Urteil vom 29.03.2023 -
BVerwG 3 CN 14.22ECLI:DE:BVerwG:2023:290323U3CN14.22.0

  • Zitiervorschlag

    BVerwG, Urteil vom 29.03.2023 - 3 CN 14.22 - [ECLI:DE:BVerwG:2023:290323U3CN14.22.0]

Urteil

BVerwG 3 CN 14.22

  • VGH München - 05.09.2022 - AZ: 20 N 21.2931

In der Normenkontrollsache hat der 3. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 29. März 2023
durch die Vorsitzende Richterin am Bundesverwaltungsgericht Dr. Philipp,
den Richter am Bundesverwaltungsgericht Liebler,
die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Dr. Kuhlmann,
den Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Sinner und
die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Hellmann
ohne mündliche Verhandlung für Recht erkannt:

  1. Die Nummern I. und II. des Beschlusses des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs vom 5. September 2022 werden aufgehoben.
  2. Die Sache wird zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an den Verwaltungsgerichtshof zurückverwiesen.
  3. Die Entscheidung über die Kosten bleibt der Schlussentscheidung vorbehalten.

Gründe

I

1 Die Antragstellerin betreibt ein Fitnessstudio in der Rechtsform einer GmbH. Sie wendet sich mit ihrem am 25. November 2021 beim Bayerischen Verwaltungsgerichtshof eingegangenen Normenkontrollantrag gegen § 4 Abs. 1 und 4 der Fünfzehnten Bayerischen Infektionsschutzmaßnahmenverordnung vom 23. November 2021 (15. BayIfSMV, BayMBl. Nr. 816), soweit diese Vorschriften den Zugang zu Sportstätten für Beschäftigte und Besucher grundsätzlich im Sinne einer "2G Plus-Regelung" beschränkten. Die Verordnung ist nach ihrem § 18 Abs. 1 am 24. November 2021 in Kraft getreten. Die von der Antragstellerin angegriffenen Bestimmungen in § 4 Abs. 1 und 4 der 15. BayIfSMV ("2G Plus") sind für Beschäftigte von Fitnessstudios mit der Verordnung zur Änderung der Fünfzehnten Bayerischen Infektionsschutzmaßnahmenverordnung vom 14. Dezember 2021 (BayMBl. Nr. 875), für ihre Besucher mit der Verordnung zur Änderung der Fünfzehnten Bayerischen Infektionsschutzmaßnahmenverordnung vom 16. Februar 2022 (BayMBl. Nr. 115) aufgehoben worden. Die gesamte Verordnung ist mit Ablauf des 2. April 2022 außer Kraft getreten (§ 12 der 15. BayIfSMV in der Fassung der Verordnung zur Änderung der Fünfzehnten Bayerischen Infektionsschutzmaßnahmenverordnung vom 18. März 2022, BayMBl. Nr. 176).

2 Der Verwaltungsgerichtshof hat den Normenkontrollantrag mit Beschluss vom 5. September 2022 abgelehnt (I.) und der Antragstellerin die Kosten des Verfahrens auferlegt (II.). Der Antrag sei unzulässig. Ein Normenkontrollantrag könne nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zwar trotz des Außerkrafttretens der angegriffenen Rechtsnorm zulässig bleiben, wenn in der Vergangenheit liegende Sachverhalte noch nach ihr zu entscheiden seien oder wenn - wie hier - während des Normenkontrollverfahrens eine auf kurzfristige Geltung angelegte Norm, durch die oder durch deren Anwendung der Antragsteller einen Nachteil erlitten habe, außer Kraft getreten sei. In diesem Fall müsse jedoch der Antrag auf die Feststellung der Ungültigkeit der außer Kraft getretenen Norm umgestellt werden und ein berechtigtes Interesse an der (nachträglichen) Feststellung der Ungültigkeit bestehen. Eine solche Antragsänderung mit Darlegung des erforderlichen Feststellungsinteresses sei seitens der Antragstellerin aber nicht erfolgt. Die Revision hat der Verwaltungsgerichtshof in diesem Beschluss nicht zugelassen.

3 Auf die Nichtzulassungsbeschwerde der Antragstellerin hat der Verwaltungsgerichtshof mit Beschluss vom 14. Oktober 2022 seinen Beschluss vom 5. September 2022 geändert und die Revision wegen eines Verfahrensfehlers zugelassen.

4 Mit ihrer allein auf einen Verfahrensmangel gestützten Revision beantragt die Antragstellerin, den Beschluss des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs vom 5. September 2022, 20 N 21.29 31 , aufzuheben und den Rechtsstreit zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an den Bayerischen Verwaltungsgerichtshof zurückzuverweisen. Der Antragsgegner ist dem nicht entgegengetreten.

II

5 Die Revision der Antragstellerin, über die der Senat mit dem Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entscheidet (§ 101 Abs. 2 i. V. m. § 125 Abs. 1 und § 141 VwGO), ist begründet. Die Ablehnung des Normenkontrollantrags der Antragstellerin als unzulässig beruht auf einer Verletzung von Bundesrecht (§ 137 Abs. 1 Nr. 1 VwGO). Das führt zur Aufhebung der Nummern I. und II. des angefochtenen Beschlusses und zur Zurückverweisung der Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an den Verwaltungsgerichtshof (§ 144 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 VwGO).

6 Der Verwaltungsgerichtshof hat den Anspruch der Antragstellerin auf rechtliches Gehör verletzt (§ 108 Abs. 2 VwGO, Art. 103 Abs. 1 GG). Er hat bei der Ablehnung des Normenkontrollantrags als unzulässig nicht berücksichtigt, dass die Antragstellerin mit Schriftsatz vom 31. März 2022 (Bl. 46 ff. GA), der am selben Tag beim Verwaltungsgerichtshof eingegangen ist, ihren bisherigen Antrag unter Verweis auf ein Außerkrafttreten der Vorschriften umgestellt hatte. Sie hatte beantragt festzustellen, dass § 4 Abs. 1 der 15. BayIfSMV unwirksam gewesen war, soweit hiermit der Zugang zu Fitnessstudios für Beschäftigte und Besucher beschränkt wurde. Zur Begründung des erforderlichen besonderen Feststellungsinteresses (vgl. zu diesem Erfordernis u. a. BVerwG, Urteil vom 11. November 2015 - 8 CN 2.14 - BVerwGE 153, 183 Rn. 19 m. w. N.) hatte sie geltend gemacht, es liege ein gravierender Eingriff in ihre Berufsfreiheit und ihr Recht am eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb vor. Die angegriffenen Regelungen hätten es ihr unmöglich gemacht, ungeimpfte Mitarbeiter zu beschäftigen. Für ungeimpfte Kunden sei ein Besuch ihres Fitnessstudios unmöglich gemacht, für geimpfte und genesene Kunden durch die zusätzliche Testpflicht wesentlich erschwert worden, was zu einem entsprechenden Umsatzausfall und Kundenrückgang geführt habe. Auch der Gleichheitssatz sei angesichts der weniger eingriffsintensiven Regelungen für die Gastronomie verletzt worden. Ein berechtigtes Interesse an der Feststellung bestehe zudem unter dem Gesichtspunkt der Wiederholungsgefahr, da zu befürchten sei, dass in einem etwaigen nächsten Lockdown oder bei strengeren Maßnahmen zur Bekämpfung einer neuen Variante des Coronavirus Fitnessstudios im Vergleich zu anderen Indoor-Aktivitäten erneut sachgrundlos schlechter gestellt würden. Der Verwaltungsgerichtshof hat diesen Vortrag übersehen.

7 Der hierin liegende Gehörsverstoß ist nicht aufgrund der fehlerhaften Angabe des Aktenzeichens im Schriftsatz der Antragstellerin vom 31. März 2022 ausgeschlossen. Der Grundsatz des rechtlichen Gehörs verpflichtet ein Gericht, die Ausführungen der an einem gerichtlichen Verfahren Beteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen. Es ist mit Art. 103 Abs. 1 GG daher nicht vereinbar, wenn ein Gericht einen ordnungsgemäß eingereichten Schriftsatz unberücksichtigt lässt. Dabei kommt es nicht auf ein Verschulden des Gerichts hinsichtlich der unterbliebenen Kenntnisnahme des Vorbringens an; die Gründe für den Gehörsverstoß sind nicht entscheidungserheblich (vgl. BVerfG, Kammerbeschluss vom 18. Juli 2019 - 2 BvR 1082/18 - juris Rn. 14 m. w. N.). Für die ordnungsgemäße Einreichung des Schriftsatzes ist die Angabe des (richtigen) Aktenzeichens nicht erforderlich. Die gesetzlichen Bestimmungen in § 173 Satz 1 VwGO i. V. m. §§ 129, 130 ZPO sehen keine Pflicht zur Angabe des Aktenzeichens vor. Auch ist für den Eingang bei Gericht und damit die Möglichkeit der Kenntnisnahme allein maßgeblich, dass der betreffende Schriftsatz rechtzeitig an das zur Entscheidung berufene Gericht gelangt ist; nicht relevant ist, ob er in die bereits angelegte Akte eingeordnet worden ist. Die Angabe eines unzutreffenden Aktenzeichens - die u. U. zur falschen Zuordnung eines Schriftsatzes führen kann - schließt damit einen Gehörsverstoß nicht aus, auch wenn bei demselben Gericht in einem engen zeitlichen Zusammenhang mehrere Verfahren zwischen denselben Prozessbeteiligten anhängig sind (vgl. für das zivilgerichtliche Verfahren BVerfG, Kammerbeschlüsse vom 12. Dezember 2012 - 2 BvR 1294/10 - NJW 2013, 925 und vom 19. März 2018 - 1 BvR 2313/17 - juris Rn. 12). Unabhängig davon ist bereits zweifelhaft, ob die Angabe des falschen Aktenzeichens im vorliegenden Verfahren kausal für die fehlerhafte Zuordnung des Schriftsatzes vom 31. März 2022 geworden ist, denn das Gericht hat den Schriftsatz nicht zu dem unter dem von der Antragstellerin angegebenen Aktenzeichen geführten Verfahren, sondern zu einem dritten Verfahren genommen.

8 Die Antragstellerin hat die Verletzung ihres Anspruchs auf rechtliches Gehör in der erforderlichen Weise geltend gemacht (§ 139 Abs. 3 Satz 4 VwGO). Der angefochtene Beschluss beruht auf dem Verfahrensmangel (§ 138 Nr. 3 VwGO). Er ist daher aufzuheben und die Sache an den Verwaltungsgerichtshof zurückzuverweisen (§ 144 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 VwGO; vgl. BVerwG, Urteil vom 15. September 2008 - 1 C 12.08 - Buchholz 310 § 101 VwGO Nr. 34 Rn. 11).

9 Die Entscheidung über die Kosten bleibt der Schlussentscheidung vorbehalten.