Beschluss vom 25.06.2025 -
BVerwG 7 B 29.24ECLI:DE:BVerwG:2025:250625B7B29.24.0

Windenergie

Leitsatz:

Wann ein Nachbar sichere Kenntnis von dem erlangt oder hätte erlangen können, was auf dem Nachbargrundstück tatsächlich genehmigt worden ist, hängt von den konkreten Umständen des Einzelfalls ab und setzt nicht stets voraus, dass er die Genehmigung "in den Händen" hält (Bestätigung von BVerwG, Beschlüsse vom 17. Februar 1989 - 4 B 28.89 - Buchholz 406.19 Nachbarschutz Nr. 87 und vom 11. September 2018 - 4 B 34.18 - NJW 2019, 383).

  • Rechtsquellen
    VwGO § 58 Abs. 2

  • OVG Magdeburg - 08.08.2024 - AZ: 2 K 25/23

  • Zitiervorschlag

    BVerwG, Beschluss vom 25.06.2025 - 7 B 29.24 - [ECLI:DE:BVerwG:2025:250625B7B29.24.0]

Beschluss

BVerwG 7 B 29.24

  • OVG Magdeburg - 08.08.2024 - AZ: 2 K 25/23

In der Verwaltungsstreitsache hat der 7. Senat des Bundesverwaltungsgerichts am 25. Juni 2025 durch den Präsidenten des Bundesverwaltungsgerichts Prof. Dr. Korbmacher, den Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Günther und die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Bähr beschlossen:

  1. Die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Urteil des Oberverwaltungsgerichts des Landes Sachsen-Anhalt vom 8. August 2024 wird zurückgewiesen.
  2. Der Kläger trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens einschließlich der außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen.
  3. Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwerdeverfahren auf 15 000 € festgesetzt.

Gründe

I

1 Der Kläger wendet sich gegen eine der Beigeladenen erteilte immissionsschutzrechtliche Genehmigung für die Errichtung und den Betrieb eines aus sechs Windenergieanlagen bestehenden Windparks. Er ist Eigentümer eines Grundstücks (Flurstück 45), für das der Voreigentümer 2017 mit der Beigeladenen einen Nutzungsvertrag für Einrichtungen des Windparks abgeschlossen hat. Dem Vertrag ist ein Lageplan beigefügt, aus dem sich die einzelnen Standorte der Windenergieanlagen ergeben. Die 2021 erteilte Genehmigung ist dem Kläger nicht amtlich bekannt gegeben worden. Der Kläger hat den Nutzungsvertrag mit Schreiben vom 10. Februar 2022 gekündigt. Der vormalige Prozessbevollmächtigte der Beigeladenen hat der Kündigung mit Schreiben vom 1. März 2022 widersprochen. Das Oberverwaltungsgericht hat die Klage als unzulässig abgewiesen, da sie nicht innerhalb der Jahresfrist des § 58 Abs. 2 VwGO erhoben worden sei. Der Kläger habe sichere Kenntnis von der immissionsschutzrechtlichen Genehmigung durch Zugang des Schreibens des vormaligen Rechtsbeistandes der Beigeladenen vom 1. März 2022 erhalten. Er hätte daher Klage an einem Tag im März einlegen müssen, der jedenfalls vor dem Tag der Klageeinreichung am 30. März 2023 liege.

2 Das Oberverwaltungsgericht hat die Revision nicht zugelassen. Hiergegen richtet sich die Beschwerde des Klägers.

II

3 Die Beschwerde macht geltend, das Oberverwaltungsgericht habe in Abweichung von der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts den Rechtssatz aufgestellt, dass die "sichere Kenntnis" eines Nachbarn von einer Bau- oder immissionsschutzrechtlichen Genehmigung, die die Frist der §§ 70, 58 Abs. 2 VwGO auslöse, bereits dann vorliege, wenn er Kenntnis davon erlange, dass überhaupt eine Genehmigung vorliege und wie das Vorhaben im Wesentlichen ausgestaltet sei. Darin liege eine Divergenz (§ 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO), eine verfahrensfehlerhafte Handhabung der Sachurteilsvoraussetzungen der Klage (§ 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO) und die Sache werfe die grundsätzliche Frage auf (§ 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO), ob für eine sichere und damit fristauslösende Kenntnis einer Genehmigung stets auch Kenntnis vom Inhalt des Genehmigungsbescheides erforderlich sei. Dieses Vorbringen rechtfertigt die Zulassung der Revision unter keinem der geltend gemachten Revisionsgründe.

4 Das Oberverwaltungsgericht hat seiner Entscheidung als rechtlichen Maßstab ausdrücklich den Beschluss des Bundesverwaltungsgerichts vom 11. September 2018 - 4 B 34.18 - (NJW 2019, 383) zugrunde gelegt. Danach tritt der Zeitpunkt, zu dem der Nachbar von der Baugenehmigung zuverlässige Kenntnis nehmen konnte, ein, wenn sich ihm das Vorliegen der Baugenehmigung aufdrängen musste - beispielsweise aufgrund eines sichtbaren Beginns der Bauausführung - und es ihm möglich und zumutbar war, sich hierüber - etwa durch Anfrage bei dem Bauherrn oder der Baugenehmigungsbehörde - Gewissheit zu verschaffen. Daraus folgt: Ab dem Zeitpunkt, an dem der Nachbar davon ausgehen muss, dass der Bauherr eine Baugenehmigung erhalten hat, hat er sich regelmäßig innerhalb eines Jahres über die Genehmigungslage zu informieren. Tut er dies, so wird die Widerspruchsfrist erst dadurch versäumt, dass er nach Erhalt der Information, die ihm die sichere Kenntnis von der Baugenehmigung verschafft, nicht fristgerecht Widerspruch einlegt (BVerwG, Urteil vom 25. Januar 1974 - 4 C 2.72 - BVerwGE 44, 294 <296>; BVerwG, Beschluss vom 11. September 2018 - 4 B 34.18 - NJW 2019, 383 Rn. 11).

5 Aus diesen Entscheidungen lässt sich entgegen der Ansicht der Beschwerde nicht der Rechtssatz ableiten, sichere Kenntnis liege stets erst dann vor, wenn der Nachbar den vollständigen Genehmigungsbescheid "in den Händen hält" oder hätte halten können. Zwar haben das Bundesverwaltungsgericht im Beschluss vom 11. September 2018 und ihm folgend das Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg (Beschluss vom 17. Juli 2024 - 10 S 18.24 - juris Rn. 9) die sichere Kenntnis erst mit der Einsichtnahme in die Bauakte beginnen lassen. Dem vorausgegangen waren in beiden Fällen allerdings entsprechende explizite Anträge auf Akteneinsicht, die über längere Zeit nicht beschieden bzw. sogar zunächst ausdrücklich abgelehnt und nur eingeschränkt erfüllt wurden. Eine über den Einzelfall hinausgehende Aussage über die Voraussetzungen der sicheren Kenntnisnahme lässt sich den Entscheidungen nicht entnehmen. Wann ein Nachbar Kenntnis erlangt hat oder hätte erlangen können, hängt allein von den konkreten Umständen des Einzelfalls ab (BVerwG, Beschluss vom 17. Februar 1989 - 4 B 28.89 - Buchholz 406.19 Nachbarschutz Nr. 87). Es ist nicht stets erforderlich, dass der Nachbar den Genehmigungsinhalt in seinen Einzelheiten kennt. Ausreichend ist vielmehr, dass er sichere Kenntnis davon hat, dass und wofür eine Genehmigung erteilt worden ist, er mithin nicht "ins Blaue hinein" Widerspruch einlegen oder klagen muss. Insofern kann es genügen, dass der Nachbar aufgrund von Bauarbeiten auf dem Nachbargrundstück und weiteren - auch nicht amtlichen - Informationen diese sichere Kenntnis von der Erteilung der Genehmigung und deren Inhalt erlangt oder hätte erlangen können. So hat das Bundesverwaltungsgericht in seinem Urteil vom 25. Januar 1974 ‌- 4 C 2.72 - (BVerwGE 44, 294 <302>) die Sache an das Oberverwaltungsgericht zur Klärung der Frage zurückverwiesen, ob der Kläger "etwa auf Grund einer Unterrichtung durch seinen heutigen Prozessbevollmächtigten" sichere Kenntnis von einer dem Nachbarn erteilten Baugenehmigung hatte.

6 Hiermit steht die Annahme des Oberverwaltungsgerichts, der Kläger habe sichere Kenntnis durch das Schreiben des Rechtsbeistandes der Beigeladenen vom 1. März 2022 erlangt, in Einklang. Nach den tatsächlichen Feststellungen des Oberverwaltungsgerichts hat der damalige Prozessbevollmächtigte der Beigeladenen dem Kläger in diesem Schreiben mitgeteilt, dass die immissionsschutzrechtliche Genehmigung zu dem Projekt vorliege. Mit der Bezeichnung "Projekt" sei auf den Nutzungsvertrag Bezug genommen worden, den die Beigeladene am 23. Mai 2017 mit der damaligen Eigentümerin des Flurstücks 45 geschlossen habe und der später mit dem Kauf dieses Flurstücks 45 auf den Kläger übergegangen sei. In der Präambel zu diesem Vertrag habe die damalige Eigentümerin des Flurstücks 45 die für die Errichtung des Windparks erforderliche Benutzung des Flurstücks gestattet. In der Anlage zu diesem Nutzungsvertrag werde die Ausgestaltung des Windparks durch den beigefügten Lageplan deutlich. Das dort dargestellte Vorhaben stimme auch in hinreichender Weise mit dem überein, was 2021 tatsächlich genehmigt worden sei.

7 Aus dem Umstand, dass es sich vorliegend um eine immissionsschutzrechtliche Genehmigung handelt, folgt nichts Anderes. Auch hier liegt ein nachbarschaftliches Gemeinschaftsverhältnis vor (zu dessen Notwendigkeit BVerwG, Beschluss vom 13. März 2020 - 8 B 2.20 - ZOV 2020, 120 Rn. 17) und aus einem möglicherweise größeren Umfang einer immissionsschutzrechtlichen Genehmigung ergeben sich entgegen der Auffassung der Beschwerde keine generell erhöhten Anforderungen an eine Kenntnisnahme des Inhalts der Genehmigung. Ebenso wie im baunachbarschaftlichen Gemeinschaftsverhältnis ist bei einem immissionsschutzrechtlichen Vorhaben entscheidend, ob eine einer amtlichen Bekanntmachung entsprechende Kenntnis des Drittbetroffenen über das Vorliegen einer Genehmigung und deren Inhalt vorliegt, die ihn zur Geltendmachung seiner Einwendungen in die Lage versetzt. Dies ist auch bei der immissionsschutzrechtlichen Genehmigung nach den Umständen des Einzelfalls zu beantworten.

8 Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2, § 162 Abs. 3 VwGO, die Streitwertfestsetzung aus § 47 Abs. 1 und 3, § 52 Abs. 1 GKG.