Beschluss vom 20.04.2023 -
BVerwG 2 WRB 1.23ECLI:DE:BVerwG:2023:200423B2WRB1.23.0

Antrag auf Wiederaufnahme eines einfachen Disziplinarverfahrens

Leitsätze:

1. Bei der Wiederaufnahme eines einfachen Disziplinarverfahrens kommt es für die Frage, ob eine Tatsache oder ein Beweismittel neu ist, regelmäßig auf den Kenntnisstand des Disziplinarvorgesetzten bei der Verhängung an. Die Wiederaufnahme ist nach § 44 Abs. 3 WDO nicht ausgeschlossen, wenn der Soldat im Ausgangsverfahren die Angabe der Tatsache oder des Beweismittels schuldhaft versäumt hat.

2. Ein Wiederaufnahmeantrag nach § 45 WDO kann nicht rechtswirksam bereits als Hilfsantrag im Beschwerdeverfahren gestellt werden.

  • Rechtsquellen
    WDO § 44 Abs. 3, § 45 Abs. 1 und 2, § 129 Abs. 2 Satz 2
    VwVfG § 1 Abs. 1, § 51 Abs. 2

  • TDG Süd 5. Kammer - 24.10.2022 - AZ: S 5 GL 8/21 und S 5 RL 1/22

  • Zitiervorschlag

    BVerwG, Beschluss vom 20.04.2023 - 2 WRB 1.23 - [ECLI:DE:BVerwG:2023:200423B2WRB1.23.0]

Beschluss

BVerwG 2 WRB 1.23

  • TDG Süd 5. Kammer - 24.10.2022 - AZ: S 5 GL 8/21 und S 5 RL 1/22

In dem Rechtsbeschwerdeverfahren hat der 2. Wehrdienstsenat des Bundesverwaltungsgerichts durch
den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Häußler,
den Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Burmeister,
die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Dr. Henke,
den ehrenamtlichen Richter Oberstleutnant Riese und
den ehrenamtlichen Richter Hauptfeldwebel Zornow
am 20. April 2023 beschlossen:

  1. Die Rechtsbeschwerde des Soldaten gegen den Beschluss der 5. Kammer des Truppendienstgerichts Süd vom 24. Oktober 2022 wird zurückgewiesen.
  2. Die Kosten des Beschwerdeverfahrens werden dem Soldaten auferlegt.

Gründe

I

1 Die Rechtsbeschwerde des Soldaten betrifft Fragen der Wiederaufnahme eines einfachen Disziplinarverfahrens.

2 Gegen den Soldaten, einen Stabsfeldwebel, wurde am 25. Februar 2021 eine Disziplinarbuße in Höhe von 500 € verhängt. Ihm wurde vorgeworfen, an einem Montag betrunken zum Dienst erschienen zu sein. Außerdem habe er an einem Mittwochabend wiederholt einem Stabsgefreiten lautstark über den Kasernenhof zugerufen, ob er jetzt zum "Bumsen" gehe.

3 Die frühere Verteidigerin des Soldaten erhob mit Schreiben vom 22. Juni 2021 Beschwerde mit der Begründung, die Maßnahme sei ermessensfehlerhaft. Der Soldat leide an einer depressiven Störung. Er sei zwar nach Aktenlage alkoholisiert zum Dienst erschienen. Mangels Wiederholungsgefahr und negativen Auswirkungen auf das Ansehen der Bundeswehr sei lediglich eine erzieherische Maßnahme angezeigt.

4 Mit Schreiben vom 19. Juli 2021 stellte der derzeitige Bevollmächtigte hilfsweise einen Antrag auf Aufhebung der bereits unanfechtbaren Disziplinarmaßnahme. Die Entscheidung sei fehlerhaft, da ein Tatnachweis nicht geführt werden könne. Die Aussagen der Zeugen zur Alkoholisierung seien konstruiert, untereinander abgesprochen und zeigten erhebliche Belastungstendenzen. Eine Blutalkoholkontrolle sei nicht durchgeführt worden. Der Soldat habe am Vorabend Alkohol konsumiert, sodass es aufgrund seiner Medikation möglicherweise zu einer Wechselwirkung gekommen sei. An die ihm vorgeworfene Aussage gegenüber dem Stabsgefreiten habe er keine Erinnerung.

5 Der nächsthöhere Disziplinarvorgesetzte wies die Beschwerde mit bestandskräftigem Bescheid vom 1. Oktober 2021 als unzulässig zurück. Die Disziplinarbuße sei seit dem 26. März 2021 unanfechtbar, sodass die Beschwerde nicht fristgerecht eingegangen sei.

6 Den Hilfsantrag auf Aufhebung der unanfechtbaren Maßnahme hat das Truppendienstgericht Süd mit Beschluss vom 24. Oktober 2022 zurückgewiesen. Der Antrag auf Wiederaufnahme sei unzulässig, da er sich nicht auf neue Tatsachen oder Beweismittel stütze. Für die Frage, ob eine Tatsache "neu" im Sinne des § 44 Abs. 3 WDO sei, komme es nach Ansicht der Kammer nicht allein auf die Kenntnis des Disziplinarvorgesetzten bei der Verhängung der Maßnahme an. Vielmehr müsse die Tatsache auch für den Soldaten neu sein. Habe dieser bewusst im Disziplinarverfahren nicht auf einen ihm bekannten Umstand, hier seine gesundheitlichen Probleme, aufmerksam gemacht, bestehe kein sachlicher Grund, ihm nach diesem bewussten und gewollten Versäumnis das "Sonderverfahren" der §§ 44, 45 WDO zu eröffnen. Es handele sich um ein widersprüchliches Verhalten, das keine neue Sachentscheidung "verdiene". Das Truppendienstgericht hat die Rechtsbeschwerde wegen der grundsätzlichen Bedeutung der Sache zugelassen.

7 In der binnen eines Monats eingegangenen Begründung der Rechtsbeschwerde tritt der Soldat der Ansicht des Truppendienstgerichts entgegen. Der Vortrag zu seiner psychischen Situation stelle eine neue Tatsache dar, die das Truppendienstgericht zur Einholung eines Sachverständigengutachtens hätte veranlassen müssen. Aufgrund seines Gesundheitszustandes und seiner stationären Aufnahme sei es ihm nicht möglich gewesen, die zu seinen Gunsten sprechenden Gründe im Beschwerdeweg fristgerecht vorzutragen, sodass ihm die Möglichkeit eines Antrages nach § 44 Abs. 3 WDO zustehen müsse.

8 Das Bundesministerium der Verteidigung tritt der Ansicht des Truppendienstgerichts ebenfalls entgegen. Tatsachen seien im Sinne von § 36 Abs. 2 WDO und § 44 Abs. 3 WDO dann neu, wenn sie dem Disziplinarvorgesetzten im Zeitpunkt seiner Entscheidung nicht bekannt gewesen seien und der disziplinaren Entscheidung nicht zugrunde gelegen hätten. Dies entspreche der Rechtslage im Strafprozessrecht. Daher gebe das nachträgliche Bekanntwerden einer psychischen Erkrankung Anlass zu einer erneuten Prüfung. Auf ein Verschulden des Angeschuldigten für den unterbliebenen Vortrag komme es nicht an. Der Bundeswehrdisziplinaranwalt hat sich dem angeschlossen.

II

9 Die Rechtsbeschwerde hat im Ergebnis keinen Erfolg.

10 1. Sie ist zwar zulässig. Sie ist insbesondere vom Truppendienstgericht mit bindender Wirkung für den Senat zugelassen (§ 22a Abs. 1 und 3 WBO) sowie form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden.

11 2. Die Rechtsbeschwerde ist jedoch unbegründet. Zwar ist die Rechtsansicht des Soldaten und des Bundesverteidigungsministeriums zutreffend, dass der angegriffene Beschluss des Truppendienstgerichts auf der Verletzung von Bundesrecht beruht (§ 23a Abs. 2 Satz 1 WBO i. V. m. § 137 Abs. 1 Nr. 1 VwGO).

12 a) Entgegen der Ansicht des Truppendienstgerichts kommt es bei der Frage, ob eine Tatsache neu ist, nämlich nicht auf das Wissen des Soldaten, sondern auf den Kenntnisstand des Disziplinarvorgesetzten an. Zwar folgt dies nicht aus dem Wortlaut des § 44 Abs. 3 Satz 1 WDO. Denn in dieser Vorschrift wird nicht ausdrücklich geregelt, wessen Perspektive maßgeblich ist. Auch § 44 Abs. 3 Satz 2 WDO, wonach abweichende tatsächliche Feststellungen eines rechtskräftigen Urteils im Straf- oder Bußgeldverfahren als neue Tatsachen gelten, bringt insoweit keine Klarstellung. Dies folgt jedoch aus dem systematischen Zusammenhang der Wiederaufnahmevorschriften des einfachen Disziplinarverfahrens zu den Wiederaufnahmeregeln des gerichtlichen Disziplinarverfahrens. Auch in einem rechtskräftig abgeschlossenen gerichtlichen Disziplinarverfahren ist nach § 129 Abs. 1 Nr. 2 WDO die Wiederaufnahme bei Bekanntwerden neuer Tatsachen und Beweismittel zulässig. § 129 Abs. 2 Satz 2 WDO bestimmt, dass Tatsachen und Beweismittel neu sind, die dem Gericht bei seiner Entscheidung nicht bekannt gewesen sind. Danach stellt das Gesetz auf die Kenntnis des die disziplinarrechtliche Maßnahme treffenden Gerichts ab. Auf das einfache Disziplinarverfahren übertragen ist folglich die Kenntnis des entscheidenden Disziplinarvorgesetzten oder Wehrdienstgerichts maßgeblich (vgl. Dau/Schütz, WDO, 8. Aufl. 2022, § 44 Rn. 27).

13 b) Entgegen der Ansicht des Truppendienstgerichts ist es auch nicht entscheidend, ob der Soldat das mangelnde Bekanntwerden der für ihn sprechenden Umstände verschuldet hat. Es spricht zwar vieles dafür, dass er bereits vor Verhängung der Disziplinarbuße auf seine psychische Erkrankung und eine mögliche Alkohol-Medikation-Wechselwirkung hätte hinweisen können. Auf ein Verschulden an dem verspäteten Sachvortrag kommt es jedoch nicht an. Zwar enthielt die Wehrdisziplinarordnung vom 15. März 1957 (BGBl. I S. 189) als Voraussetzung für die nochmalige Prüfung einer einfachen Disziplinarstrafe in § 31 Abs. 3 Satz 2 WDO a. F. die Regelung, dass der Bestrafte sich nur auf solche neuen Tatsachen und Beweismittel berufen konnte, die er in dem früheren Verfahren ohne Verschulden nicht geltend gemacht hatte. Diese Verschuldensklausel ist jedoch bei der Neufassung der Wehrdisziplinarordnung im Jahr 1972 gestrichen worden. Zur Begründung wurde ausgeführt, dass dieser Grundsatz aufgegeben werde, da auch im Wiederaufnahmeverfahren gegen eine gerichtliche Disziplinarmaßnahme ebenso wie in der Beamtendisziplinarordnung das Verschuldensprinzip entfallen sei (BT-Drs. 6/1834 S. 44, 62).

14 Etwas anderes folgt auch nicht daraus, dass die Disziplinarbuße ein Verwaltungsakt ist, für den die Regelungen des Verwaltungsverfahrensrechts subsidiär Anwendung finden (vgl. BVerwG, Beschluss vom 21. September 2022 - 2 WDB 1.22 - juris Rn. 23). Zwar lässt § 51 Abs. 2 VwVfG ein Wiederaufgreifen eines unanfechtbaren Verwaltungsakts nur zu, wenn der Betroffene ohne grobes Verschulden außerstande war, den Grund für das Wiederaufgreifen in dem früheren Verfahren, insbesondere durch Rechtsbehelf, geltend zu machen. Diese allgemeine Regelung greift jedoch nicht. Nach § 1 Abs. 1 VwVfG gelten die allgemeinen Bestimmungen des Verwaltungsverfahrensgesetzes nur, soweit nicht Rechtsvorschriften des Bundes inhaltsgleiche oder entgegenstehende Bestimmungen enthalten. Das Wiederaufgreifen unanfechtbarer einfacher Disziplinarmaßnahmen ist jedoch in § 44 Abs. 3 und § 45 WDO speziell und entgegenstehend geregelt.

15 3. Die Entscheidung des Truppendienstgerichts erweist sich jedoch aus anderen Gründen im Ergebnis als richtig (§ 23a Abs. 2 Satz 1 WBO i. V. m. § 144 Abs. 4 VwGO).

16 Denn der Antrag auf Aufhebung einer einfachen Disziplinarmaßnahme nach § 44 Abs. 3 WDO ist - wie sonstige behördliche oder gerichtliche Verfahrenshandlungen - grundsätzlich bedingungsfeindlich und somit unwirksam. Das gilt insbesondere für externe Bedingungen (vgl. Ramsauer, in: Kopp/Ramsauer, VwVfG, 23. Aufl. 2022, § 22 Rn. 58). Zwar können innerhalb desselben behördlichen oder gerichtlichen Verfahrens bei der dafür zuständigen Stelle unterschiedliche Anträge als zulässige innerprozessuale Bedingungen hilfsweise verfolgt werden (vgl. Schübel-Pfister, in: Eyermann, VwGO, 16. Aufl. 2022, § 106 Rn. 19).

17 Ein Wiederaufnahmeantrag ist jedoch kein zulässiger Hilfsantrag in einem laufenden Beschwerdeverfahren. Dies folgt zum einen daraus, dass die Beschwerdestelle für ein solches Verfahren nicht sachlich zuständig ist. Der Wiederaufnahmeantrag ist als gerichtlicher Rechtsbehelf bei dem nach § 45 Abs. 1 WDO dafür zuständigen Wehrdienstgericht zu stellen; auch wenn er nach § 45 Abs. 2 WDO i. V. m. § 5 WBO fristwahrend beim Disziplinarvorgesetzten eingereicht werden kann. Als gerichtlicher Antrag, der ein Prozessverhältnis erst begründen soll, ist er bedingungsfeindlich (vgl. BVerfG, Urteil vom 26. Oktober 2022 - 2 BvE 3/15, 2 BvE 7/15 - juris Rn. 61; Happ, in: Eyermann, VwGO, 16. Aufl. 2022, Vor § 124 Rn. 35).

18 Zum anderen soll er nach der gesetzlichen Regelung des § 44 Abs. 3 WDO erst nach Abschluss des regulären Rechtsmittelverfahrens bei Eintritt der Unanfechtbarkeit der Disziplinarmaßnahme gestellt werden können. Erst nach dem bestands- oder rechtskräftigen Abschluss des mit der Beschwerde fortgeführten Ausgangsverfahrens steht fest, welches Vorbringen berücksichtigt worden ist und darum kann erst danach beurteilt werden, welche Tatsachen und Beweismittel im Aufhebungsverfahren "neu" sind. Da eine Beschwerdestelle auch im Fall einer verspätet eingelegten Beschwerde eine Sachentscheidung erlassen kann (vgl. BVerwG, Beschluss vom 31. August 2017 - 1 WRB 1.16 - Buchholz 450.1 § 17 WBO Nr. 96 Rn. 20 f.), steht erst nach Abschluss dieses Rechtsmittelverfahrens fest, welche Tatsachen und Beweismittel verwertet worden sind. Für die rechtliche Anerkennung eines gleichsam auf Vorrat "hilfsweise" bei der unzuständigen Stelle eingelegten Wiederaufnahmeantrags besteht kein Rechtsschutzbedürfnis.

19 Da ein wirksamer Wiederaufnahmeantrag des Soldaten fehlt, hat das Truppendienstgericht das Begehren im Ergebnis zutreffend abgewiesen.

20 4. Die Kostenentscheidung folgt aus § 23a Abs. 2 WBO i. V. m. § 154 Abs. 2 VwGO.