Beschluss vom 29.06.2023 -
BVerwG 3 B 43.22ECLI:DE:BVerwG:2023:290623B3B43.22.0

  • Zitiervorschlag

    BVerwG, Beschluss vom 29.06.2023 - 3 B 43.22 - [ECLI:DE:BVerwG:2023:290623B3B43.22.0]

Beschluss

BVerwG 3 B 43.22

  • VG Mainz - 27.01.2022 - AZ: 1 K 303/20.MZ
  • OVG Koblenz - 26.09.2022 - AZ: 6 A 10383/22

In der Verwaltungsstreitsache hat der 3. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 29. Juni 2023
durch die Vorsitzende Richterin am Bundesverwaltungsgericht Dr. Philipp,
den Richter am Bundesverwaltungsgericht Liebler und
die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Hellmann
beschlossen:

  1. Der Beschluss des Oberverwaltungsgerichts Rheinland-Pfalz vom 26. September 2022 wird aufgehoben.
  2. Die Sache wird zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das Oberverwaltungsgericht zurückverwiesen.
  3. Die Entscheidung über die Kosten bleibt der Schlussentscheidung vorbehalten.
  4. Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwerdeverfahren auf 5 000 € festgesetzt.

Gründe

I

1 Der Kläger wendet sich gegen Betriebsschließungen anlässlich der Covid-19-Pandemie. Das Verwaltungsgericht hat seine Klage mit dem Begehren festzustellen, dass die in § 1 Abs. 1 der Vierten Corona-Bekämpfungsverordnung Rheinland-Pfalz vom 17. April 2020 in der durch die Verordnungen vom 20. April 2020 und 24. April 2020 geänderten Fassung geregelten Betriebsschließungen ihn in seinen Rechten verletzt und ihm gegenüber keine Wirkung entfaltet haben, wegen fehlender Klagebefugnis und mangels eines Rechtsschutzinteresses als unzulässig abgewiesen. Der Kläger hat gegen das ihm am 31. März 2022 zugestellte Urteil die vom Verwaltungsgericht wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache zugelassene Berufung eingelegt. Mit Schriftsatz vom 30. Mai 2022 hat er beantragt, "die am 31.05.2022 ablaufende Berufungsbegründungsfrist um einen Monat (Hervorhebung durch den Kläger) bis zum 28.06.2022 zu verlängern". Auf Verfügung des Vorsitzenden vom selben Tage ist ihm mitgeteilt worden, "dass die Berufungsbegründungsfrist antragsgemäß verlängert wird". Die Berufungsbegründung ist am 29. Juni 2022 bei dem Oberverwaltungsgericht eingegangen. Das Oberverwaltungsgericht hat die Berufung durch Beschluss verworfen, weil sie nicht fristgerecht begründet worden sei und eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nicht in Betracht komme; die Revision hat es nicht zugelassen. Hiergegen richtet sich die Beschwerde des Klägers, die auf sämtliche Zulassungsgründe des § 132 Abs. 2 VwGO gestützt ist.

II

2 Die zulässige Beschwerde des Klägers ist begründet. Der Kläger rügt zu Recht, das Oberverwaltungsgericht habe die Berufung verfahrensfehlerhaft für unzulässig gehalten (1). Die weiteren Rügen rechtfertigen eine Zulassung der Revision nicht (2). Der Verfahrensmangel führt zur Aufhebung des angegriffenen Beschlusses und zur Zurückverweisung der Sache an das Oberverwaltungsgericht (3).

3 1. Das Oberverwaltungsgericht hat die Berufung des Klägers als unzulässig verworfen, weil die Berufungsbegründung nicht innerhalb der verlängerten Frist für die Begründung der Berufung bei ihm eingegangen sei (§ 124a Abs. 3 Satz 1 bis 3 und 5 VwGO) und die Voraussetzungen für eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand (§ 60 VwGO) nicht vorlägen. Darin liegt, wie vom Kläger dargelegt (§ 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO), ein Verfahrensmangel.

4 Der Kläger hat die Berufung mit dem am 29. Juni 2022 beim Oberverwaltungsgericht eingegangenen Schriftsatz fristgerecht begründet. Die Berufungsbegründungsfrist war durch die Verfügung des Vorsitzenden vom 30. Mai 2022 bis zum 30. Juni 2022 verlängert worden. Der Vorsitzende hatte mit der "antragsgemäßen" Verlängerung der Frist den Antrag des Klägers zum Inhalt der Fristverlängerung gemacht (vgl. BGH, Beschluss vom 30. April 2008 - III ZB 85/07 - NJW-RR 2008, 1162 Rn. 2). Prozesshandlungen der Beteiligten - wie hier der Fristverlängerungsantrag des Klägers - unterliegen der Auslegung, zu der auch das Revisionsgericht ohne Einschränkungen befugt ist. Der maßgebende objektive Erklärungswert bestimmt sich danach, wie der Empfänger nach den Umständen, insbesondere der recht verstandenen Interessenlage, die Erklärung verstehen muss (BVerwG, Urteil vom 27. August 2008 - 6 C 32.07 - Buchholz 310 § 124a VwGO Nr. 38 Rn. 23 und Beschluss vom 12. Mai 2022 - 8 B 44.21 - Buchholz 310 § 124a VwGO Nr. 54 Rn. 5). Ausgehend hiervon ist der Antrag des Klägers dahin auszulegen, dass er eine Verlängerung der Berufungsbegründungsfrist nicht nur um vier Wochen bis zum 28. Juni, sondern um einen Monat bis zum 30. Juni 2022 beantragt hat. Bei einem Fristverlängerungsantrag, der sich bis zu einem bestimmten Datum richtet, ist zwar regelmäßig nicht anzunehmen, dass abweichend vom Wortlaut eine nach den jeweiligen Vorschriften grundsätzlich mögliche weitergehende Fristverlängerung begehrt wird (BGH, Beschlüsse vom 2. Juni 2016 - III ZB 13/16 - juris Rn. 7 und vom 26. November 2019 - VIII ZA 4/19 - NJW-RR 2020, 313). Unter den hier gegebenen Umständen rechtfertigte die - für sich betrachtet eindeutige - Angabe "bis zum 28.06.2022" aber nicht den Schluss, dass sich der Antrag nach diesem Datum richten und die Angabe "um einen Monat" lediglich ein zusätzlicher Hinweis sein sollte (so OVG BA S. 6 f.). Denn anders als in den genannten Fällen des Bundesgerichtshofs hatte der Kläger auch das Datum des Ablaufs der zu verlängernden Frist genannt und sein Begehren, "die am 31.05.2022 ablaufende Berufungsbegründungsfrist um einen Monat ... zu verlängern" durch Unterstreichung der Worte "um einen Monat" hervorgehoben. Dass das angegebene Datum "28.06.2022" mit diesem Begehren nicht zusammenpasste, war offenkundig. Um das zu erkennen, bedurfte es weder eines Blicks in die Akten zur Klärung, wann dem Kläger das angefochtene Urteil zugestellt worden war, noch in den Kalender zur Klärung, ob das Ende der Monatsfrist auf einen Sonn- oder Feiertag oder einen Sonnabend fiel (vgl. § 193 BGB). Um Klarstellung seines Begehrens hatte der Vorsitzende den Kläger nicht ersucht. In dieser Situation entsprach es der recht verstandenen Interessenlage des Klägers, seinen Antrag dahin auszulegen, dass die am 31. Mai 2022 ablaufende Frist nicht nur bis zum 28. Juni 2022, sondern um einen Monat, also bis zum 30. Juni 2022 (vgl. § 57 Abs. 1 VwGO, § 222 Abs. 1 ZPO, § 187 Abs. 1, § 188 Abs. 2 und 3 BGB) verlängert werden sollte.

5 Der angegriffene Beschluss beruht auf dem Verfahrensmangel. Die Verwerfung der Berufung als unzulässig wird nicht durch eine weitere, revisionsrechtlich fehlerfreie Erwägung getragen.

6 Eine entsprechende Anwendung des § 144 Abs. 4 VwGO kommt nicht in Betracht. Ein anderer Grund für die Unzulässigkeit der Berufung ist nicht erkennbar.

7 2. Die Grundsatz- und die Divergenzrüge greifen nicht durch.

8 a) Die Rechtssache hat nicht die geltend gemachte grundsätzliche Bedeutung (§ 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO). Mit der Frage, ob der Grundsatz der Meistbegünstigung und die gerichtliche Fürsorgepflicht sowie der Amtsermittlungsgrundsatz bei mehrdeutigen Fristverlängerungsanträgen gebieten, entweder die für den Antragsteller günstigste Auslegung vorzunehmen oder ihn rechtzeitig auf die Mehrdeutigkeit seines Antrags hinzuweisen, zeigt der Kläger einen rechtsgrundsätzlichen Klärungsbedarf nicht auf. Ob ein Fristverlängerungsantrag mehrdeutig ist, hängt von den Umständen des Einzelfalls ab. Zudem ist weder dargelegt noch ersichtlich, inwieweit die unter 1. dargelegten Grundsätze für die Auslegung von Prozesshandlungen der Beteiligten einer weiteren Konkretisierung zugänglich sein sollten.

9 b) Die Divergenzrüge rechtfertigt es ebenfalls nicht, die Revision zuzulassen. Der Kläger benennt nicht - wie zur Darlegung einer Divergenz erforderlich (§ 132 Abs. 2 Nr. 2, § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO) – einen die angefochtene Entscheidung tragenden abstrakten Rechtssatz, der einem den angeführten Kammerbeschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 4. September 2020 - 1 BvR 2427/19 - tragenden Rechtssatz widerspräche.

10 3. Liegen - wie hier - die Voraussetzungen des § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO vor, kann das Bundesverwaltungsgericht in seinem Beschluss das angefochtene Urteil aufheben und den Rechtsstreit zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das Oberverwaltungsgericht zurückverweisen (§ 133 Abs. 6 VwGO). Von dieser Möglichkeit macht der Senat Gebrauch. Über die Zulässigkeit der Klage ist zunächst im Berufungsverfahren zu entscheiden; hierfür hat das Verwaltungsgericht die Berufung zugelassen.

11 Die Kostenentscheidung bleibt der Schlussentscheidung vorbehalten. Die Festsetzung des Streitwerts beruht auf § 47 Abs. 1 und 3, § 52 Abs. 2 GKG.