Beschluss vom 25.10.2023 -
BVerwG 2 WD 9.23ECLI:DE:BVerwG:2023:251023B2WD9.23.0
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Zitiervorschlag
BVerwG, Beschluss vom 25.10.2023 - 2 WD 9.23 - [ECLI:DE:BVerwG:2023:251023B2WD9.23.0]
Beschluss
BVerwG 2 WD 9.23
In dem gerichtlichen Disziplinarverfahren hat der 2. Wehrdienstsenat des Bundesverwaltungsgerichts durch
den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Häußler,
den Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Burmeister und
die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Dr. Henke
am 25. Oktober 2023 beschlossen:
- I. Den Beteiligten wird Gelegenheit gegeben, zu folgenden in Betracht kommenden Beweiserhebungen Stellung zu nehmen:
- 1. Zum Beweis der Tatsache, welche wissenschaftlichen Erkenntnisse zur politischen Ausrichtung der Identitären Bewegung Deutschland e. V. insbesondere in den Jahren 2015 und 2016 vorliegen, namentlich zur Frage,
- a) wie sich die Identitäre Bewegung zur gleichberechtigten Teilnahme aller deutschen Staatsangehörigen am Prozess der politischen Willensbildung und zur Rückbindung der Ausübung der Staatsgewalt an das Volk
- sowie
- b) dazu verhält, ob sich das nach dem Gutachten bei der Identitären Bewegung angenommene "Ausländerrückführungsprogramm" auch auf Personen beziehen soll, die bereits über die deutsche Staatsangehörigkeit verfügen, nach den politischen Vorstellungen der Identitären Bewegung jedoch ethnisch nicht deutsch sind,
- wird Herr Prof. Dr. ... M. mit der Ausarbeitung und dem Vortrag eines ergänzenden Gutachtens beauftragt.
- 2. Zum Beweis der Tatsache, welche Erkenntnisse zur politischen Ausrichtung der Identitären Bewegung Deutschland e. V. insbesondere in den Jahren 2015 und 2016 vorliegen, namentlich zur Frage,
- a) wie sich die Identitäre Bewegung zur gleichberechtigten Teilnahme aller deutschen Staatsangehörigen am Prozess der politischen Willensbildung und zur Rückbindung der Ausübung der Staatsgewalt an das Volk
- sowie
- b) dazu verhält, ob sich das nach dem Gutachten bei der Identitären Bewegung angenommene "Ausländerrückführungsprogramm" auch auf Personen beziehen soll, die bereits über die deutsche Staatsangehörigkeit verfügen, nach den politischen Vorstellungen der Identitären Bewegung jedoch ethnisch nicht deutsch sind;
- c) welche speziellen Erkenntnisse in Bezug auf diesbezügliche Äußerungen des damaligen Landesvorsitzenden der Identitären Bewegung Bayerns und des früheren Soldaten vorliegen,
- wird das Bayerische Landesamt für Verfassungsschutz um eine Stellungnahme und Benennung einer Auskunftsperson gebeten.
- 3. Zum Beweis der Tatsache, ob die Veröffentlichungen und Aktivitäten des früheren Soldaten geeignet sind, Rückschlüsse auf seine politische Grundeinstellung zuzulassen, wird Frau Dr. ... S., LMU ..., als Sachverständige vernommen.
- 4. Den Beteiligten wird ferner Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben, welche weiteren Beweise erhoben werden sollen.
- II. Den Beteiligten wird Gelegenheit zur Stellungnahme zur Frage der Zurückverweisung der Sache und der Ausklammerung von Pflichtverletzungen gegeben.
- III. Es wird um Abgabe der Stellungnahme bis zum 19. November 2023 gebeten.
Gründe
1 Nach vorläufiger Einschätzung des Senats kann gegenwärtig offenbleiben, ob das erstinstanzliche Verfahren Verfahrensfehler im Sinne des § 120 Abs. 1 Nr. 2 WDO aufweist. Selbst wenn dies der Fall wäre, schiene es bei Ausübung des von dieser Vorschrift eingeräumten prozessualen Ermessens sachgerecht, den Rechtsstreit aus Gründen der Verfahrensbeschleunigung nicht zurückzuverweisen.
2 Es wird darauf hingewiesen, dass das Berufungsgericht in diesem Fall angesichts der unbeschränkt eingelegten Berufung eine eigenständige Tatsachen- und Rechtswürdigung der angeschuldigten Sachverhalte durchzuführen hat und die vom Truppendienstgericht ausgeklammerten Pflichtverletzungen (Punkte 5 und 6 der Anschuldigungsschrift sowie 2 und 3 der Nachtragsanschuldigung) unter den Voraussetzungen des § 107 Abs. 2 Satz 2 Halbs. 2 WDO wieder in das Disziplinarverfahren einbezogen werden können.
3 Im Rahmen der Beweiserhebung erscheint es nicht durchgängig möglich, eine Entscheidung auf die erstinstanzlich erhobenen Beweise zu stützen. Hinsichtlich der vom Truppendienstgericht eingeholten Sachverständigenbeweise besteht weiterer Aufklärungsbedarf. Die Beweiserhebung des Truppendienstgerichts beruht in beiden Fällen darauf, dass der Vorsitzende Richter des Truppendienstgerichts den Sachverständigen kein klar eingegrenztes Beweisthema vorgegeben hat. Die richterliche Fragestellung war in beiden Fällen nicht auf eine Tatsachenermittlung und -begutachtung, sondern auf eine dem Gericht obliegende rechtliche Bewertung gerichtet. Dem soll der in Betracht gezogene Beschlussentwurf nun Rechnung tragen.
4 Hinsichtlich des Gutachtens von Prof. Dr. M. ist festzustellen, dass er überwiegend Ergebnisse und Schlussfolgerungen dargestellt und nur wenige Primärquellen und Originalzitate benannt hat. Angesichts der Kritik des Berufungsführers daran erscheint es sinnvoll, den Gutachter um Ergänzung des Gutachtens hinsichtlich seiner Erkenntnisgrundlagen zu bitten und ihn in der Berufungshauptverhandlung anzuhören. Es dürfte insbesondere notwendig sein, auch nähere Informationen und Nachweise darüber zu erhalten, welche Vorstellungen die führenden Repräsentanten der Identitären Bewegung von der Durchsetzung des "Ethnopluralismus" und der "identitären Demokratie" insbesondere in den Jahren 2015 und 2016 entwickelt und verbreitet haben.
5 Über den in der Berufungsbegründung erhobenen Vorwurf der Befangenheit des Sachverständigen i. S. d. § 91 Abs. 1 WDO i. V. m. §§ 74 Abs. 2, 24 Abs. 2 StPO wird der Senat nach Antragstellung befinden. Dabei weist er darauf hin, dass allein der Umstand, dass ein Sachverständiger Aussagen getroffen und Schlüsse gezogen hat, die aus Sicht eines Verfahrensbeteiligten unrichtig sind, für sich genommen nicht den Vorwurf fehlender Neutralität trägt. Inhaltliche Einwände gegen die Richtigkeit des Gutachtens können in der Berufungshauptverhandlung angesprochen werden und sind vom Gericht im Rahmen der Beweiswürdigung zu prüfen.
6 Ergänzend kommt in Betracht, das Bayerische Landesamt für Verfassungsschutz um eine schriftliche gutachterliche Stellungnahme nach § 91 Abs. 1 WDO i. V. m. § 83 Abs. 3 StPO zu ersuchen. Soweit es im Rahmen seiner Aufgabenstellung dazu verpflichtet oder im Rahmen der Amtshilfe dazu bereit ist, müsste es nach einer schriftlichen Stellungnahme bei Bedarf einen Bediensteten zur Erläuterung in die Berufungshauptverhandlung entsenden (§ 256 Abs. 2 StPO).
7 Schließlich liegen ein Gutachten und eine ergänzende gutachterliche Stellungnahme von Frau Dr. ... S., LMU ..., in den Akten. Nach vorläufiger Einschätzung des Senats hat das Truppendienstgericht dieses Gutachten zwar angefordert, aber nicht verwertet. Der Vorsitzende Richter hatte als Gutachtensauftrag die Frage gestellt, "ob die angeschuldigten Sachverhalte (so erweislich) geeignet scheinen, Zweifel an der Verfassungstreue i. S. d. § 8 Soldatengesetz des früheren Soldaten zu begründen" und der Gutachterin zugleich ein Schriftenverzeichnis des früheren Soldaten übersandt. Frau Dr. S. hat daraus den Schluss gezogen, sie solle die Schriften des früheren Soldaten und seine angeschuldigten Betätigungen auswerten und darauf basierend ein personenbezogenes Gutachten abgeben. Der Berufungsführer hat die Gutachterin als befangen abgelehnt, weil sie den Gutachtenauftrag eigenmächtig zu seinem Nachteil abgeändert und aus seinen Schriften verfehlte Schlüsse gezogen habe. Auch der Vorsitzende Richter des Truppendienstgerichts hat sich dahingehend geäußert, dass er nur ein Sachverständigengutachten zur angeschuldigten Betätigung im Rahmen der Identitären Bewegung erbeten habe. Die Wehrdisziplinaranwaltschaft ist dem Ablehnungsantrag entgegengetreten.
8 Nach vorläufiger Einschätzung des Senats dürfte es nicht möglich sein, auf die Verwertung eines vom Gericht eingeholten Sachverständigengutachtens ohne Begründung zu verzichten. Nach § 123 Satz 3 i. V. m. § 106 Abs. 4 WDO werden Sachverständige und Zeugen vernommen, sofern nicht der frühere Soldat und der Bundeswehrdisziplinaranwalt darauf verzichten oder das Gericht sie für unerheblich erklärt. Die Ausnahmen von diesem Grundsatz dürften vorliegend nicht eingreifen, da der Inhalt des Gutachtens unter dem Gesichtspunkt der Persönlichkeit des früheren Soldaten voraussichtlich nicht unerheblich sein wird.
9 Daher bedarf es nach vorläufiger Einschätzung auch einer prozessrechtlichen Stellungnahme beider Seiten zur Frage des Verzichts auf die Vernehmung der Sachverständigen und zur Befangenheit der Gutachterin, wobei auf frühere Stellungnahmen verwiesen werden kann. Der Senat beabsichtigt über noch offene und ggf. neu gestellte Befangenheitsanträge vor der mündlichen Verhandlung nach Ablauf der Frist zur Stellungnahme durch Beschluss nach § 80 Abs. 3 Satz 1 WDO zu entscheiden. Falls damit kein Einverständnis besteht, können dazu ebenfalls Ausführungen gemacht werden.