestimmter Gebiete in ein gemeldetes Vogelschutzgebiet auf sachwidrigen Erwägungen beruht (vgl. BVerwG a.a.O. Rn. 23 f.).
22 Diese Erwägungen rechtfertigen nach Abschluss des Auswahl- und Meldeverfahrens auch eine - umgekehrte - Vermutung des Inhalts, dass ein als Bestandteil des kohärenten Netzes gemeldetes, aber nicht förmlich unter Schutz gestelltes Gebiet ein faktisches Vogelschutzgebiet ist, die nur durch den Nachweis sachwidriger, fachwissenschaftlich nicht vertretbarer Erwägungen bei der Gebietsauswahl und -abgrenzung widerlegt werden kann.
23 bb) Für die hier in Rede stehende Erweiterungsfläche fehlt es bislang an einer förmlichen Unterschutzstellung.
24 Zwar wurde zur Sicherung großer Teile des Vogelschutzgebietes ''Sollingvorland'' (u.a.) die Verordnung über das Landschaftsschutzgebiet ''Sollingvorland-Wesertal'' im Landkreis Holzminden erlassen. Diese Verordnung hat aber nicht zu einem Wechsel des Schutzregimes hinsichtlich der streitgegenständlichen Erweiterungsfläche geführt. Abgesehen davon, dass die Verordnung vom Niedersächsischen Oberverwaltungsgericht durch Urteil vom 4. Dezember 2018 - 4 KN 77/16 - (NVwZ-RR 2019, 590) für unwirksam erklärt worden ist, hat sie sich nicht auf die Fläche der beantragten Deponieerweiterung erstreckt, die nach den Feststellungen des Oberverwaltungsgerichts außerhalb des Landkreises Holzminden auf dem Gebiet des Landkreises Northeim liegt.
25 d) Revisionsrechtlich nicht zu beanstanden ist auch die Annahme des Oberverwaltungsgerichts, der Neuntöter sei bei der Prüfung einer Verletzung des Beeinträchtigungs- und Störungsverbots des Art. 4 Abs. 4 Satz 1 VRL zu berücksichtigen, weil es sich dabei um eine für das faktische Vogelschutzgebiet "Sollingvorland" wertbestimmende Art handele.
26 aa) Für welche Arten ein Gebiet ausgewiesen wurde, ergibt sich aus dem Standarddatenbogen, falls nicht andere Dokumente, z. B. Regelungen über das Schutzgebiet, weitergehende Erhaltungsziele dokumentieren (vgl. Schlussanträge der Generalanwältin Kokott vom 19. April 2007 - C-304/05 [ECLI:EU:C:2007:228] - Rn. 33). Der Standarddatenbogen ist der Kommission zu übermitteln. Er beruht auf dem Durchführungsbeschluss Nr. 2011/484/EU der Kommission vom 11. Juli 2011 über den Datenbogen für die Übermittlung von Informationen zu Natura 2000-Gebieten (ABl. L 198 S. 39) bzw. auf der zuvor geltenden Entscheidung Nr. 97/266/EG der Kommission vom 18. Dezember 1996 über das Formular für die Übermittlung von Informationen zu den im Rahmen von Natura 2000 vorgeschlagenen Gebieten (ABl. 1997 L 107 S. 1). Der Mitgliedstaat ist nicht verpflichtet, alle im Standarddatenbogen aufgeführten Vogelarten in die Festlegung der Erhaltungsziele für das entsprechende Gebiet einzubeziehen. Es kommt darauf an, inwieweit den Auflistungen im Standarddatenbogen die Erklärung zu entnehmen ist, dass das Gebiet gerade aufgrund bestimmter Vogelarten ausgewählt wurde. Die Erhaltungsziele eines Vogelschutzgebietes müssen nicht notwendig alle im Gebiet vorkommenden Arten nach Anhang I der Vogelschutzrichtlinie umfassen, sondern nur solche, deren Schutz die Ausweisung des Gebietes letztlich gerechtfertigt hat. Dabei kann es sich mit Blick auf Art. 4 Abs. 1 VRL nur um die für das Gebiet charakteristischen Vogelarten handeln (vgl. BVerwG, Urteil vom 6. April 2017 - 4 A 16.16 - NVwZ-RR 2017, 768 Rn. 29 m.w.N.).
27 Diese Grundsätze gelten auch für ein zwar gemeldetes, aber nicht förmlich unter Schutz gestelltes - faktisches - Vogelschutzgebiet im Hinblick auf die Identifizierung der für die Auswahl und Meldung dieses Gebiets maßgeblichen - wertbestimmenden - Arten, hinsichtlich derer das strenge Schutzregime der Vogelschutzrichtlinie gilt. Insoweit spricht nach Abschluss des nationalen Gebietsauswahl- und -meldeverfahrens eine Vermutung dafür, dass der aus dem Standarddatenbogen sich ergebende Katalog der für das gemeldete Gebiet wertbestimmenden Arten vollständig und abschließend ist. Dies folgt, nicht anders als bei der Gebietsauswahl und -abgrenzung und der insoweit in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts anerkannten widerleglichen Vermutung des Inhalts, dass ein faktisches Vogelschutzgebiet außerhalb des gemeldeten Vogelschutzgebiets nicht existiert (vgl. BVerwG, Urteil vom 27. März 2014 - 4 CN 3.13 - BVerwGE 149, 229 Rn. 25), aus dem fachlichen Beurteilungsspielraum der Mitgliedstaaten im Hinblick auf die Frage, welche Gebiete nach ornithologischen Kriterien für die Erhaltung der zu schützenden Vogelarten "zahlen- und flächenmäßig" am geeignetsten sind. Diese Frage muss stets im Hinblick auf ein mögliches Vorkommen einer oder mehrerer der in Anhang I der Vogelschutzrichtlinie aufgeführten Arten oder regelmäßig auftretender Zugvogelarten beantwortet werden. Deshalb ist eine fachlich vertretbare Nichteinbeziehung einer bestimmten Art in den Kreis der für ein gemeldetes Gebiet wertbestimmenden Arten ebenso wenig zu beanstanden, wie es die Nichtmeldung eines Gebiets ist, wenn sie fachlich vertretbar ist (vgl. zu Letzterem BVerwG, Urteile vom 14. November 2002 - 4 A 15.02 - BVerwGE 117, 149 <155> und vom 27. März 2014 - 4 CN 3.13 - BVerwGE 149, 229 Rn. 23). In dem Maße, in dem sich die Gebietsvorschläge eines Landes zu einem kohärenten Netz verdichten, die richterliche Kontrolldichte hinsichtlich der Frage der Gebietsauswahl und -abgrenzung in der Folge verringert und die prozessualen Darlegungsanforderungen für die Behauptung eines nicht gemeldeten faktischen Vogelschutzgebiets steigen (vgl. BVerwG, Urteile vom 14. November 2002 - 4 A 15.02 - BVerwGE 117, 149 <155 f.> und vom 27. März 2014 - 4 CN 3.13 - BVerwGE 149, 229 Rn. 24), führt das Voranschreiten des mitgliedstaatlichen Auswahl- und Meldeverfahrens auch zu einer Steigerung der Darlegungsanforderungen für die Geltendmachung einer Unvollständigkeit einer Gebietsmeldung im Hinblick auf die für das betreffende Gebiet wertbestimmenden Arten. Nach Abschluss des Auswahl- und Meldeverfahrens greift deshalb eine Vermutung des Inhalts, dass außer den in der Gebietsmeldung angegebenen keine weiteren wertbestimmenden Arten in dem Gebiet vorhanden sind, die nur durch den Nachweis widerlegt werden kann, dass die Meldung einer Art als wertbestimmende sachwidrig unterblieben ist.
28 bb) Diesen Maßstäben entspricht das angefochtene Urteil der Sache nach.
29 Das Oberverwaltungsgericht hat festgestellt, dass in dem der Kommission im Jahr 2007 übermittelten Standarddatenbogen der Neuntöter mit vier Exemplaren erwähnt und die Population dieser Art mit "C" - also als "häufig" vorkommend (vgl. Nr. 3.2 Buchst. i der Erläuterungen zum Standarddatenbogen im Anhang zur Entscheidung Nr. 97/266/EG der Kommission) - eingestuft worden sei. Der Neuntöter sei, so das Oberverwaltungsgericht, "nicht explizit" als wertbestimmende Art des Vogelschutzgebiets "Sollingvorland" im Standarddatenbogen aufgeführt. Bei der Meldung seien nur Uhu und Rotmilan als wertbestimmende Arten genannt worden, während der Neuntöter nicht als wertbestimmende Art hervorgehoben worden sei. Der Senat versteht diese Ausführungen - auch in der Zusammenschau mit den sich daran anschließenden Erwägungen des Oberverwaltungsgerichts zur Frage der Notwendigkeit eines neuen Meldeverfahrens zur Ergänzung des Standarddatenbogens - dahin, dass nach tatrichterlicher Würdigung die Auswahl und Meldung des Vogelschutzgebiets "Sollingvorland" nicht auch im Hinblick auf den Neuntöter als wertbestimmende Art erfolgt ist. Einer abschließenden Klärung bedarf es insoweit jedoch nicht. Denn jedenfalls wäre eine nach den dargestellten Grundsätzen aufgrund der Gebietsmeldung gegebenenfalls bestehende Vermutung, dass der Neuntöter nicht zu den wertbestimmenden Arten des Vogelschutzgebiets "Sollingvorland" zu zählen ist, auf der Grundlage der weiteren Ausführungen des Oberverwaltungsgerichts widerlegt.
30 In tatsächlicher Hinsicht hat es festgestellt, Überwiegendes spreche dafür, dass die aufgrund von Kartierungen zwischen 2010 und 2014 festgestellte Populationsgröße des Neuntöters von mindestens 223 Exemplaren bereits bei der Gebietsmeldung im Jahr 2007 vorhanden gewesen sei, es sich also um einen stetigen Bestand dieser Art handele. Der Beklagte habe in diesem Zusammenhang - offenkundig mit Blick auf den Standarddatenbogen - angegeben, es handele sich um einen "wissenschaftlichen Irrtum über die Bestandszahlen und die Bedeutung des Neuntötervorkommens", der nachträglich korrigiert worden sei. Das Oberverwaltungsgericht hat ferner festgestellt, dass das Vogelschutzgebiet "Sollingvorland" eine der wichtigsten Neuntöterpopulationen in Niedersachsen aufweise und auf dem dritten Platz der für diese Art bedeutsamen niedersächsischen Vogelschutzgebiete liege. Auf der Grundlage dieser nicht mit Verfahrensrügen angegriffenen tatsächlichen Feststellungen ist das Oberverwaltungsgericht zu dem Schluss gelangt, bei dem Vogelschutzgebiet "Sollingvorland" handele es sich um eines der zum Schutz des Neuntöters am besten geeigneten Gebiete, dessen Ausweisung als Schutzgebiet für die Erhaltung dieser Art auch bereits bei der Gebietsmeldung im Jahr 2007 erforderlich gewesen sei. Dies ist revisionsrechtlich nicht zu beanstanden. Die nach naturschutzfachlichen Kriterien für den Vogelschutz "geeignetsten" Gebiete sind zum Vogelschutzgebiet zu erklären (vgl. BVerwG, Urteile vom 14. November 2002 - 4 A 15.02 - BVerwGE 117, 149 <155> und vom 27. März 2014 - 4 CN 3.13 - BVerwGE 149, 229 Rn. 23), und zwar gerade mit Blick auf die für die Gebietsauswahl maßgeblichen, wertbestimmenden Arten.
31 Ohne Erfolg wendet die Klägerin ein, das Ergebnis des Gebietsauswahl- und -meldeverfahrens könne nicht durch nachträgliche Erkenntnisse zum Bestand einzelner Arten in Frage gestellt werden. Ebenso wenig wie der Umstand, dass ein Land die Auswahl seiner "Natura 2000"-Gebiete abgeschlossen hat, der rechtlichen Existenz faktischer Vogelschutzgebiete grundsätzlich nicht entgegensteht (vgl. BVerwG, Urteile vom 14. November 2002 - 4 A 15.02 - BVerwGE 117, 149 <154> und vom 27. März 2014 - 4 CN 3.13 - BVerwGE 149, 229 Rn. 22), begründet dieser Umstand ein unüberwindbares rechtliches Hindernis für die Annahme einer Unvollständigkeit der Gebietsmeldung hinsichtlich der zu schützenden Arten. Er führt vielmehr lediglich, wie dargelegt, zu einer widerleglichen Vermutung des Nichtvorhandenseins faktischer jenseits der gemeldeten Vogelschutzgebiete sowie des Nichtvorhandenseins anderer als der gemeldeten wertbestimmenden Arten. Deshalb bedurfte es hier für eine Berücksichtigung des Neuntöters als wertbestimmende Art auch nicht zunächst noch der Durchführung eines weiteren Meldeverfahrens zur Ergänzung des Standarddatenbogens. Die Gebietsmeldung ist, wie bereits die Rechtsfigur des faktischen Vogelschutzgebiets verdeutlicht, keine Voraussetzung des sich aus einer unmittelbaren Anwendung der Vogelschutzrichtlinie ergebenden Artenschutzes.
32 Dass hierdurch der grundgesetzliche oder über Art. 6 EUV i.V.m. Art. 51 Abs. 1, Art 17 Abs. 1 der EU-Grundrechtecharta (GRCh) verbürgte Schutz des Eigentums verletzt wäre, ist entgegen dem Revisionsvorbringen nicht erkennbar. Mit Rücksicht auf das insoweit vollvereinheitlichte Unionsrecht sind die deutschen Grundrechte nicht anwendbar (vgl. BVerfG, Beschluss vom 6. November 2019 - 1 BvR 276/17 - BVerfGE 152, 216 Rn. 43 ff.). Die unionsgrundrechtliche Eigentumsgarantie ist nicht verletzt. Sie erstreckt sich nicht auf bloße Erwerbsaussichten und Gewinnerwartungen (vgl. Jarass, GRCh, 4. Aufl. 2021, Art. 17 Rn. 14), wie sie hier hinsichtlich der von der Klägerin beabsichtigten Deponieerweiterung in Rede stehen. Berufsfreiheit und unternehmerische Freiheit (Art. 15 Abs. 1, Art. 16 GRCh) unterliegen Beschränkungen nach Maßgabe von Art. 52 Abs. 1 GRCh. Sie sind, wie im Übrigen auch das Eigentumsrecht, nicht absolut gewährleistet, sondern im Zusammenhang mit ihrer gesellschaftlichen Funktion zu sehen. Die Ausübung dieser Freiheiten kann daher Beschränkungen unterworfen werden, sofern diese tatsächlich den dem Gemeinwohl dienenden Zielen der Europäischen Union entsprechen und keinen im Hinblick auf den verfolgten Zweck unverhältnismäßigen und untragbaren Eingriff darstellen, der diese Rechte in ihrem Wesensgehalt antastet (vgl. EuGH, Urteil vom 5. Juli 2017 - C-190/16 [ECLI:EU:C:2017:513], Fries - Rn. 73). Gemessen daran und im Hinblick auf den hohen Stellenwert, den das Unionsrecht dem Umweltschutz beimisst (vgl. Art. 11, 191 AEUV), sind die mit dem strengen Schutzregime für faktische Vogelschutzgebiete verbundenen Freiheitsbeschränkungen den Betroffenen im überwiegenden Allgemeininteresse zumutbar.
33 cc) Weil der Neuntöter nach den Feststellungen des Oberverwaltungsgerichts bereits im Zeitpunkt der Gebietsmeldung im Jahr 2007 wertbestimmend für das Vogelschutzgebiet "Sollingvorland" war und lediglich die vollständige Kenntnis der dafür maßgeblichen Tatsachen erst im Nachhinein erlangt wurde, gibt der Fall dem Senat keinen Anlass der Frage nachzugehen, inwieweit die dargelegten Grundsätze auch dann zu gelten haben, wenn sich nach Abschluss des mitgliedstaatlichen Gebietsauswahl- und -meldeverfahrens Veränderungen der tatsächlichen Verhältnisse ergeben, die eine ursprünglich nicht zu beanstandende Gebietsauswahl und -meldung im Nachhinein als sachlich überholt erscheinen lassen könnten.
34 dd) Die von der Klägerin aufgeworfene Frage nach der Tragfähigkeit der Gebietsabgrenzung gerade mit Blick auf den Neuntöter stellt sich entscheidungserheblich nur, soweit es um die Einbeziehung der streitgegenständlichen Erweiterungsfläche in das Vogelschutzgebiet geht. Dass diese Fläche, so das Revisionsvorbringen, im Hinblick auf die Populationsdichte und die räumlichen Schwerpunkte des Vorkommens des Neuntöters im Gesamtgebiet nicht erheblich ins Gewicht falle, findet in den tatsächlichen Feststellungen des Oberverwaltungsgerichts keine Grundlage. Dieses ist vielmehr in revisionsrechtlich nicht zu beanstandender Weise zu dem Ergebnis gelangt, dass in der Vergangenheit wiederholt Neuntöterreviere sowohl im Randbereich der Deponie als auch auf der Erweiterungsfläche nachgewiesen worden seien und dass der vorhabenbedingte Flächenverlust auf der Grundlage des Fachkonventionsvorschlags von L. als erheblich einzustufen sei (vgl. sogleich unter e). Abgesehen davon kann die Gebietsabgrenzung ohnehin nicht das Ergebnis einer isolierten Prüfung des ornithologischen Werts jeder einzelnen der in Rede stehenden Flächen sein, sondern muss unter Berücksichtigung der natürlichen Grenzen des betroffenen Ökosystems erfolgen (vgl. EuGH, Urteil vom 14. Januar 2016 - C-141/14 [ECLI:EU:C:2016:8], Kommission gegen Republik Bulgarien - Rn. 30). Dass gemessen hieran die Einbeziehung der Erweiterungsfläche in das Vogelschutzgebiet "Sollingvorland" fehlerhaft sein könnte, ist weder geltend gemacht worden noch ist dafür sonst etwas ersichtlich.
35 e) Das Oberverwaltungsgericht hat ohne Verletzung revisiblen Rechts einen Verstoß der begehrten Planfeststellung gegen das Beeinträchtigungs- und Störungsverbot des Art. 4 Abs. 4 Satz 1 VRL bejaht.
36 Bei einem faktischen Vogelschutzgebiet ist die Abgrenzung zwischen erheblichen und unerheblichen Beeinträchtigungen gemäß Art. 4 Abs. 4 Satz 1 VRL nach den Zielsetzungen dieses Artikels, das Überleben und die Vermehrung der in Anhang I der Richtlinie aufgeführten Vogelarten in ihrem Verbreitungsgebiet sicherzustellen, vorzunehmen. Mangels konkretisierender Festlegungen gebietsspezifischer Erhaltungsziele ist ergänzend auf die allgemeinen Zielsetzungen in Art. 1 Abs. 1 und Art. 3 Abs. 1 der Vogelschutzrichtlinie zurückzugreifen, nach denen die Richtlinie dem Zweck dient, durch die Einrichtung von Schutzgebieten eine ausreichende Artenvielfalt und eine ausreichende Flächengröße ihrer Lebensräume zu erhalten und wiederherzustellen. Eine Prüfung anhand dieser Voraussetzungen muss die Gewissheit ergeben, dass keine erheblichen Beeinträchtigungen auftreten. Nur wenn keine vernünftigen Zweifel verbleiben, darf die Verträglichkeitsprüfung mit einem positiven Ergebnis abgeschlossen werden (vgl. BVerwG, Urteil vom 11. August 2016 - 7 A 1.15 - BVerwGE 156, 20 Rn. 67).
37 Diese Maßstäbe legt das Oberverwaltungsgericht seiner Entscheidung zugrunde. Es folgt der Risikoeinschätzung der unteren Naturschutzbehörde, dass jedenfalls Zweifel daran verblieben, dass sich bei einer Verwirklichung des Vorhabens erhebliche Beeinträchtigungen des Neuntöters vermeiden ließen. Es stellt darauf ab, dass bei Kartierungen in den Jahren 2012 und 2014 jeweils ein Brutrevier im streitgegenständlichen Erweiterungsbereich der Deponie gelegen hätte. Vor dem Hintergrund der festgestellten Tatsache, dass der Neuntöter sein Revier nach dem jeweiligen Nahrungsangebot wechsele, lässt sich revisionsrechtlich nicht beanstanden, dass das Oberverwaltungsgericht der Wertung der unteren Naturschutzbehörde auch insoweit folgt, als es auf ein zeitweiliges Nichtauftreten nicht ankomme. Ebenfalls nicht zu beanstanden ist die Annahme, die Verkleinerung eines Schutzgebiets sei regelmäßig als erhebliche Beeinträchtigung im Sinne von Art. 4 Abs. 4 Satz 1 VRL zu werten. Denn ein Ermessensspielraum zur Änderung oder Verkleinerung gemeldeter Gebiete steht den Mitgliedstaaten nicht zu. Es bliebe allenfalls zu fragen, ob die betreffende Fläche unbedeutend ist (EuGH, Urteil vom 2. August 1993 - C-355/90 [ECLI:EU:C:1993:331], Europäische Kommission gegen Königreich Spanien - Rn. 35, 46). Ob die Fläche - aus ornithologischer Sicht - unbedeutend ist, hat das Oberverwaltungsgericht in Anwendung eines Fachkonventionsvorschlags von L. aus dem Jahr 2007 entschieden. Die hiergegen gerichteten Angriffe der Klägerin betreffen nicht die Rechtsanwendung, sondern die Sachverhalts- und Beweiswürdigung (vgl. BVerwG, Urteil vom 8. März 2017 - 4 CN 1.16 - BVerwGE 158, 182 Rn. 50, 52). Dies bleibt ohne Erfolg. Dass das Oberverwaltungsgericht gegen gesetzliche Beweisregeln, allgemeine Erfahrungssätze oder die Denkgesetze verstoßen hätte (vgl. BVerwG, Urteil vom 27. November 2014 - 7 C 12.13 - BVerwGE 150, 383 Rn. 41), hat die Revision nicht gerügt. Auf einen Gehörsverstoß lassen die Angriffe der Klägerin nicht schließen. Die Heranziehung der Fachkonvention zur Beurteilung der Erheblichkeit eines Flächenentzugs ist rechtlich nicht zu beanstanden (vgl. BVerwG, Urteil vom 3. November 2020 - 9 A 12.19 - BVerwGE 170, 33 Rn. 373). Anhaltspunkte für neue Erkenntnismöglichkeiten, die weitere Aufklärungsmaßnahmen hätten gebieten können, hat die Klägerin nicht dargetan.
38 Vor diesem Hintergrund ist das Ergebnis des Oberverwaltungsgerichts, die Fläche sei nicht unbedeutend, weil zumindest die Orientierungswerte für den absoluten Flächenverlust bei weitem überschritten würden, nicht zu beanstanden. Das gilt auch für die Überprüfung des dort gefundenen Ergebnisses anhand des Maßstabes, ob besondere Gründe des Einzelfalls eine Abweichung vom Regelfall rechtfertigten.
39 f) Schließlich hat das Oberverwaltungsgericht zutreffend erkannt, dass auch eine ausnahmsweise Zulassung des Vorhabens nicht in Betracht kommt. Soweit die Revision geltend macht, eigene wirtschaftliche Belange der Klägerin und die allgemeine Möglichkeit der Entsorgung der Kohlenaschen an diesem Ort seien gegebenenfalls als öffentliche Belange zu würdigen, führt dies nicht zum Erfolg, da nur überragende Gemeinwohlbelange geeignet sind, das Beeinträchtigungs- und Störungsverbot des Art. 4 Abs. 4 Satz 1 VRL zu überwinden (vgl. BVerwG, Urteil vom 27. März 2014 - 4 CN 3.13 - BVerwGE 149, 229 Rn. 16).
40 Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO.