Verfahrensinformation

Die Klägerinnen sind Berufsständische Versorgungswerke für Ärzte, Architekten, Apotheker, Rechtsanwälte, Steuerberater und Ingenieure. Im Jahr 2018 teilte die beklagte Bundesbank den Klägerinnen mit, sie seien ihr gegenüber gemäß der Verordnung (EU) 2018/231 der Europäischen Zentralbank vom 26. Januar 2018 über die statistischen Berichtspflichten der Altersvorsorgeeinrichtungen berichtspflichtig zur Statistik über Altersvorsorgeeinrichtungen. Das Verwaltungsgericht hat die gegen die Feststellung ihrer Berichtspflicht gerichteten Klagen der Klägerinnen abgewiesen. Dagegen richtet sich die von den Klägerinnen erhobene Sprungrevision.


Beschluss vom 27.09.2022 -
BVerwG 8 C 16.21ECLI:DE:BVerwG:2022:270922B8C16.21.0

Vorabentscheidungsersuchen zur Einordnung berufsständischer Versorgungseinrichtungen als Marktproduzentinnen oder Teil der Sozialversicherung nach dem ESVG 2010

Leitsätze:

1. Eine teilrechtsfähige, organisatorisch und wirtschaftlich gegenüber der sie tragenden Kammer verselbständigte berufsständische Versorgungseinrichtung mit vollständiger Rechnungsführung ist gemäß Anhang A Nr. 2.13 Buchst. f der Verordnung (EU) Nr. 549/2013 als institutionelle Einheit im Sinne des ESVG zu behandeln.

2. Die Frage, ob pflichtmitgliedschaftlich organisierte berufsständische Versorgungseinrichtungen nach Art. 1 Nr. 1 und Art. 2 Abs. 1 der Verordnung (EU) 2018/231 - EZB/2018/2 - i. V. m. der Verordnung (EU) Nr. 549/2013 und deren Anhang A (ESVG 2010) als Marktproduzentinnen und daher als finanzielle Kapitalgesellschaften einzuordnen sind, die der statistischen Berichtspflicht der Altersvorsorgeeinrichtungen zur Europäischen Zentralbank unterliegen, oder ob sie unter die Ausnahme für die Sozialversicherung gemäß Art. 1 Nr. 1 Buchst. f der Verordnung (EU) 2018/231 - EZB/2018/2 - fallen, bedarf einer Vorabentscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union.

  • Rechtsquellen
    Verordnung (EU) Nr. 2533/98 Art. 1 Nr. 2, Art. 2 Abs. 2 Buchst. a und Abs. 3
    Verordnung (EU) Nr. 549/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 21. Mai 2013 Anhang A (ESVG 2010)
    Verordnung (EU) 2018/231 der EZB vom 26. Januar 2018 - EZB/2018/2 - Art. 1 Nr. 1, Art. 2 Abs. 1
    SächsHKaG §§ 1, 6 Abs. 1, 3 und 4
    Satzung über die Sächsische Ärzteversorgung §§ 7, 9, 13 und 26

  • VG Frankfurt am Main - 04.11.2021 - AZ: 7 K 2995/19.F

  • Zitiervorschlag

    BVerwG, Beschluss vom 27.09.2022 - 8 C 16.21 - [ECLI:DE:BVerwG:2022:270922B8C16.21.0]

Beschluss

BVerwG 8 C 16.21

  • VG Frankfurt am Main - 04.11.2021 - AZ: 7 K 2995/19.F

In der Verwaltungsstreitsache hat der 8. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
auf die mündliche Verhandlung vom 21. September 2022
durch die Vorsitzende Richterin am Bundesverwaltungsgericht Dr. Held-Daab, die Richterinnen am Bundesverwaltungsgericht Hoock und Dr. Rublack sowie die Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Seegmüller und Dr. Meister
am 27. September 2022 beschlossen:

  1. Das Verfahren wird ausgesetzt.
  2. Der Gerichtshof der Europäischen Union wird gebeten, im Wege der Vorabentscheidung gemäß Art. 267 AEUV folgende Fragen zur Auslegung der Verordnung (EU) Nr. 2018/231 der Europäischen Zentralbank vom 26. Januar 2018 über die statistischen Berichtspflichten der Altersvorsorgeeinrichtungen - EZB/2018/2 – (ABl. L 45 vom 17.2 .2018, S. 3) i. V. m. der Verordnung (EU) Nr. 549/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 21. Mai 2013 zum Europäischen System Volkswirtschaftlicher Gesamtrechnungen auf nationaler und regionaler Ebene in der Europäischen Union (ABl. L 174 vom 26.6 .2013, S. 1 - im Folgenden: ESVG) zu klären:
  3. 1. a) Verlangt Anhang A Nr. 3.19 Abs. 1 Buchst. b ESVG, dass alle Verbraucher der von dem Produzenten angebotenen Güter sich für oder gegen deren Erwerb entscheiden können und diese Entscheidung auf der Grundlage der geforderten Preise treffen?
  4. Falls das verneint wird:
  5. b) Genügt den Anforderungen der Bestimmung in Fällen, in denen die große Mehrheit dieser Verbraucher, ohne eine solche Entscheidungsfreiheit zu haben, von dem Produzenten Güter im Umfang von mehr als der Hälfte seines Produktionswerts aufgrund gesetzlicher Pflichtmitgliedschaft bei ihm erhält und Pflichtbeiträge in der von ihm festgesetzten Höhe zahlen muss, dass eine Minderheit die Möglichkeit hatte, dem Produzenten freiwillig beizutreten, und davon Gebrauch gemacht hat, um die Güter bei gleichen Beiträgen wie die Pflichtmitglieder zu erhalten?
  6. 2. Liegt eine Marktproduktion zu wirtschaftlich signifikanten Preisen im Sinne von Anhang A Nr. 3.17 bis 3.19 ESVG immer schon dann vor, wenn das in Anhang A Nr. 3.19 Abs. 3 Satz 3 und 4 ESVG definierte "50%–Kriterium" mehrjährig mindestens hälftiger Kostendeckung durch Verkäufe erfüllt wird, oder ist dieses Kriterium nicht als hinreichende (selbstgenügende), sondern als notwendige Bedingung zu verstehen, die zu den beiden in Anhang A Nr. 3.19 Abs. 1 Satz 2 Buchst. a und b ESVG normierten Voraussetzungen hinzutritt?
  7. 3. Sind bei der Prüfung, ob institutionelle Einheiten Marktproduzenten gemäß Anhang A Nr. 3.24 ESVG sind, neben Anhang A Nr. 3.17, 3.19 und 3.26 auch die in Anhang A Nr. 1.37 Abs. 2 ESVG normierten zusätzlichen Anforderungen heranzuziehen?
  8. 4. a) Setzt Anhang A Nr. 2.107 ESVG für die Zuordnung einer institutionellen Einheit zu Teilsektor S.129 zwingend voraus, dass all ihre Leistungen an sämtliche Teilnehmer aufgrund vertraglicher Vereinbarung erfolgen?
  9. Falls das zutrifft:
  10. b) Ist das Erfordernis einer vertraglichen Leistungsgrundlage in diesem Sinne bereits erfüllt, wenn zwar Pflichtmitgliedschaft, Pflichtbeiträge und Pflichtleistungen der institutionellen Einheit hoheitlich durch Satzung geregelt sind, auch Pflichtmitglieder aber durch freiwillige Zusatzbeiträge Ansprüche auf Zusatzleistungen begründen können?
  11. 5. Ist Art. 1 Nr. 1 Satz 3 Buchst. f der Verordnung (EU) Nr. 2018/231 dahin auszulegen, dass er von dem Begriff der Altersvorsorgeeinrichtung in Satz 1 dieser Vorschrift nur diejenigen institutionellen Einheiten ausnimmt, die beide in Anhang A Nr. 2.117 ESVG genannten Kriterien erfüllen, oder erfasst diese Ausnahme auch weitere institutionelle Einheiten, die nach Anhang A Nr. 17.43 ESVG als Altersvorsorgeeinrichtungen der Sozialversicherung anzusehen sind, ohne allen Anforderungen von Anhang A Nr. 2.117 ESVG zu genügen?
  12. 6. a) Bezeichnet der Begriff des Staates in Anhang A Nr. 2.117 Buchst. b und Nr. 17.43 ESVG nur die jeweilige Primäreinheit oder gehören dazu jeweils auch auf gesetzlicher Grundlage errichtete, rechtlich verselbständigte, pflichtmitgliedschaftlich organisierte und beitragsfinanzierte Versorgungseinrichtungen mit dem Recht zur Selbstverwaltung und eigener Rechnungslegung?
  13. Falls Letzteres zutrifft:
  14. b) Meint das Festlegen von Beiträgen und Leistungen in Anhang A Nr. 2.117 Buchst. b ESVG eine betragsmäßige Festlegung oder genügt es, wenn ein Gesetz die mindestens zu sichernden Risiken und das Mindestniveau der Sicherung vorschreibt sowie Grundsätze und Grenzen der Beitragserhebung regelt, die Beitrags- und Leistungsbemessung in diesem Rahmen aber der Versorgungseinrichtung überlässt?
  15. c) Umfasst der Begriff der staatlichen Einheit im Sinne von Anhang A Nr. 20.39 ESVG nur institutionelle Einheiten, die sämtliche Anforderungen von Anhang A Nr. 20.10 und 20.12 ESVG erfüllen?

Gründe

I

1 Die Beteiligten streiten darüber, ob die Klägerin nach der Verordnung (EU) 2018/231 der Europäischen Zentralbank vom 26. Januar 2018 über die statistischen Berichtspflichten der Altersvorsorgeeinrichtungen - EZB/2018/2 – (ABl. L 45 S. 3, berichtigt ABl. L 132 S. 47) berichtspflichtig ist.

2 Die Klägerin ist eine teilrechtsfähige Einrichtung der Sächsischen Landesärztekammer zur Versorgung der Mitglieder dieser Kammer und der Mitglieder der Landestierärztekammer (vgl. § 6 Abs. 1 i. V. m. § 1 des Sächsischen Heilberufekammergesetzes - SächsHKaG - vom 24. Mai 1994 <SächsGVBl. S. 935>, zuletzt geändert durch Art. 18 des Gesetzes vom 21. Mai 2021 <SächsGVBl. S. 578>, und § 1 der Satzung über die Sächsische Ärzteversorgung in der Fassung vom 28. Juni 2008 <ÄBS 10/2008 S. 515>, zuletzt geändert durch die 6. Änderungssatzung vom 19. Juni 2021 <ÄBS 09/2021 S. 18> - im Folgenden: Satzung). Sie ist durch Gesetz und Satzung mit eigenen Organen ausgestattet, kann im eigenen Namen am Rechtsverkehr teilnehmen und Trägerin von Rechten und Pflichten sein (vgl. § 6 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 SächsHKaG, §§ 1 ff. der Satzung). Ihre Mittel werden durch die Beiträge ihrer Mitglieder sowie durch ihre Erträge aus Kapitalanlagen und sonstige Erträge aufgebracht (§ 7 Abs. 1 der Satzung). Für ihre Verbindlichkeiten haftet sie mit ihrem Vermögen; dieses wird als Sondervermögen getrennt von dem der Kammer geführt und darf nur zu gesetzlich zugelassenen Zwecken einschließlich des Ausgleichs der notwendigen Verwaltungskosten verwendet werden (§ 6 Abs. 4 SächsHKaG, § 7 Abs. 2 der Satzung). Für jedes Geschäftsjahr hat die Klägerin nach § 8 der Satzung einen Wirtschaftsplan aufzustellen und einen Jahresabschluss sowie einen Lagebericht anzufertigen.

3 Die Pflichtmitglieder der Landesärzte- und der Landestierärztekammer gehören der Klägerin kraft Gesetzes nach Maßgabe der Satzung als Pflichtmitglieder an (vgl. § 6 Abs. 1 i. V. m. §§ 1 f. SächsHKaG i. V. m. § 1 und §§ 9 ff. der Satzung). Dazu zählen grundsätzlich alle zur Berufsausübung im Freistaat Sachsen berechtigten und dort praktizierenden oder mit Hauptwohnsitz wohnhaften Ärzte und Tierärzte. Eine Befreiung von der Pflichtmitgliedschaft in der jeweiligen Kammer lässt § 2 Abs. 3 SächsHKaG nur bei gelegentlicher oder vorübergehender Berufsausübung im Freistaat Sachsen und Kammerzugehörigkeit in einem anderen Bundesland zu. Denjenigen, deren Pflichtmitgliedschaft in der Landesärzte- oder Landestierärztekammer endet, ermöglicht § 6 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 SächsHKaG i. V. m. § 13 der Satzung eine freiwillige fortgesetzte Mitgliedschaft bei der Klägerin. Von der Pflichtmitgliedschaft bei ihr sind auf Antrag Ärzte und Tierärzte zu befreien, die ihren Beruf nicht oder im Rahmen eines Wehr- oder Zivildienstes ausüben oder die nach beamten- oder wehrrechtlichen Vorschriften versorgungsberechtigt sind (§ 6 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 SächsHKaG i. V. m. § 10 der Satzung).

4 Ihren Mitgliedern gewährt die Klägerin Versorgungsleistungen bei Berufsunfähigkeit, Alter und Tod sowie freiwillige Reha-Leistungen nach Maßgabe des Gesetzes und ihrer Satzung. Letztere muss gemäß § 6 Abs. 1 Satz 2 SächsHKaG die Voraussetzungen der Befreiung von der Versicherungspflicht in der gesetzlichen Rentenversicherung nach § 6 Abs. 1 Nr. 1 Sozialgesetzbuch Sechstes Buch (SGB VI) für die Mitglieder erfüllen, die nach dieser Vorschrift von der Versicherungspflicht befreit sind oder befreit werden können. Die Beitragserhebung und die Voraussetzungen für die Gewährung und die Höhe der Leistungen werden nach § 6 Abs. 3 Satz 1 Nr. 6 bis 10 SächsHKaG durch die Satzung geregelt (vgl. deren §§ 15 ff. und §§ 26 ff.). Dabei schreibt das Gesetz eine einkommensabhängige Beitragsbemessung vor und regelt eine Beitragshöchstgrenze; außerdem ermächtigt es zu Beitragsermäßigungen und -befreiungen in besonderen Lebenssituationen. § 21 der Satzung gestattet freiwillige Mehrzahlungen bis zur jeweiligen Einzahlungshöchstgrenze. Diese erhöhen die Versorgungsanwartschaft (§ 28 Abs. 2 der Satzung). Die Klägerin erbringt mehr als 50% ihrer Leistungen als Pflichtleistungen an ihre Pflichtmitglieder.

5 Mit Schreiben vom 7. September 2018 und vom 25. März 2019 teilte die Beklagte der Klägerin mit, sie unterliege nach Art. 1 und 2 der Verordnung (EU) 2018/231 der statistischen Berichtspflicht als Altersvorsorgeeinrichtung und habe der Beklagten, beginnend mit dem Stichtag 30. September 2019, vierteljährlich näher bezeichnete Daten über ihre finanziellen Verhältnisse zu übermitteln. Mit ihrer Klage begehrt die Klägerin die Aufhebung dieser Mitteilung und hilfsweise die Feststellung, dass sie nicht berichtspflichtig sei.

6 Das Verwaltungsgericht hat die Klage mit Urteil vom 4. November 2021 abgewiesen und ausgeführt, die Klägerin sei eine Altersvorsorgeeinrichtung im Sinne des Art. 1 Nr. 1 der Verordnung (EU) 2018/231 und nach deren Art. 2 Abs. 1 berichtspflichtig. Sie sei eine Marktproduzentin, die zu den finanziellen Kapitalgesellschaften zähle und zum Teilsektor S.129 des ESVG gehöre. Mit ihrer Haupttätigkeit stelle sie Versorgungsleistungen zur Verfügung. Dafür verlange sie wirtschaftlich signifikante Preise. Das gelte auch für die Pflichtleistungen, weil sie diese wegen § 7 Abs. 1 der Satzung und mangels staatlicher Beihilfen und Garantien wirtschaftlich bemessen müsse. Jedenfalls ergebe sich die Einordnung (auch) der Pflichtleistungen als Marktproduktion aus Anhang A Nr. 3.19 ESVG. Die Klägerin decke mehrjährig mindestens 50% ihrer Kosten aus Verkäufen ihrer Produkte. Anhang A Nr. 1.37 ESVG stehe dem nicht entgegen. Diese Bestimmung gelte nur für Einheiten des öffentlichen Sektors. Dazu zähle die Klägerin nicht, weil sie nicht staatlich kontrolliert werde. Deshalb sei auch eine Zuordnung zum Teilsektor 1314 (Sozialversicherung) ausgeschlossen, bei der die Berichtspflicht nach Art. 1 Nr. 1 Satz 3 Buchst. f der Verordnung (EU) 2018/231 entfiele. Anhang A Nr. 20.39 ESVG bestätige diese Einordnung. Danach sei ein von einer staatlichen Einheit verwaltetes System mit im Voraus festgelegten Beiträgen nicht als Sozialversicherungssystem anzusehen, wenn es - wie die Klägerin - ohne staatliche Garantie für die Höhe der zu zahlenden Leistungen arbeite und diese Höhe von der Ertragskraft seiner Vermögenswerte abhänge; sie sei dann zwangsläufig insoweit ungewiss.

7 Mit ihrer Sprungrevision macht die Klägerin geltend, sie sei keine institutionelle Einheit und jedenfalls keine Marktproduzentin. Sie veräußere ihre Pflichtleistungen nicht zu wirtschaftlich signifikanten Preisen, weil ihre Pflichtmitglieder insoweit keine freie Kaufentscheidung im Sinne von Anhang A Nr. 3.19 Abs. 1 Buchst. b ESVG treffen könnten. Die 50%–Regel in Anhang A Nr. 3.19 Abs. 3 ESVG sei insoweit nicht einschlägig. Jedenfalls gehöre die Klägerin wie die gesetzliche Rentenversicherung zur Sozialversicherung.

8 Die Beklagte verteidigt das angegriffene Urteil.

II

9 Das Verfahren ist auszusetzen und eine Vorabentscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union gemäß Art. 267 Abs. 3 AEUV einzuholen. Die Auslegung des Art. 1 Nr. 1 der Verordnung (EU) 2018/231 und der im Tenor bezeichneten Bestimmungen des Anhangs A des ESVG ist nicht derart offenkundig, dass kein Raum für vernünftige Zweifel bliebe und davon ausgegangen werden könnte, dass auch für die Gerichte der übrigen Mitgliedstaaten der Europäischen Union die gleiche Gewissheit bestünde (zu diesem Kriterium vgl. EuGH, Urteil der Großen Kammer vom 6. Oktober 2021 - C-561/19 [ECLI:​EU:​C:​2021:​799], Consorzio - Rn. 40).

10 Die vorgelegten Fragen sind für die Revisionsentscheidung erheblich. Die Sprungrevision ist zulässig. Die Beklagte hat ihrer Zulassung und Einlegung zugestimmt (§ 134 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Zulässig ist auch das Anfechtungsbegehren der Klägerin. Es ist nicht verfristet, weil den angegriffenen Mitteilungen keine Rechtsbehelfsbelehrung beigefügt war (§ 58 Abs. 2 VwGO). Die Klägerin ist als teilrechtsfähige Vereinigung gemäß § 61 Nr. 2 VwGO fähig, am Prozess beteiligt zu sein. Nach der revisionsrechtlich maßgeblichen, bundesrechtskonformen Auslegung des Landesrechts durch das Verwaltungsgericht ist die Klägerin organisatorisch verselbständigt und teilrechtsfähig. Sie hat eigene Mitglieder und Organe sowie eigenes Vermögen, das sie selbst verwaltet (§ 6 Abs. 4 bis 6 SächsHKaG, §§ 5 bis 7 und § 41 der Satzung). Im Rahmen ihrer Aufgabenerfüllung ist sie Trägerin von Rechten und Pflichten und kann diese im eigenen Namen gerichtlich geltend machen. Das gilt auch für ihr von der Heranziehung zu Berichtspflichten betroffenes Recht, im Rahmen ihrer Selbstverwaltung über die Weitergabe ihrer finanziellen Daten zu entscheiden.

11 Für die Begründetheit ihrer Revision ist maßgeblich, ob die Klägerin gemäß Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Nr. 1 Satz 1 der Verordnung (EU) 2018/231 den statistischen Berichtspflichten der Altersvorsorgeeinrichtungen unterliegt. Nach Art. 2 Abs. 1 der Verordnung besteht der tatsächliche Kreis der Berichtspflichtigen aus den in den Euro-Mitgliedstaaten ansässigen Altersvorsorgeeinrichtungen. Art. 1 Nr. 1 Satz 1 der Verordnung definiert den Begriff der Altersvorsorgeeinrichtung durch Verweis auf Teilsektor S.129 des ESVG und verlangt, dass es sich um eine finanzielle Kapitalgesellschaft oder Quasi-Kapitalgesellschaft handelt, die in ihrer Hauptfunktion als Folge der Zusammenfassung sozialer Risiken und Bedürfnisse der Versicherten finanzielle Mittlertätigkeit ausübt (soziale Sicherung). Nach Satz 2 der Vorschrift stellen Altersvorsorgeeinrichtungen als Systeme sozialer Sicherung Ruhestandseinkommen sowie häufig Leistungen bei Tod und Erwerbsunfähigkeit bereit. Gemäß Satz 3 Buchst. f der Vorschrift umfasst die Begriffsbestimmung jedoch nicht den Teilsektor der Sozialversicherung im Sinne von Anhang A Nr. 2.117 ESVG.

12 Die Klägerin nimmt als teilrechtsfähige Einrichtung der Sächsischen Landesärztekammer die in Art. 1 Nr. 1 Satz 1 und 2 der Verordnung (EU) 2018/231 beschriebene Hauptfunktion sozialer Sicherung durch finanzielle Mittlertätigkeit wahr, indem sie ihren Mitgliedern beitragsfinanzierte Alters-, Hinterbliebenen- und Erwerbsunfähigkeitsrenten gewährt. Zu klären bleibt, ob sie als finanzielle Quasi-Kapitalgesellschaft des Teilsektors S.129 ESVG einzuordnen oder als Teil der Sozialversicherung von der Berichtspflicht ausgenommen ist.

13 1. Zu den finanziellen Quasi-Kapitalgesellschaften zählen Einheiten, die über eine vollständige Rechnungsführung verfügen, aber keine eigene Rechtspersönlichkeit haben. Ihr wirtschaftliches und finanzielles Verhalten unterscheidet sich von dem ihrer Eigentümer und entspricht in etwa dem von Kapitalgesellschaften; bei ihnen wird davon ausgegangen, dass sie Entscheidungsfreiheit haben. Sie werden deshalb als institutionelle Einheiten behandelt (Anhang A Nr. 2.13 Buchst. f ESVG). Die Klägerin verfügt als teilrechtsfähige Einrichtung der Landesärztekammer über eine vollständige Rechnungsführung (§ 8 der Satzung). Sie hat zwar keine eigene Rechtspersönlichkeit, ist aber organisatorisch und wirtschaftlich gegenüber der Kammer verselbständigt und mit weitgehender Autonomie ausgestattet. Sie erfüllt ihre Aufgaben nach Gesetz und Satzung mit eigenen Organen eigenverantwortlich und aus eigenen, vom Kammervermögen getrennten Mitteln (vgl. oben Rn. 2 und 4). Dabei wird sie wirtschaftlich tätig, kann Trägerin von Rechten und Pflichten sein, am Rechtsverkehr teilnehmen und Verbindlichkeiten begründen, für die sie mit ihrem Vermögen haftet. Sollte sie als Marktproduzentin ihrer Versorgungsleistungen einzuordnen sein, unterfiele sie als finanzielle Quasi-Kapitalgesellschaft im Sinne von Anhang A Nr. 2.13 Buchst. f ESVG nach Art. 1 Nr. 2 der Verordnung (EU) 2018/231 i. V. m. Art. 1 Nr. 2, Art. 2 Abs. 2 Buchst. a und Abs. 3 der Verordnung (EG) Nr. 2533/98 des Rates vom 25. November 1998 über die Erhebung statistischer Daten durch die Europäische Zentralbank (ABl. L 318 S. 8) und Anhang A Nr. 2.13 Buchst. f, Nr. 2.55 ff. und Nr. 2.105 ESVG der streitigen Berichtspflicht.

14 Marktproduzentin ist die Klägerin nach Anhang A Nr. 3.24 ESVG, wenn ihre Produktion zum größten Teil aus Marktproduktion im Sinne von Anhang A Nr. 3.17 ff. ESVG besteht. In Betracht kommt hier nur die Produktion zu wirtschaftlich signifikanten Preisen verkaufter Güter (Nr. 3.18 Buchst. a). Nach Anhang A Nr. 3.19 Abs. 1 ESVG sind Preise wirtschaftlich signifikant, wenn sie die von den Produzenten angebotenen und von den Käufern nachgefragten Warenmengen wesentlich beeinflussen. Diese Preise ergeben sich, wenn folgende Bedingungen gegeben sind:
a) Der Produzent hat einen Anreiz, das Angebot zu regulieren, um einen Gewinn zu machen oder zumindest Kapital- und andere Kosten abzudecken und
b) die Verbraucher können sich für oder gegen einen Kauf entscheiden und treffen ihre Entscheidung auf der Grundlage der geforderten Preise.

15 Beide Bedingungen müssen nach Auffassung des Senats kumulativ erfüllt sein. Das ergibt sich aus der Verwendung des Plurals in der deutschen Sprachfassung und wird durch die französische ("la réunion des deux conditions") und die englische Fassung ("both") bestätigt. Die erste Bedingung dürfte erfüllt sein, weil die Klägerin ihre Mittel unter anderem durch Mitgliedsbeiträge aufzubringen hat (§ 7 Abs. 1 der Satzung) und nach den verwaltungsgerichtlichen Feststellungen ohne staatliche Garantien arbeitet. Die zweite Bedingung kann nur vorliegen, wenn unter die Begriffe des Kaufs und der Preise auch ein satzungsrechtlicher Anwartschaftserwerb und hoheitlich erhobene Beiträge fallen, und wenn darüber hinaus nicht erforderlich ist, dass jeder Verbraucher oder zumindest jeder, der Leistungen des Produzenten bezieht, frei über den Erwerb dieser Leistungen entscheiden kann und die Entscheidung auf der Grundlage der geforderten Preise trifft.

16 Für eine weite Auslegung der Begriffe des Kaufs und der Preise spricht, dass das ESVG für die Abgrenzung von staatlichem und privatem Sektor nicht auf die öffentlich- oder privatrechtliche Rechtsform der institutionellen Einheit oder auf die Ausgestaltung von Mitgliedschafts- oder Anspruchsbeziehungen abstellt, sondern darauf, ob die Einheit unter staatlicher Kontrolle steht (vgl. Anhang A Nr. 1.35 ESVG; EuGH, Urteile vom 11. September 2019 - C-612/17 [ECLI:​EU:​C:​2019:​705], FIG und FISE - Rn. 34 ff., 73, 78 und vom 28. April 2022 - C-277/21 [ECLI:​EU:​C:​2022:​318], Secrétariat général de l'enseignement catholique - Rn. 25 ff.). Auch bei einer weiten Auslegung, die hoheitlich begründete Anwartschaften und ebenso erhobene Beiträge einbezieht, bleibt jedoch problematisch, dass die in Bedingung b) geforderte Entscheidungsfreiheit nicht allen Verbrauchern zusteht. Wer weder zu den Pflichtmitgliedern der Klägerin gehört noch die engen Voraussetzungen einer freiwilligen Mitgliedschaft erfüllt, ist vom Erwerb ihrer Versorgungsleistungen ausgeschlossen. Bei den Verbrauchern, denen das Gesetz eine Mitgliedschaft auferlegt oder eröffnet, fehlt die geforderte Entscheidungsfreiheit jedenfalls den Pflichtmitgliedern hinsichtlich der Pflichtleistungen. Sofern sie nicht die Voraussetzungen einer ausnahmsweisen Befreiung von der Pflichtmitgliedschaft erfüllen, können sie sich weder dem Anwartschaftserwerb noch der Beitragspflicht entziehen. Frei steht ihnen nur, Mehrzahlungen zur Erhöhung der Anwartschaften zu entrichten. Daraus ergibt sich die in Tenorziffer 1. a) formulierte Frage, ob Anhang A Nr. 3.19 Abs. 1 Buchst. b ESVG voraussetzt, dass alle Verbraucher der von dem Produzenten angebotenen Güter sich für oder gegen deren Erwerb entscheiden können und diese Entscheidung auf der Grundlage der geforderten Preise treffen.

17 Der Wortlaut der Bedingung b) ("Die Verbraucher") könnte nahelegen, dass die geforderte Entscheidungsfreiheit und preisbestimmte Entscheidung bei allen Verbrauchern hinsichtlich des gesamten Angebots des Produzenten vorliegen muss. Falls zur systematischen Auslegung die zur Sektorengliederung normierte Abgrenzung in Markt und Nichtmarkt (Anhang A Nr. 1.37 ESVG 2010) heranzuziehen ist (vgl. dazu die dritte Vorlagefrage), könnte auch die in Absatz 2 unter Nummer 1 formulierte Bedingung des Verkaufs an jede Person, die den Preis zu zahlen bereit ist, für eine solche Auslegung sprechen. Gleiches gilt für die dort unter Nummer 3 gestellte weitere Bedingung, dass funktionierende Märkte existieren, zu denen Verkäufer und Käufer Zugang haben und über die sie informiert sind. Allerdings wird im folgenden Satz klargestellt, dass ein funktionierender Markt auch vorliegen kann, wenn diese Bedingungen nicht vollständig erfüllt sind. Welcher Art und Intensität Zugangsbeschränkungen oder Abnahmeverpflichtungen sein müssen, um marktbestimmtes Handeln und wirtschaftlich signifikante Preise auszuschließen, vermag der Senat dem ESVG und der bisherigen Rechtsprechung dazu nicht zweifelsfrei zu entnehmen. Die beiden oben in Randnummer 16 zitierten Entscheidungen des Gerichtshofs und dessen Urteil vom 3. Oktober 2019 - C-632/18 [ECLI:​EU:​C:​2019:​833], Fonds du Logement de la Région Bruxelles-Capitale – (Rn. 36 ff.) betreffen die Voraussetzungen der Zuordnung verschiedener Einheiten zum Sektor Staat, ohne sich zur vorgenannten Frage oder zur freien Kaufentscheidung von Verbrauchern als Voraussetzung der Marktproduktion zu verhalten.

18 2. Sollte Frage 1. a) verneint werden, kommt es darauf an, ob die Bedingung in Anhang A Nr. 3.19 Abs. 1 Buchst. b ESVG schon erfüllt ist, weil wenige Verbraucher der Klägerin freiwillig beitreten und insoweit frei über den mit der Mitgliedschaft verbundenen Erwerb von Versorgungsanwartschaften zu gleichen Beiträgen wie die Pflichtmitglieder entscheiden können, auch wenn solche Verbraucher die Minderheit der Mitglieder bilden und der größte Teil des Produktionswerts der Klägerin auf Pflichtleistungen an Pflichtmitglieder entfällt (Frage 1. b)). Nach Ansicht der Beklagten ist die Entscheidung für den freiwilligen Beitritt Ausdruck einer freien, am Preis orientierten Kaufentscheidung und rechtfertigt es, auch die betragsmäßig gleichen Pflichtbeiträge als wirtschaftlich signifikante Preise einzuordnen. Der Senat bezweifelt die Tragfähigkeit dieser Schlussfolgerung, weil die von den freiwilligen Mitgliedern gezahlten Beiträge sich nicht, wie wohl von Anhang A Nr. 3.19 ESVG vorausgesetzt, aus einem Zusammenspiel von Angebot und Nachfrage unter Marktbedingungen ergeben. Für die Mehrheit der Pflichtmitglieder ohne Befreiungsmöglichkeit erbringt die Klägerin ihre Leistungen als Monopolanbieter. Weil eine freiwillige Mitgliedschaft nach § 6 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 SächsHKaG i. V. m. § 13 der Satzung nur ehemaligen Pflichtmitgliedern zweier Kammern offen steht, ist allen anderen Verbrauchern eine freie Entscheidung über den Erwerb von Leistungen der Klägerin verwehrt. Damit sind selbst denkbar niedrigste Anforderungen an einen Marktzugang auf Verbraucherseite nicht erfüllt. Außerdem leitet die Höhe der Pflichtbeiträge sich nicht von den Beiträgen der freiwilligen Mitglieder ab. Vielmehr bestimmt - umgekehrt - die hoheitliche Festlegung der Pflichtbeiträge die Höhe der von den freiwilligen Mitgliedern für gleiche Leistungen zu zahlenden Beiträge.

19 3. Das angegriffene Urteil hat deshalb mit einer die Entscheidung selbständig tragenden Erwägung darauf abgestellt, dass die Beiträge jedenfalls nach dem 50%–Kriterium in Anhang A Nr. 3.19 Abs. 3 Satz 3 und 4 ESVG als wirtschaftlich signifikante Preise einzuordnen seien. Die zitierten Bestimmungen lauten:
Für den Produktionswert anderer institutioneller Einheiten [als der in Satz 2 genannten Unternehmen ohne eigene Rechtspersönlichkeit im Sektor privater Haushalte] wird die Möglichkeit einer Marktproduktion zu wirtschaftlich signifikanten Preisen anhand eines quantitativen Kriteriums (des 50%–Kriteriums) geprüft, bei dem das Verhältnis von Verkäufen zu Produktionskosten verwendet wird. Als Marktproduzent sollte die Einheit über einen mehrjährigen Zeitraum hinweg mindestens 50% ihrer Kosten durch ihre Verkäufe decken.

20 Das angegriffene Urteil versteht die mindestens hälftige Kostendeckung durch Verkäufe als hinreichende (selbstgenügende) Bedingung für das Vorliegen wirtschaftlich signifikanter Preise. Davon scheint auch die Begründung der Schlussanträge des Generalanwalts Hogan vom 28. Februar 2019 in der Rechtssache C-612/17 [ECLI:​EU:​C:​2019:​149], FIG und FISE (Rn. 31) auszugehen. Sie nimmt an, nur wenn keine mindestens hälftige Kostendeckung erreicht werde, gelte die betreffende Organisation als Nichtmarktproduzent. Nach dieser Auslegung wäre die Klägerin schon wegen ihrer vorinstanzlich festgestellten, mindestens hälftigen Kostendeckung durch Beitragserhebung als Marktproduzentin einzuordnen, selbst wenn die oben in Randnummer 14 ff. erörterten, in Anhang A Nr. 3.19 Abs. 1 Buchst. a und b ESVG normierten Bedingungen nicht erfüllt sein sollten.

21 Allerdings könnte das 50%–Kriterium gemäß Absatz 3 Satz 3 und 4 dieser Vorschrift auch als notwendige, aber für sich genommen noch nicht hinreichende (also nicht selbstgenügende) Voraussetzung der Marktproduktion zu verstehen sein. Dann ergänzte es die Bedingungen des Absatzes 1 Buchst. a und b, könnte deren Fehlen aber nicht ausgleichen. Dafür spricht, dass das 50%–Kriterium in Anhang A Nr. 3.19 Abs. 3 ESVG nur zur Beurteilung der Möglichkeit einer Marktproduktion herangezogen und nicht, wie die Bedingungen des Absatzes 1, als Definitionsmerkmal der Marktproduktion normiert wird. Dies bestätigen die französische und die englische Sprachfassung ("La capacité de réaliser une activité marchande"; "The ability to undertake a market activity"). Ihnen zufolge entscheidet die mindestens hälftige Kostendeckung (nur) über die Fähigkeit zur Marktproduktion, nicht über deren Vorliegen. Das trifft auch auf die systematisch vergleichbare, ebenfalls der Abgrenzung von Markt und Nichtmarkt dienende Bestimmung in Anhang A Nr. 20.29 Abs. 3 ESVG zu. Folgt man der Auslegung des 50%–Kriteriums in Anhang A Nr. 3.19 Abs. 3 Satz 3 ESVG als notwendige, aber nicht hinreichende (nicht selbstgenügende) Bedingung, hat es die Funktion eines Ausschlusskriteriums: Dann liegt, selbst wenn die beiden Definitionsmerkmale des Absatzes 1 erfüllt sind, keine Marktproduktion zu wirtschaftlich signifikanten Preisen vor, wenn die Verkäufe über einen mehrjährigen Zeitraum hinweg weniger als die Hälfte der Kosten decken. Es erscheint einleuchtend, eine solch grob defizitäre, auch mittelfristig nicht unter Marktbedingungen finanzierbare Produktion nicht mehr als Marktproduktion einzuordnen. Umgekehrt könnte eine mindestens hälftige Kostendeckung allein es noch nicht rechtfertigen, von einer Marktproduktion auszugehen, wenn die Bedingungen gemäß Anhang A Nr. 3.19 Abs. 1 Buchst. a oder b ESVG nicht erfüllt sind.

22 Welche Auslegung von Anhang A Nr. 3.19 Abs. 3 Satz 3 und 4 ESVG zutrifft, ist der bisherigen Rechtsprechung des Gerichtshofs nicht zweifelsfrei zu entnehmen. Sein Urteil vom 11. September 2019 - C-612/17, FIG und FISE - behandelt die seinerzeit klagenden Verbände als Organisationen ohne Erwerbszweck und damit als Nichtmarktproduzenten (vgl. Anhang A Nr. 2.129 f. ESVG), ohne auf das in Randnummer 9 des Urteils als "Markt-/Nichtmarkttest" zitierte vergleichbare, für staatlich kontrollierte Einheiten geltende 50%–Kriterium des Anhangs A Nr. 20.29 ESVG einzugehen. Möglicherweise war die Frage der Kostendeckung seinerzeit nicht entscheidungserheblich, weil eine Einordnung der Verbände als Kapitalgesellschaften schon mangels Ausrichtung auf Gewinn oder mindestens Kostendeckung ausschied (vgl. dazu die in Anhang A Nr. 20.29 Abs. 2 in Bezug genommenen Regeln der Nr. 20.19 bis 20.28 , insbesondere Nr. 20.21 Satz 2 und Nr. 20.23 ESVG). Dann läge es nahe, auch bei der Anwendung der Parallelregelung in Anhang A Nr. 3.19 ESVG - unabhängig von der Kostendeckung - nur dann von Marktproduktion auszugehen, wenn beide Bedingungen nach Absatz 1 Buchst. a und b der Vorschrift erfüllt sind.

23 4. Ob Anhang A Nr. 1.37 ESVG zur systematischen Auslegung herangezogen werden darf, um verbleibende Zweifel bei der Auslegung von Anhang A Nr. 3.19 Abs. 1 und 3 ESVG zu beheben, ist Gegenstand der dritten vorgelegten Frage. Sollte die Einordnung als Marktproduzent gemäß Anhang A Nr. 3.24 ESVG voraussetzen, dass neben den Bedingungen der Nr. 3.19 auch die Bedingungen marktbestimmter Tätigkeit gemäß Nr. 1.37 erfüllt sind, wäre die Klägerin als Nichtmarktproduzentin einzuordnen. Entgegen Nummer 1 dieser Vorschrift erstrebt sie keine langfristige Gewinnmaximierung und veräußert ihre Leistungen auch nicht frei auf dem Markt an jede Person, die bereit ist, den verlangten Preis zu zahlen. Beides ist ihr überdies nach dem einschlägigen nationalen Recht verwehrt. Wie in Randnummer 2 berichtet, darf die Klägerin ihr Vermögen zweckgebunden nur zur Aufgabenerfüllung einsetzen. Sie darf ihre Versorgungsleistungen auch nicht jedem zur Beitragszahlung bereiten Verbraucher gewähren, sondern nur ihren gesetzlichen Pflichtmitgliedern und dem eng begrenzten Kreis ihrer freiwilligen Mitglieder.

24 Der Senat hat Zweifel, ob Anhang A Nr. 1.37 ESVG - wie die Beklagte meint - nur für Einheiten des öffentlichen Sektors gilt. Die Vorschrift dient nach ihrem Absatz 1 sowohl der Abgrenzung von Markt und Nichtmarkt als auch ("und") der Abgrenzung von privatem und öffentlichem Sektor. Problematisch erscheint eine Heranziehung ihres Absatzes 2 Nr. 1 aber, weil dessen Anforderungen über die hier nach Anhang A Nr. 3.24 ESVG maßgeblichen Anforderungen in Anhang A Nr. 3.19 ESVG hinausgehen. Möglicherweise soll Anhang A Nr. 3.19 ESVG die in Nr. 1.37 formulierten Kriterien zur Abgrenzung von Markt- und Nichtmarktproduzenten konkretisieren. Anhang A Nr. 1.37 ESVG bezieht sich auf das in Tabelle 1.1 dargestellte grobe Raster der Sektorenzuordnung, das bei öffentlich und privat kontrollierten Einheiten jeweils nach markt- oder nichtmarktbestimmter Tätigkeit unterscheidet. Die dazu normierten Kriterien sind mit dem Verkäuferziel der Gewinnmaximierung und dem Käuferziel der Preis-Nutzen-Optimierung strenger als die beiden für die Annahme von Marktproduktion in Anhang A Nr. 3.19 Abs. 1 Buchst. a und b ESVG formulierten Bedingungen, nämlich eine mindestens auf Kostendeckung zielende Angebotskalkulation und eine freie, am Preis orientierte Entscheidung des Verbrauchers über den Erwerb. Danach könnte Anhang A Nr. 1.37 ESVG nur insoweit anzuwenden sein, als die dort normierten allgemeinen Kriterien nicht den spezielleren in Anhang A Nr. 3.19 ESVG widersprechen, sondern nur auch dort vorausgesetzte Bedingungen umschreiben - etwa ein Minimum freien Marktzugangs oder eine Wettbewerbssituation als Voraussetzung einer Marktpreisbildung. Auch insoweit bittet der Senat den Gerichtshof um Klärung.

25 5. Die vierte Frage betrifft Anhang A Nr. 2.107 Satz 2 ESVG, der von vertraglich vereinbarten Leistungen von Altersvorsorge- oder Pensionseinrichtungen spricht. Dies könnte darauf hindeuten, dass dazu keine Einheiten zählen, die ihre Leistungen - wie die Klägerin - allein aufgrund hoheitlicher Regelungen erbringen. Andererseits stellt die Begriffsdefinition in Anhang A Nr. 2.105 ESVG keine Anforderungen an den Rechtsgrund der Leistungen, und enthält Anhang A Nr. 2.107 ESVG keine (weitere) Definition, sondern Beispiele. Mit der Erwähnung vertraglicher Vereinbarungen könnte er daher nur eine typische, aber nicht begriffsnotwendige Ausgestaltung der Leistungsbeziehung aufgreifen. Anhang A Nr. 2.109 ESVG stellt ausdrücklich klar, dass Altersvorsorgeeinrichtungen auch staatlich organisiert sein können, ohne sich zur Frage vertraglicher Ausgestaltung zu verhalten. Auch Anhang A Nr. 20.39 ESVG stellt für die Zuordnung von Grenzfällen auf andere Merkmale ab. Allerdings könnte dies darauf zurückzuführen sein, dass eine von Anhang A Nr. 2.107 ESVG umfasste Ausgestaltung vorausgesetzt wird. Dem Zweck der Regelungen und den Erwägungsgründen der einschlägigen Verordnungen vermag der Senat keine eindeutige Klärung der Auslegungszweifel zu entnehmen. Sollte keine vertragliche Ausgestaltung erforderlich sein, bleibt aus seiner Sicht fraglich, ob eine öffentlich-rechtliche, überwiegend pflichtmitgliedschaftliche Ausgestaltung genügt, sofern sämtliche Mitglieder den Leistungsumfang durch freiwillige Beiträge erhöhen können, selbst wenn nur eine Minderheit die Leistungsbeziehung freiwillig durch Beitritt oder Austritt begründen und beenden kann.

26 Die Fragen 1. bis 4. zu einzelnen Voraussetzungen der Marktproduktion und der Zuordnung zum Teilsektor S.129 erübrigen sich nicht etwa, weil eindeutig feststünde, dass die Klägerin der Ausnahmeregelung für die Sozialversicherung gemäß Art. 1 Nr. 1 Satz 3 Buchst. f der Verordnung (EU) 2018/231 unterfällt. Ob dies zutrifft, hängt von den Auslegungsfragen 5. und 6. ab, die sich ebenfalls nicht ohne die erbetene Vorabentscheidung beantworten lassen.

27 6. Art. 1 Nr. 1 Satz 3 Buchst. f der Verordnung (EU) 2018/231 verweist zur Bestimmung des Teilsektors der Sozialversicherung auf Anhang A Nr. 2.117 ESVG. Danach umfasst dieser Teilsektor institutionelle Einheiten des Bundes, der Länder und der Gemeinden, deren Haupttätigkeit in der Gewährung von Sozialleistungen besteht und die folgende zwei Kriterien erfüllen:
a) Bestimmte Bevölkerungsgruppen sind aufgrund gesetzlicher Regelungen zur Teilnahme an dem System oder zu Beitragszahlung verpflichtet, und
b) der Staat legt die Beiträge und Leistungen fest und übernimmt insofern, unabhängig von seiner Aufsichtsfunktion, einen Teil der Leitung.

28 Anhang A Nr. 2.110 Buchst. a ESVG stellt klar, dass institutionelle Einheiten, die diese beiden Kriterien erfüllen, nicht zum Teilsektor der Altersvorsorgeeinrichtungen (S.129), sondern zum Teilsektor der Sozialversicherung gehören.

29 Allerdings wurden nicht alle Definitionsmerkmale des Anhangs A Nr. 2.117 ESVG in die Definition der Altersvorsorgeeinrichtungen der Sozialversicherung in Anhang A Nr. 17.43 ESVG übernommen. Daraus ergibt sich die fünfte vorgelegte Frage. Falls die erste Regelung als Definition des Teilsektors der Sozialversicherung und die zweite als speziellere Vorschrift zur Differenzierung innerhalb dieses Teilsektors zu verstehen ist, setzt Anhang A Nr. 17.43 ESVG die Erfüllung aller Definitionsmerkmale von Anhang A Nr. 2.117 ESVG voraus und ergänzt sie zur Abgrenzung der Altersvorsorgeeinrichtungen in der Sozialversicherung um weitere Merkmale. Dann könnte die Zuordnung der Klägerin zur Sozialversicherung scheitern, wenn sie Bedingung b) des Anhangs A Nr. 2.117 ESVG nicht erfüllt (vgl. dazu sogleich unter 7., Rn. 30 f.). Die Gegenauffassung hält die Definition in Anhang A Nr. 17.43 ESVG für eigenständig und abschließend. Außerdem versteht sie den Staatsbegriff dort so, dass er auch juristische Personen des öffentlichen Rechts umfasst, die gegenüber der Primäreinheit verselbständigt sind. Dann wäre die Klägerin den Altersvorsorgeeinrichtungen der Sozialversicherung zuzuordnen, weil das Gesetz ihren Pflichtmitgliedern die Teilnahme an ihrer Alterssicherung aufgibt und weil sie ihre Leistungen als teilrechtsfähige institutionelle Einheit eines Landes - des Freistaates Sachsen - gewährt.

30 7. Die Frage (6. a)), ob der Staatsbegriff in Anhang A Nr. 2.117 Buchst. b und Nr. 17.43 ESVG auch solche institutionellen Einheiten umfasst oder nur die jeweilige Primäreinheit bezeichnet, ist ihrerseits nicht zweifelsfrei im einen oder anderen Sinne zu beantworten. Weil Anhang A Nr. 2.117 Buchst. b ESVG von einer über die Aufsichtsfunktion hinausgehenden Leitung spricht, könnte als Staat jedenfalls dort nur die Primäreinheit bezeichnet sein, der die Aufsicht über die mit Selbstverwaltungsrecht (Autonomie) ausgestatteten institutionellen Einheiten obliegt. Bei konsistenter Begriffsverwendung wäre auch der Staatsbegriff in Anhang A Nr. 17.43 ESVG in diesem engen Sinne zu verstehen. Allerdings könnte der Begriff dort auch sonstige staatliche Einheiten einbeziehen oder sogar gegenüber der Primäreinheit als Träger der gesetzlichen Rentenversicherung verselbständigte Verwaltungsträger, die ihren Mitgliedern eine Befreiung von der gesetzlichen Rentenversicherung ermöglichen und eine an deren Beitrags- und Leistungsniveau orientierte selbstverwaltete Altersversorgung für bestimmte Berufsgruppen sicherstellen sollen, ohne staatlich kontrolliert zu sein. Dafür könnte die Abgrenzungsregel in Anhang A Nr. 20.39 ESVG sprechen, die davon ausgeht, dass die Leistungen auch von einer "gesonderte[n] institutionelle[n] Einheit ... verwaltet" werden können. Andererseits geht Anhang A Nr. 20.12 ESVG davon aus, dass Sozialversicherungssysteme die gesamte Bevölkerung oder weite Kreise der Bevölkerung einbeziehen müssen; daran dürfte es bei regionalen berufsständischen Versorgungseinrichtungen für bestimmte Berufe in aller Regel fehlen.

31 Je nach Auslegung des Staatsbegriffs in der einen und der anderen Vorschrift stellt sich zu Anhang A Nr. 2.117 Buchst. b ESVG die weitere Frage (6. b)), ob die Festlegung von Beiträgen und Leistungen durch den Staat verlangt, dass die Primäreinheit beides betragsmäßig im Sinne der Bezifferbarkeit in jedem Anwendungsfall bestimmt. Der Begriff der Festlegung deutet auf das Erfordernis einer abschließenden Regelung hin. Nach der von der Klägerin vertretenen Gegenauffassung soll jedoch genügen, dass die Primäreinheit den in der Vorlagefrage näher beschriebenen gesetzlichen Rahmen schafft, innerhalb dessen die autonome Einheit Beitragshöhe und Leistungsart und -umfang regeln darf.

32 Schließlich stellt sich bei der Anwendung der für Grenzfälle erlassenen Abgrenzungsregel in Anhang A Nr. 20.39 ESVG die Frage, ob der Begriff der staatlichen Einheit nur institutionelle Einheiten umfasst, die sämtliche Anforderungen von Anhang A Nr. 20.10 und 20.12 ESVG erfüllen. Hier wäre das Kriterium erheblicher Transferzahlungen aus dem staatlichen Haushalt (Nr. 20.10) nach den bindenden tatrichterlichen Feststellungen (§ 137 Abs. 2 VwGO) zu verneinen. Ob die Klägerin staatlich kontrolliert wird, könnte danach nur erheblich werden, wenn Nr. 20.12, aber nicht Nr. 20.10 einschlägig sein sollte. Falls sie nach jeweils zutreffender Auslegung der Vorschriften des ESVG weder Marktproduzentin noch Teil der Sozialversicherung ist, dürfte sie als private Organisation ohne Erwerbszweck einzuordnen und als solche - unabhängig vom Vorliegen staatlicher Kontrolle - nicht berichtspflichtig sein.