Verfahrensinformation



Der Kläger, ein algerischer Staatsangehöriger, hält sich seit 2009 in der Bundesrepublik Deutschland auf und ist im Besitz einer Duldung. Seine frühere Ehefrau, mit der er zwischen 2017 und 2021 verheiratet war, siedelte 2008 im Alter von 12 Jahren von Polen nach Deutschland über und hat seit ihrer Geburt die polnische und die deutsche Staatsangehörigkeit inne. Der Kläger ist Vater von drei minderjährigen, in Deutschland lebenden Kindern deutscher und - nach den Angaben des Klägers - auch polnischer Staatsangehörigkeit.


Der Kläger begehrt die Ausstellung einer Aufenthaltskarte nach § 5 Abs. 1 Satz 1 FreizügG/EU und macht in erster Linie geltend, dass er Familienangehöriger von freizügigkeitsberechtigten EU-Doppelstaatern sei. Seine Klage blieb erfolglos. Der Verwaltungsgerichtshof hat auch die Berufung des Klägers zurückgewiesen. Der Kläger habe keinen Anspruch auf eine Aufenthaltskarte. Er sei kein Familienangehöriger eines Unionsbürgers im Sinne des Freizügigkeitsgesetzes/EU. Die Vorschriften dieses Gesetzes fänden auf ihn auch nicht nach § 12a FreizügG/EU entsprechende Anwendung, da die frühere Ehefrau und die Kinder des Klägers von ihrem Recht auf Freizügigkeit nicht nachhaltig Gebrauch gemacht hätten. Dem Kläger stehe ferner kein unmittelbar aus Art. 21 AEUV abgeleitetes Aufenthaltsrecht zu. 


Mit seiner vom Verwaltungsgerichtshof zugelassenen Revision verfolgt der Kläger sein Begehren weiter.  


Pressemitteilung Nr. 13/2025 vom 27.02.2025

EuGH soll die Reichweite der Freizügigkeitsberechtigung von EU-Doppelstaatern klären

Der Gerichtshof der Europäischen Union soll die Frage beantworten, ob das Unionsrecht dahin auszulegen ist, dass ein Doppelstaater, der von Geburt an die polnische und die deutsche Staatsangehörigkeit besitzt und der sich nach einem mehrjährigen Aufenthalt in dem ersten Mitgliedstaat (hier: Polen) dauerhaft in dem zweiten Mitgliedstaat (hier: Deutschland) aufhält, seinem drittstaatsangehörigen geschiedenen Ehegatten ein abgeleitetes Aufenthaltsrecht vermitteln kann. Das hat das Bundesverwaltungsgericht in Leipzig heute entschieden.


Der Kläger, ein algerischer Staatsangehöriger, hält sich seit 2009 in der Bundesrepublik Deutschland auf und ist im Besitz einer Duldung. Seine frühere Ehefrau, mit der er zwischen 2017 und 2021 verheiratet war, siedelte 2008 im Alter von zwölf Jahren von Polen nach Deutschland über und besitzt seit ihrer Geburt die polnische und die deutsche Staatsangehörigkeit. Der Kläger begehrt die Ausstellung einer Aufenthaltskarte nach § 5 Abs. 1 Satz 1 FreizügG/EU und macht in erster Linie geltend, dass er Familienangehöriger einer freizügigkeitsberechtigten EU-Doppelstaaterin sei. Seine Klage ist in den Vorinstanzen erfolglos geblieben.


Der 1. Revisionssenat des Bundesverwaltungsgerichts hat das Verfahren bis zu einer Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union über die nachstehende Vorlagefrage ausgesetzt:


Ist Art. 21 Abs. 1 AEUV auf einen Unionsbürger anwendbar, der seit seiner Geburt die Staatsangehörigkeit zweier Mitgliedstaaten besitzt und sich in den ersten zwölf Jahren seines Lebens in dem einen und sodann in dem anderen der beiden Mitgliedstaaten, deren Staatsangehörigkeit er besitzt, aufgehalten hat, sodass dieser Unionsbürger einem Drittstaatsangehörigen, mit dem er zeitweise verheiratet war und sich gemeinsam in dem zweiten Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, aufgehalten hat, ein abgeleitetes Aufenthaltsrecht vermitteln kann?


BVerwG 1 C 18.23 - Beschluss vom 27. Februar 2025

Vorinstanzen:

VG Sigmaringen, VG 7 K 4814/20 - Urteil vom 29. März 2021 -

VGH Mannheim, VGH 12 S 1835/21 - Urteil vom 05. Juli 2023 -


Beschluss vom 27.02.2025 -
BVerwG 1 C 18.23ECLI:DE:BVerwG:2025:270225B1C18.23.0

Vorlagebeschluss nach Art. 267 AEUV zur Reichweite der Freizügigkeitsberechtigung von EU-Doppelstaatern

Leitsatz:

Die Frage, ob Art. 21 Abs. 1 AEUV auf einen Unionsbürger anwendbar ist, der seit seiner Geburt die Staatsangehörigkeit zweier Mitgliedstaaten besitzt und sich in den ersten zwölf Jahren seines Lebens in dem einen und sodann in dem anderen der beiden Mitgliedstaaten, deren Staatsangehörigkeit er besitzt, aufgehalten hat, sodass dieser Unionsbürger einem Drittstaatsangehörigen, mit dem er zeitweise verheiratet war und sich gemeinsam in dem zweiten Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, aufgehalten hat, ein abgeleitetes Aufenthaltsrecht vermitteln kann, bedarf der Klärung durch den Gerichtshof der Europäischen Union.

  • Rechtsquellen
    AEUV Art. 21 Abs. 1, Art. 267
    FreizügG/EU §§ 1, 2, 3 Abs. 4, § 5 Abs. 1 Satz 1, § 12a

  • VG Sigmaringen - 29.03.2021 - AZ: 7 K 4814/20
    VGH Mannheim - 05.07.2023 - AZ: 12 S 1835/21

  • Zitiervorschlag

    BVerwG, Beschluss vom 27.02.2025 - 1 C 18.23 - [ECLI:DE:BVerwG:2025:270225B1C18.23.0]

Beschluss

BVerwG 1 C 18.23

  • VG Sigmaringen - 29.03.2021 - AZ: 7 K 4814/20
  • VGH Mannheim - 05.07.2023 - AZ: 12 S 1835/21

In der Verwaltungsstreitsache hat der 1. Senat des Bundesverwaltungsgerichts auf die mündliche Verhandlung am 27. Februar 2025 durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Keller, die Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Fleuß und Böhmann und die Richterinnen am Bundesverwaltungsgericht Dr. Wittkopp und Fenzl beschlossen:

  1. Das Verfahren wird ausgesetzt.
  2. Es wird gemäß Art. 267 AEUV eine Vorabentscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union zu folgender Frage eingeholt:
  3. Ist Art. 21 Abs. 1 AEUV auf einen Unionsbürger anwendbar, der seit seiner Geburt die Staatsangehörigkeit zweier Mitgliedstaaten besitzt und sich in den ersten zwölf Jahren seines Lebens in dem einen und sodann in dem anderen der beiden Mitgliedstaaten, deren Staatsangehörigkeit er besitzt, aufgehalten hat, sodass dieser Unionsbürger einem Drittstaatsangehörigen, mit dem er zeitweise verheiratet war und sich gemeinsam in dem zweiten Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, aufgehalten hat, ein abgeleitetes Aufenthaltsrecht vermitteln kann?

Gründe

I

1 Der Kläger, ein algerischer Staatsangehöriger, reiste im Jahr 2009 in die Bundesrepublik Deutschland ein. Der von ihm gestellte Asylantrag blieb erfolglos. Seitdem ist der Kläger im Besitz von Duldungen. Er ist verschiedentlich strafrechtlich in Erscheinung getreten und befand sich mehrfach in Untersuchungs- und Strafhaft sowie im Maßregelvollzug.

2 Die frühere Ehefrau des Klägers, mit der er zwischen 2017 und 2021 verheiratet war, lebte bis 2008 in Polen und siedelte sodann im Alter von zwölf Jahren nach Deutschland über, wo sie sich seitdem aufhält. Sie ist seit ihrer Geburt polnische Staatsangehörige. Erst nach ihrer Übersiedelung nach Deutschland stellte sich heraus, dass sie - ebenfalls seit ihrer Geburt - auch die deutsche Staatsangehörigkeit besitzt. Der Kläger und seine frühere Ehefrau sind Eltern dreier minderjähriger, seit ihrer Geburt in Deutschland lebender Kinder deutscher und möglicherweise auch polnischer Staatsangehörigkeit. Sie hielten sich im zeitlichen Zusammenhang mit ihrer 2017 erfolgten Eheschließung gemeinsam mit zweien ihrer Kinder mehrfach für Zeiträume von einigen Tagen oder wenigen Wochen, die jedoch nie die Dauer von drei Monaten erreichten, gemeinsam in Polen auf.

3 Der Kläger beantragte im Jahr 2018 die Ausstellung einer Aufenthaltskarte nach § 5 Abs. 1 Satz 1 FreizügG/EU. Nach Ablehnung dieses Antrags hat er Klage erhoben, die das Verwaltungsgericht abgewiesen hat. Der Verwaltungsgerichtshof hat auch die Berufung des Klägers zurückgewiesen. Der Kläger habe keinen Anspruch auf eine Aufenthaltskarte. Er sei kein Familienangehöriger eines Unionsbürgers im Sinne des Freizügigkeitsgesetzes/EU. Die Vorschriften dieses Gesetzes fänden auf ihn auch nicht nach § 12a FreizügG/EU entsprechende Anwendung, da die frühere Ehefrau und die Kinder des Klägers von ihrem Recht auf Freizügigkeit nicht nachhaltig Gebrauch gemacht hätten. Dem Kläger stehe ferner weder ein unmittelbar aus Art. 21 AEUV noch ein aus Art. 10 Abs. 1 VO (EU) Nr. 492/2011 abgeleitetes Aufenthaltsrecht zu.

4 Zur Begründung seiner Revision trägt der Kläger vor: Er sei Familienangehöriger freizügigkeitsberechtigter Personen. Seine frühere Ehefrau und seine Kinder seien als Staatsangehörige zweier Mitgliedstaaten freizügigkeitsberechtigt. Der hierfür allein erforderliche grenzüberschreitende Bezug sei jedenfalls in Gestalt der Übersiedelung seiner früheren Ehefrau nach Deutschland gegeben.

II

5 Der Rechtsstreit ist auszusetzen, weil sein Ausgang von einer vorab einzuholenden Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union über die Auslegung der Verträge abhängt (Art. 267 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union - AEUV –). Die Frage betrifft die Auslegung von Art. 21 Abs. 1 AEUV.

6 1. Die rechtliche Beurteilung der Frage, ob dem Kläger der von ihm geltend gemachte Anspruch auf eine Aufenthaltskarte zusteht, richtet sich im nationalen Recht nach den Vorschriften des Gesetzes über die allgemeine Freizügigkeit von Unionsbürgern (Freizügigkeitsgesetz/EU - FreizügG/EU) i. d. F. des Gesetzes vom 30. Juli 2004 (BGBl. I S. 1950), für den hier maßgeblichen Zeitraum zuletzt geändert durch Art. 4 des Gesetzes vom 20. April 2023 (BGBl. I Nr. 106). Dessen hier maßgebliche Vorschriften lauten wie folgt:
§ 1 Anwendungsbereich; Begriffsbestimmungen
(1) Dieses Gesetz regelt die Einreise und den Aufenthalt von
1. Unionsbürgern,
[...]
4. Familienangehörigen der in den Nummern 1 bis 3 genannten Personen,
5. nahestehenden Personen der in den Nummern 1 bis 3 genannten Personen sowie
6. Familienangehörigen und nahestehenden Personen von Deutschen, die von ihrem Recht auf Freizügigkeit nach Artikel 21 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union nachhaltig Gebrauch gemacht haben.
(2) Im Sinne dieses Gesetzes
1. sind Unionsbürger Staatsangehörige anderer Mitgliedstaaten der Europäischen Union, die nicht Deutsche sind,
[...]
3. sind Familienangehörige einer Person
a) der Ehegatte,
[...]
c) die Verwandten in gerader absteigender Linie der Person oder des Ehegatten oder des Lebenspartners, die das 21. Lebensjahr noch nicht vollendet haben oder denen von diesen Unterhalt gewährt wird, und
d) die Verwandten in gerader aufsteigender Linie der Person oder des Ehegatten oder des Lebenspartners, denen von diesen Unterhalt gewährt wird,
4. sind nahestehende Personen einer Person
a) Verwandte im Sinne des § 1589 des Bürgerlichen Gesetzbuchs und die Verwandten des Ehegatten oder des Lebenspartners, die nicht Familienangehörige der Person im Sinne der Nummer 3 sind,
[...].
§ 2 Recht auf Einreise und Aufenthalt
(1) Freizügigkeitsberechtigte Unionsbürger und ihre Familienangehörigen haben das Recht auf Einreise und Aufenthalt nach Maßgabe dieses Gesetzes.
(2) Unionsrechtlich freizügigkeitsberechtigt sind:
1. Unionsbürger, die sich als Arbeitnehmer oder zur Berufsausbildung aufhalten wollen,
1a. Unionsbürger, die sich zur Arbeitsuche aufhalten, für bis zu sechs Monate und darüber hinaus nur, solange sie nachweisen können, dass sie weiterhin Arbeit suchen und begründete Aussicht haben, eingestellt zu werden,
2. Unionsbürger, wenn sie zur Ausübung einer selbständigen Erwerbstätigkeit berechtigt sind (niedergelassene selbständige Erwerbstätige),
3. Unionsbürger, die, ohne sich niederzulassen, als selbständige Erwerbstätige Dienstleistungen im Sinne des Artikels 57 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union erbringen wollen (Erbringer von Dienstleistungen), wenn sie zur Erbringung der Dienstleistung berechtigt sind,
4. Unionsbürger als Empfänger von Dienstleistungen,
5. nicht erwerbstätige Unionsbürger unter den Voraussetzungen des § 4,
6. Familienangehörige unter den Voraussetzungen der §§ 3 und 4,
7. Unionsbürger und ihre Familienangehörigen, die ein Daueraufenthaltsrecht erworben haben.
(3) [...]
§ 3 Familienangehörige
(1) [...]
(4) Ehegatten oder Lebenspartner, die nicht Unionsbürger sind, behalten bei Scheidung oder Aufhebung der Ehe oder Aufhebung der Lebenspartnerschaft ein Aufenthaltsrecht, wenn sie die für Unionsbürger geltenden Voraussetzungen des § 2 Abs. 2 Nr. 1 bis 3 oder Nr. 5 erfüllen und wenn
1. die Ehe oder die Lebenspartnerschaft bis zur Einleitung des gerichtlichen Scheidungs- oder Aufhebungsverfahrens mindestens drei Jahre bestanden hat, davon mindestens ein Jahr im Bundesgebiet,
2. ihnen durch Vereinbarung der Ehegatten oder der Lebenspartner oder durch gerichtliche Entscheidung die elterliche Sorge für die Kinder des Unionsbürgers übertragen wurde,
3. es zur Vermeidung einer besonderen Härte erforderlich ist, insbesondere weil dem Ehegatten oder dem Lebenspartner wegen der Beeinträchtigung seiner schutzwürdigen Belange ein Festhalten an der Ehe oder der Lebenspartnerschaft nicht zugemutet werden konnte, oder
4. ihnen durch Vereinbarung der Ehegatten oder der Lebenspartner oder durch gerichtliche Entscheidung das Recht zum persönlichen Umgang mit dem minderjährigen Kind nur im Bundesgebiet eingeräumt wurde.
§ 4 Nicht erwerbstätige Freizügigkeitsberechtigte
1Nicht erwerbstätige Unionsbürger und ihre Familienangehörigen, die den Unionsbürger begleiten oder ihm nachziehen, haben das Recht nach § 2 Abs. 1, wenn sie über ausreichenden Krankenversicherungsschutz und ausreichende Existenzmittel verfügen. 2Hält sich der Unionsbürger als Student im Bundesgebiet auf, haben dieses Recht nur sein Ehegatte, Lebenspartner und seine Kinder, denen Unterhalt gewährt wird.
§ 5 Aufenthaltskarten, Bescheinigung über das Daueraufenthaltsrecht
(1) 1Freizügigkeitsberechtigten Familienangehörigen, die nicht Unionsbürger sind, wird von Amts wegen innerhalb von sechs Monaten, nachdem sie die erforderlichen Angaben gemacht haben, eine Aufenthaltskarte für Familienangehörige von Unionsbürgern ausgestellt, die fünf Jahre gültig sein soll. 2Eine Bescheinigung darüber, dass die erforderlichen Angaben gemacht worden sind, erhält der Familienangehörige unverzüglich.
(2) [...]
§ 12a Unionsrechtliches Aufenthaltsrecht
Auf Familienangehörige und nahestehende Personen von Deutschen, die von ihrem Recht auf Freizügigkeit nach Artikel 21 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union nachhaltig Gebrauch gemacht haben, finden die nach diesem Gesetz für Familienangehörige und für nahestehende Personen von Unionsbürgern geltenden Regelungen entsprechende Anwendung.

7 Maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage ist derjenige der Entscheidung des Berufungsgerichts (5. Juli 2023).

8 Die Vorlagefrage ist entscheidungserheblich. Der Kläger kann von seiner früheren Ehefrau ein Aufenthaltsrecht nur dann ableiten, wenn sie unabhängig davon, dass sie nicht nur die polnische, sondern auch die deutsche Staatsangehörigkeit besitzt, nach Art. 21 Abs. 1 AEUV freizügigkeitsberechtigt ist (2.). Seine Kinder können dem Kläger kein Aufenthaltsrecht vermitteln (3.). Ebenso steht dem Kläger kein Aufenthaltsrecht nach Art. 10 Abs. 1 VO (EU) Nr. 492/2011 zu (4.). Ein Anspruch des Klägers auf ein Aufenthaltsrecht aus Art. 20 AEUV (vgl. EuGH, Urteil vom 10. Mai 2017 - C-133/15 [ECLI:​​EU:​​C:​​2017:​​354], Chavez-Vilchez - Rn. 59 ff.) ist bereits von den Vorinstanzen rechtskräftig verneint worden und daher nicht mehr Gegenstand des Rechtsstreits.

9 2. a) Der Kläger hat keinen unmittelbaren Anspruch auf eine Aufenthaltskarte nach § 5 Abs. 1 Satz 1 FreizügG/EU. Die Norm ist auf den Kläger nicht unmittelbar anwendbar, weil er nicht Familienangehöriger eines Unionsbürgers im Sinne dieser Vorschrift ist. Das sind nur Staatsangehörige anderer Mitgliedstaaten, die nicht Deutsche sind (§ 1 Abs. 2 Nr. 1 FreizügG/EU). Nach dem Willen des Gesetzgebers sind Aufenthaltsrechte von Familienangehörigen Deutscher allein in § 1 Abs. 1 Nr. 6 und § 12a FreizügG/EU geregelt (BT-Drs. 19/21750 S. 35 ff.). Die hier in Betracht kommenden Personen, von denen der Kläger ein Aufenthaltsrecht ableiten möchte, sind sämtlich Deutsche.

10 b) Ein Anspruch des Klägers könnte indes aus § 12a i. V. m. § 3 Abs. 4 FreizügG/EU folgen. Danach finden auf Familienangehörige von Deutschen, die von ihrem Recht auf Freizügigkeit nach Art. 21 AEUV nachhaltig Gebrauch gemacht haben, die nach dem Freizügigkeitsgesetz/EU für Familienangehörige von Unionsbürgern geltenden Regelungen entsprechende Anwendung. Zu diesen entsprechend anwendbaren Vorschriften gehört nicht nur § 5 Abs. 1 Satz 1 FreizügG/EU, sondern auch § 3 Abs. 4 FreizügG/EU. Aufgrund der zuletzt genannten Vorschrift, die Art. 13 RL 2004/38/EG umsetzt, behalten Ehegatten, die nicht Unionsbürger sind, bei Scheidung der Ehe unter bestimmten Voraussetzungen ein Aufenthaltsrecht. Die Ehe des Klägers und seiner Ehefrau ist seit dem 18. Juni 2021 rechtskräftig geschieden.

11 Voraussetzung eines solchen Rechts ist, dass der Deutsche, von dem das Aufenthaltsrecht abgeleitet wird, von seinem Recht auf Freizügigkeit nach Art. 21 Abs. 1 AEUV Gebrauch gemacht hat. Ob dies bei der früheren Ehefrau des Klägers der Fall ist, bedarf der Klärung durch den Gerichtshof.

12 Nach dessen Rechtsprechung fällt ein Unionsbürger, soweit er noch nie von seinem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch gemacht und sich stets in einem Mitgliedstaat aufgehalten hat, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, nicht unter den Begriff "Berechtigter" im Sinne von Art. 3 Abs. 1 RL 2004/38/EG, sodass diese Richtlinie auf ihn nicht anwendbar ist. Allein dass ein Bürger die Staatsangehörigkeit mehr als eines Mitgliedstaats besitzt, bedeutet insoweit nicht, dass er von seinem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch gemacht hätte. Damit fällt auch der Ehegatte eines solchen Unionsbürgers nicht unter den Begriff des Berechtigten im Sinne von Art. 3 Abs. 1 RL 2004/38/EG. Auf einen Unionsbürger in dieser tatsächlichen Situation ist zudem Art. 21 Abs. 1 AEUV nicht anwendbar, sofern die Situation dieses Bürgers nicht von der Anwendung von Maßnahmen eines Mitgliedstaats begleitet ist, die bewirken, dass ihm der tatsächliche Genuss des Kernbestands der durch den Unionsbürgerstatus verliehenen Rechte verwehrt oder die Ausübung seines Rechts, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, behindert würde (EuGH, Urteil vom 5. Mai 2011 - C-434/09 [ECLI:​​EU:​​C:​​2011:​​277], McCarthy - Rn. 39 ff., 56).

13 Anders verhält es sich hingegen, wenn ein Staatsangehöriger eines Mitgliedstaats von seinem Recht auf Freizügigkeit dergestalt Gebrauch macht, dass er sich in einen anderen Mitgliedstaat begibt, um dort zu leben. Erwirbt dieser Staatsangehörige dann die Staatsangehörigkeit des weiteren Mitgliedstaats, so entfällt die Eigenschaft als Berechtigter im Sinne von Art. 3 Abs. 1 RL 2004/38/EG, und diese Richtlinie ist nicht mehr auf den Betroffenen anwendbar (EuGH, Urteil vom 14. November 2017 - C-165/16 [ECLI:​​EU:​​C:​​2017:​​862], Lounes - Rn. 38 ff.). Jedoch besteht bei Personen in dieser Lage ein Bezug zum Unionsrecht. Sie haben in ihrer Eigenschaft als Unionsbürger von ihrem Recht, sich in einem anderen Mitgliedstaat als ihrem Herkunftsmitgliedstaat frei zu bewegen und aufzuhalten, Gebrauch gemacht und können sich auf die mit dieser Eigenschaft verbundenen Rechte, insbesondere die in Art. 21 Abs. 1 AEUV vorgesehenen, berufen, und zwar auch gegenüber einem dieser beiden Mitgliedstaaten. Zu diesen Rechten gehört es, im Aufnahmemitgliedstaat ein normales Familienleben zu führen und mit den Familienangehörigen zusammenzuleben. Der Erwerb der weiteren Staatsangehörigkeit führt nicht zu einem Verlust dieses Rechts. Ein Mitgliedstaat darf die Wirkungen, die der Besitz der Staatsangehörigkeit eines anderen Mitgliedstaats hat, nicht einschränken, und insbesondere auch nicht die Rechte, die nach dem Unionsrecht mit dieser Staatsangehörigkeit verbunden sind und sich daraus ergeben, dass ein Unionsbürger sein Recht auf Freizügigkeit ausgeübt hat. Daher ist dem drittstaatsangehörigen Ehegatten in diesem Fall ein Recht auf Freizügigkeit zu gewähren (EuGH, Urteil vom 14. November 2017 - C-165/16 - Rn. 50 ff.).

14 Ausgehend von dieser Rechtsprechung stellt sich die Frage, ob ein Unionsbürger dadurch, dass er sich dauerhaft aus einem Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit er von Geburt an besitzt, in einen weiteren Mitgliedstaat begibt, dessen Staatsangehörigkeit er ebenfalls von Geburt an besitzt, von seinem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch macht und einem Drittstaatsangehörigen wie dem Kläger ein Aufenthaltsrecht vermitteln kann.

15 Gegen ein solches Verständnis spricht, dass ein Mitgliedstaat seinen eigenen Staatsangehörigen schon nach völkerrechtlichen Grundsätzen das Recht nicht verwehren kann, in sein Hoheitsgebiet einzureisen und dort zu bleiben; diese Staatsangehörigen verfügen folglich über ein nicht an Bedingungen geknüpftes Aufenthaltsrecht (EuGH, Urteil vom 14. November 2017 - C-165/16 - Rn. 37). Auch bedarf es in solchen Fällen nicht unbedingt der Förderung der Integration des Unionsbürgers im Aufnahmemitgliedstaat, die eine der Zielsetzungen des Art. 21 Abs. 1 AEUV darstellt (vgl. dazu EuGH, Urteil vom 14. November 2017 - C-165/16 - Rn. 56 f.).

16 Für den Senat ist zudem nicht erkennbar, dass die Situation der früheren Ehefrau des Klägers von der Anwendung von Maßnahmen eines Mitgliedstaats begleitet gewesen ist, die bewirkt haben, dass ihr der tatsächliche Genuss des Kernbestands der durch den Unionsbürgerstatus verliehenen Rechte verwehrt oder die Ausübung ihres Rechts, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, behindert worden und deswegen Art. 21 Abs. 1 AEUV auf sie anzuwenden wäre (vgl. dazu EuGH, Urteil vom 5. Mai 2011 - C-434/09 - Rn. 49, 57).

17 Diese Erwägungen sprechen dafür, einen Unionsbürger in der Situation, in der sich die frühere Ehefrau des Klägers befindet, allein nach den Vorschriften des innerstaatlichen Rechts zu behandeln.

18 Andererseits besteht bei Personen in der Situation der früheren Ehefrau des Klägers, die Angehörige eines Mitgliedstaats sind und sich rechtmäßig im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats aufhalten, aber gleichwohl ein Bezug zum Unionsrecht (EuGH, Urteil vom 8. Juni 2017 - C-541/15 [ECLI:​​EU:​​C:​​2017:​​432], Freitag - Rn. 34). In den sachlichen Anwendungsbereich des danach zu berücksichtigenden Unionsrechts fallen auch Situationen, in denen es um die Ausübung der in Art. 21 Abs. 1 AEUV verliehenen Freiheit geht, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten zu bewegen und aufzuhalten. Dem steht nicht entgegen, dass die Betroffenen Angehörige nicht nur des Mitgliedstaats, in dem sie sich aufhalten, sondern zugleich eines weiteren Mitgliedstaats sind (EuGH, Urteil vom 2. Oktober 2003 - C-148/02 [ECLI:​​EU:​​C:​​2003:​​539], Garcia Avello - Rn. 24 ff., 28).

19 Daher stellt sich die Frage, ob es der tatsächlichen und rechtlichen Situation der in Rede stehenden Personengruppe gerecht wird, sie genauso zu behandeln wie einen Bürger des Aufnahmemitgliedstaats, der diesen niemals verlassen hat. Die Notwendigkeit einer Beantwortung dieser Frage wird im vorliegenden Fall deswegen besonders deutlich, weil sich erst nach der Übersiedelung der früheren Ehefrau des Klägers nach Deutschland herausgestellt hat, dass sie nicht nur die polnische, sondern - ebenfalls von Geburt an - die deutsche Staatsangehörigkeit besitzt. Sowohl sie selbst als auch die deutschen Behörden waren bei ihrer Einreise noch der Auffassung, sie mache von ihrem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch.

20 Ein solcher Unionsbürger, der sich nacheinander in zwei Mitgliedstaaten, deren Staatsangehörigkeit er seit seiner Geburt besitzt, langfristig aufhält, würde hinsichtlich seines Familienlebens schlechter behandelt als ein Unionsbürger, der nur die Staatsangehörigkeit seines Herkunftslandes besitzt; die einem Unionsbürger im Aufnahmemitgliedstaat zustehenden Rechte einschließlich des Rechts, ein Familienleben mit einem Drittstaatsangehörigen zu führen, würden sich also verringern, je besser er bereits bei seiner Einreise in die Gesellschaft des Aufnahmemitgliedstaats integriert ist und je mehr Staatsangehörigkeiten er besitzt (vgl. EuGH, Urteil vom 14. November 2017 - C-165/16 - Rn. 54 und 59). Eine nationale Regelung, durch die bestimmte eigene Staatsangehörige allein deswegen benachteiligt werden, weil sie von ihrer Freiheit, sich in einen anderen Mitgliedstaat zu begeben und sich dort aufzuhalten, Gebrauch gemacht haben, stellt eine Beschränkung der Freiheiten dar, die Art. 21 Abs. 1 AEUV jedem Unionsbürger zuerkennt (EuGH, Urteil vom 2. Juni 2016 - C-438/14 [ECLI:​​EU:​​C:​​2016:​​401], Bogendorff von Wolffersdorff - Rn. 36). Diese Erwägung könnte möglicherweise auch auf Personen in der Situation der früheren Ehefrau des Klägers Anwendung finden.

21 Unter Verweis auf die Rechtsprechung des Gerichtshofs hat sich schließlich auch die Europäische Kommission dafür ausgesprochen, Personen, die von Geburt an die Staatsangehörigkeit zweier Mitgliedstaaten der Europäischen Union besitzen und die sich in beiden Staaten aufgehalten haben, mit solchen Personen gleichzustellen, die die Staatsangehörigkeit eines weiteren Mitgliedstaats erst während ihres Aufenthalts in diesem Staat erworben haben (vgl. Leitfaden zum Freizügigkeitsrecht der Unionsbürger und ihrer Familien vom 22. Dezember 2023, ABl. C/2023/1392 S. 8 und das dort genannte Beispiel "Y.").

22 Die richtige Anwendung des Unionsrechts im Hinblick auf die frühere Ehefrau des Klägers ist damit nicht derart offenkundig, dass für vernünftige Zweifel kein Raum bleibt. Dies erfordert ein Verfahren nach Art. 267 AEUV.

23 3. Ein Aufenthaltsrecht kann der Kläger hingegen nach Auffassung des Senats nicht von seinen Kindern ableiten.

24 a) Das gilt zunächst für einen Anspruch aus § 12a FreizügG/EU. Bislang ist nicht geklärt, ob die Kinder des Klägers neben der deutschen auch die polnische Staatsangehörigkeit besitzen; die Beantwortung dieser Frage ist dem Bundesverwaltungsgericht als Revisionsgericht verwehrt. Selbst wenn die polnische Staatsangehörigkeit der Kinder des Klägers unterstellt würde, könnten sie dem Kläger kein Aufenthaltsrecht vermitteln, weil sie sich bislang nahezu ausschließlich in Deutschland aufgehalten haben (vgl. EuGH, Urteil vom 5. Mai 2011 - C-434/09 - Rn. 44 ff.).

25 Lediglich im Zusammenhang mit der Eheschließung des Klägers und seiner früheren Ehefrau haben sich zwei der Kinder gemeinsam mit ihren Eltern mehrfach für einige Tage oder für wenige Wochen in Polen aufgehalten. Auch wenn man annimmt, als Doppelstaater stünde ihnen grundsätzlich ein Recht auf Freizügigkeit zu, hätten sie davon aber noch nicht im Sinne des § 12a FreizügG/EU nachhaltig Gebrauch gemacht. Denn es fehlt an einer hinreichenden Verfestigung ihres Aufenthalts in Polen, die dazu führen könnte, dass sie anschließend ihrem Vater ein Aufenthaltsrecht in Deutschland vermitteln könnten (vgl. EuGH, Urteil vom 12. März 2014 - C-456/12 [ECLI:​​EU:​​C:​​2014:​​135], O. und B. - Rn. 51 ff.).

26 b) Dem Kläger steht ein unmittelbar aus Art. 21 Abs. 1 AEUV folgendes Aufenthaltsrecht in Deutschland auch nicht als Elternteil zu, der für minderjährige Unionsbürger tatsächlich sorgt. Ein solches Aufenthaltsrecht setzt voraus, dass die Kinder ausschließlich eine andere Staatsangehörigkeit besitzen als diejenige des Mitgliedstaats, in dem sie sich aufhalten (vgl. EuGH, Urteil vom 19. Oktober 2004 - C-200/02 [ECLI:​​EU:​​C:​​2004:​​639], Zhu und Chen - Rn. 18 ff.). Das trifft auf die Kinder des Klägers nicht zu. Vielmehr leben sie seit ihrer Geburt in dem Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzen. Ein Anlass, die praktische Wirksamkeit eines unionsrechtlichen Aufenthaltsrechts zu sichern (vgl. zu dieser Zielsetzung EuGH, Urteile vom 19. Oktober 2004 - C-200/02 - Rn. 45 und vom 10. Oktober 2013 - C-86/12 [ECLI:​​EU:​​C:​​2013:​​645], Alokpa - Rn. 34), besteht daher nicht.

27 4. Nach Auffassung des Senats hat der Kläger auch kein Aufenthaltsrecht aus Art. 10 Abs. 1 VO (EU) Nr. 492/2011.

28 Nach dieser Vorschrift können die Kinder eines Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats, der im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats beschäftigt ist oder beschäftigt gewesen ist, wenn sie im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats wohnen, unter den gleichen Bedingungen wie die Staatsangehörigen dieses Mitgliedstaats am allgemeinen Unterricht sowie an der Lehrlings- und Berufsausbildung teilnehmen. Die Norm begründet in erster Linie ein Recht auf Gleichbehandlung. Aus dem Recht zur Teilnahme am allgemeinen Unterricht sowie an der Lehrlings- und Berufsausbildung folgt zugleich ein Recht der Kinder des Wanderarbeitnehmers auf Einreise, Aufenthalt und Wohnsitznahme. Ein entsprechendes Recht vermittelt Art. 10 Abs. 1 VO (EU) Nr. 492/2011 zudem dem Elternteil, der die elterliche Sorge für die betreffenden Kinder tatsächlich wahrnimmt, ohne dass dieser die in der Richtlinie 2004/38/EG festgelegten Voraussetzungen erfüllen muss. Das Aufenthaltsrecht ist der Förderung der Inanspruchnahme des Rechts der Kinder auf Teilnahme am allgemeinen Unterricht zu dienen bestimmt. Es endet regelmäßig mit Eintritt der Volljährigkeit des Kindes, sofern dieses nicht ausnahmsweise weiterhin der Anwesenheit und Fürsorge dieses Elternteils bedarf, um seine Ausbildung fortsetzen und abschließen zu können. Ein durch Art. 10 Abs. 1 VO (EU) Nr. 492/2011 begründetes Freizügigkeitsrecht wird von § 2 Abs. 1 FreizügG/EU erfasst (BVerwG, Urteil vom 11. September 2019 - 1 C 48.18 [ECLI:​​DE:​​BVerwG:​​2019:​​110919U1C48.18.0] - BVerwGE 166, 251 Rn. 19, 29).

29 Ein solches Recht besteht nur dann, wenn es zur Sicherung der Gleichbehandlung der Kinder eines Wanderarbeitnehmers mit Kindern von Arbeitnehmern im Aufnahmestaat erforderlich ist. Der Status eines Wanderarbeitnehmers setzt voraus, dass der Betroffene von seinem Recht auf Freizügigkeit der Arbeitnehmer Gebrauch gemacht und in einem anderen Mitgliedstaat eine Berufstätigkeit ausgeübt hat (EuGH, Urteile vom 23. Februar 1994 - C-419/92 [ECLI:​​EU:​​C:​​1994:​​62], Scholz - Rn. 9 und vom 12. Mai 1998 - C-336/96 [ECLI:​​EU:​​C:​​1998:​​221], Gilly - Rn. 21). Die Freizügigkeit wäre nicht voll verwirklicht, wenn ein Mitgliedstaat die Berufung auf die Vorschriften des Unionsrechts denjenigen seiner Staatsangehörigen verwehren könnte, die in einem anderen Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit sie ebenfalls besitzen, niedergelassen sind und die vom Unionsrecht gebotenen Möglichkeiten nutzen, um im Hoheitsgebiet des erstgenannten Staats ihre Tätigkeit auszuüben (vgl. EuGH, Urteil vom 19. Januar 1988 - Rs. 292/86 [ECLI:​​EU:​​C:​​1988:​​15], Gullung - Rn. 12). Nationale Bestimmungen, die einen Arbeitnehmer, der Staatsangehöriger seines Herkunftslandes ist, daran hindern oder davon abhalten, sein Herkunftsland zu verlassen, um von seinem Recht auf Arbeitnehmerfreizügigkeit Gebrauch zu machen, stellen daher Beeinträchtigungen dieser Freiheit dar (vgl. EuGH, Urteil vom 9. November 2006 - C-520/04 [ECLI:​​EU:​​C:​​2006:​​703], Turpeinen - Rn. 15).

30 Die frühere Ehefrau des Klägers ist indessen schon als Kind nach Deutschland eingereist; ihre Übersiedelung nach Deutschland erfolgte nicht zu dem unmittelbaren Zweck, in Deutschland eine Berufstätigkeit aufzunehmen. Der Senat ist daher der Auffassung, dass die frühere Ehefrau des Klägers noch nie von ihrem Recht auf Freizügigkeit der Arbeitnehmer Gebrauch gemacht hat und nicht als Wanderarbeitnehmerin anzusehen ist.

31 Zudem vermittelt Art. 10 VO (EU) Nr. 492/2011 den Kindern eines Wanderarbeitnehmers einen Anspruch auf Gleichbehandlung beim Zugang zur Ausbildung im Aufnahmemitgliedstaat mit dessen Staatsangehörigen. Daraus folgt, dass sich auch die Personen, die die Personensorge bei diesen Kindern tatsächlich wahrnehmen, im Aufnahmemitgliedstaat aufhalten dürfen (vgl. zum Vorstehenden im Einzelnen EuGH, Urteile vom 17. September 2002 - C-413/99 [ECLI:​​EU:​​C:​​2002:​​493], Baumbast und R. - Rn. 68 ff. und vom 23. Februar 2010 - C-480/08 [ECLI:​​EU:​​C:​​2010:​​83], Teixeira - Rn. 44 ff.). Die Kinder des Klägers bedürfen aber, selbst wenn ihre Mutter als Wanderarbeitnehmerin anzusehen wäre, keiner Gleichbehandlung mit deutschen Kindern, da sie selbst bereits Deutsche sind und schon deswegen alle aus dieser Staatsangehörigkeit folgenden Rechte wahrnehmen können. Auch aus diesem Grund können sie dem Kläger kein Aufenthaltsrecht aus Art. 10 Abs. 1 VO (EU) Nr. 492/2011 vermitteln.