Beschluss vom 27.03.2023 -
BVerwG 2 WDB 11.22ECLI:DE:BVerwG:2023:270323B2WDB11.22.0

  • Zitiervorschlag

    BVerwG, Beschluss vom 27.03.2023 - 2 WDB 11.22 - [ECLI:DE:BVerwG:2023:270323B2WDB11.22.0]

Beschluss

BVerwG 2 WDB 11.22

  • TDG Nord 9. Kammer - 05.10.2022 - AZ: N 9 VL 15/22

In dem gerichtlichen Disziplinarverfahren hat der 2. Wehrdienstsenat des Bundesverwaltungsgerichts durch
den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Häußler,
den Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Burmeister und
die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Dr. Henke
am 27. März 2023 beschlossen:

  1. Die Beschwerde des Soldaten gegen den Beschluss des Vorsitzenden der 9. Kammer des Truppendienstgerichts Nord vom 5. Oktober 2022 wird zurückgewiesen.
  2. Der Soldat trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens einschließlich der ihm darin erwachsenen notwendigen Auslagen.

Gründe

I

1 Der Soldat wendet sich gegen die Bestellung eines Pflichtverteidigers.

2 1. Mit am 10. November 2022 zugestelltem Beschluss vom 5. Oktober 2022 hat der Vorsitzende Richter der 9. Kammer des Truppendienstgerichts Nord dem Soldaten für das gegen ihn gerichtete gerichtliche Disziplinarverfahren (N 9 VL 15/22) Rechtsanwalt ... als Pflichtverteidiger bestellt.

3 Gegenüber dem Truppendienstgericht führte der Soldat aus, an sich wisse er, dass es für ihn kein Zurück mehr gebe in die Bundeswehr; da er schon auf dem Weg zu seinem 30. Lebensjahr sei, würde er gerne ankommen und sich eine Stelle suchen, wo er einen geregelten Tag habe. Ferner erklärte er mit am 17. November 2022 eingegangenem Schreiben, er möchte keinen Pflichtverteidiger und werde sich selbst vertreten. Seine beengten finanziellen Verhältnisse legte er unter dem 28. November 2022 dar. Danach stehen ihm nach Abzug aller Verbindlichkeiten monatlich etwa 680 € zur freien Verfügung.

4 Unter dem 30. November 2022 hat die neue Vorsitzende der 9. Kammer beschlossen, der Beschwerde des Soldaten nicht abzuhelfen. Der Bundeswehrdisziplinaranwalt beantragt, den Beschluss des Truppendienstgerichts aufrechtzuerhalten.

5 2. In dem gerichtlichen Disziplinarverfahren ist der 1995 geborene Soldat, dessen Dienstzeit am 30. September 2024 regulär ablaufen soll, gemäß Anschuldigungsschrift vom 13. Juli 2022 angeschuldigt:
"Am 6. Dezember 2018 äußerte der Soldat während des Dienstes im Rahmen einer Zusammenkunft mit den Zeugen Oberstabsgefreiter O., Oberstabsgefreiter H., Oberstabsgefreiter G., Oberstabsgefreiter T., Oberstabsgefreiter Th. und Oberstabsgefreiter S. im Aufenthaltsraum des ... der ... im Kasernenbereich der ...-Kaserne in ... wörtlich, zumindest aber sinngemäß: Er würde 'auf die deutsche Flagge spucken' und 'im Ernstfall, wenn der Russe angreift, die Deutschen von hinten ficken und abstechen'. Hierbei machte der Soldat mehrfach eine Geste, als würde er auf die auf dem Oberarm seiner Uniform aufgenähte deutsche Flagge spucken."

6 3. In seiner abschließenden Anhörung am 24. März 2022 hat sich der Soldat auf seine Vernehmung vom 13. Januar 2022 bezogen, in der er ausführte, er werde gemobbt. Er sei in Deutschland aufgewachsen und es gebe keinen Grund für ihn, gegenüber dem Land negativ eingestellt zu sein, das ihn und seine Familie aufgenommen habe. Mit den gegen ihn aussagenden Zeugen habe er schon mehrfach Probleme gehabt. Die gemeldete Situation sei aus dem Nichts entstanden. Er wisse auf jeden Fall, dass es um Ausländer bei der Bundeswehr gegangen sei und die Kameraden gesagt hätten, dass es früher besser gewesen sei. Das hätten sie im Zusammenhang mit dem Zweiten Weltkrieg gesagt und er habe diese Aussagen als Angriff auf sich empfunden, da er auch nicht in Deutschland geboren und jüdischer Herkunft sei. Das mit Stalingrad habe er gesagt, als die Soldaten positive Sachen über die Deutschen im Zweiten Weltkrieg gesagt hätten. Er habe ihnen auch gesagt, dass andere Länder und Ausländer geholfen hätten, Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg wiederaufzubauen. Er finde es schade, wie es gelaufen sei. Abgesehen von den Aussagen der anderen Soldaten gebe es keine Beweise dafür, dass er das Angeschuldigte gesagt habe. Er warte schon fast vier Jahre auf eine klärende Entscheidung. Das gegen ihn sachgleich ergangene Strafurteil habe er nur deshalb akzeptiert, weil sein Anwalt ihm gesagt habe, dass eine Berufung aussichtslos sei. Er solle gestehen, um eine Strafminderung zu erhalten.

7 4. Mit rechtskräftigem Urteil des Amtsgerichts Holzminden vom 28. Mai 2019 war der Soldat wegen Verunglimpfung des Staates und seiner Symbole zu einer Geldstrafe verurteilt worden.

II

8 Die nach § 114 Abs. 1 Satz 1 WDO statthafte und auch im Übrigen zulässige Beschwerde des Soldaten ist unbegründet. Die Voraussetzungen für eine Verteidigerbestellung liegen vor.

9 1. Ob die Bestellung eines Verteidigers im Sinne von § 90 Abs. 1 Satz 2 WDO geboten ist, ist im Lichte des Rechtsstaatsgebots in seiner Ausgestaltung als Gebot fairer Verfahrensführung zu beurteilen. "Geboten" im Sinne von § 90 Abs. 1 Satz 2 WDO ist sie insbesondere, wenn sie zum Schutz des Angeschuldigten erforderlich ist. Die Gewährleistung eines fairen Verfahrens kann aus in dem Verfahren, seinem Ablauf und Gegenstand liegenden Gründen, aber auch aus in der Person des Angeschuldigten liegenden Umständen - insbesondere einer (psychischen) Erkrankung oder einer Suizidgefahr - und wegen der Auswirkungen der drohenden Sanktion auf den Angeschuldigten die Mitwirkung eines Verteidigers geboten erscheinen lassen. Dazu gehört auch, dass ein Angeschuldigter die Kosten eines Verteidigers nicht aufzubringen vermag (vgl. BVerwG, Beschluss vom 20. Dezember 2019 - 2 WDB 5.19 - Buchholz 450.2 § 90 WDO 2002 Nr. 5 Rn. 8 m. w. N.). Nach Maßgabe dessen gebieten bereits die Auswirkungen der drohenden Sanktion auf den Soldaten und dessen wirtschaftliche Verhältnisse die Bestellung eines Verteidigers.

10 a) Der Soldat ist ausweislich der dem Truppendienstgericht vorgelegten Einkommensaufstellung nicht in der Lage, selbst einen Verteidiger zu bezahlen und die Folgen der angedrohten Disziplinarmaßnahme in Form der Höchstmaßnahme - Verlust des Anspruchs auf Dienstbezüge, Berufsförderung und Dienstzeitversorgung sowie des Dienstgrads und der sich daraus ergebenden Befugnisse (§ 63 Abs. 1 Satz 2 WDO) – wären für ihn auch gravierend, da seine Dienstzeit erst im September 2024 endet (vgl. BVerwG, Urteil vom 5. Mai 2015 - 2 WD 6.14 - Buchholz 450.2 § 90 WDO 2002 Nr. 2 Rn. 35).

11 b) Die Höchstmaßnahme steht auch im Raum, weil sie dann angemessen wäre, wenn sich die angeschuldigte Äußerung als wahr erweist und der inneren Haltung des Soldaten tatsächlich entspricht. Denn die Pflicht zum treuen Dienen nach § 8 SG schließt die Verpflichtung ein, das Recht und die Freiheit des Deutschen Volkes tapfer zu verteidigen (§ 9 SG). Damit ist jegliches Verhalten unvereinbar, das darauf abzielt, die Verteidigungsbereitschaft durch Unterstützung eines potentiellen Angreifers zu schwächen.

12 c) Dem Wunsch des Soldaten, sich selbst zu verteidigen, kann vorliegend nicht entsprochen werden. Sein allgemeiner Bildungsstand als einfacher Mannschaftssoldat und sein bisheriges Vorbringen lassen nicht erwarten, dass er seine Rechte ohne fachkundige Hilfe im anstehenden gerichtlichen Disziplinarverfahren ausreichend wahrnehmen kann. Auch soweit er ein vorzeitiges Ausscheiden aus dem Dienst ernsthaft anstreben sollte, bedarf es einer rechtsberatenden Hilfestellung.

13 Daher ist es ungeachtet der finanziellen Situation des Soldaten in seinem eigenen Interesse notwendig, ihm einen Pflichtverteidiger zu bestellen. Die Vergütung des Pflichtverteidigers erfolgt zunächst durch die Staatskasse. Sollte der Soldat rechtskräftig verurteilt werden, hätte er zwar auch diese Kosten des Verfahrens zu tragen (§ 137 Abs. 2 Nr. 5 WDO). Im Falle seiner Mittellosigkeit könnte er aber eine Stundung oder Ratenzahlung des Betrages beantragen. In jedem Fall soll gerade die Regelung des § 90 Abs. 1 Satz 2 WDO verhindern, dass ein Soldat wegen seiner sozialen oder finanziellen Verhältnisse keine den rechtsstaatlichen Erfordernissen entsprechende wirksame Verteidigung erhält (BVerwG, Beschluss vom 10. März 2009 - 2 WDB 2.09 - Buchholz 450.2 § 90 WDO 2002 Nr. 1 Rn. 5).

14 d) Gegen die Person des bestellten Pflichtverteidigers hat der Soldat, was bei der Ermessensentscheidung zu berücksichtigen wäre (vgl. BVerfG, Kammerbeschluss vom 25. September 2001 - 2 BvR 1152/01 - NJW 2001, 3695 <3696 f.> unter Verweis auf Art. 6 Abs. 3 Buchst. c EMRK), keine Einwendungen erhoben.

15 2. Die Kostenentscheidung folgt aus § 139 Abs. 2, § 140 Abs. 5 Satz 2 WDO.