Verfahrensinformation

Der Kläger begehrt seine Rehabilitierung nach dem Verwaltungsrechtlichen Rehabilitierungsgesetz und nach dem Beruflichen Rehabilitierungsgesetz. Seine Anträge begründete er u.a. damit, dass ihm im Dezember 1988 gemeinsam mit seinem Bruder die Flucht aus der DDR nach Berlin (West) gelungen sei. Die Umstände der Flucht, die zwölf Stunden gedauert habe, seien dramatisch gewesen. Diese Erfahrung habe ihn traumatisiert und zu einer psychischen Erkrankung geführt. Der Beklagte lehnte die Anträge ab.


Die hiergegen erhobene Klage hat das Verwaltungsgericht abgewiesen. Ein Anspruch auf berufliche Rehabilitierung bestehe nicht, weil keine beruflichen Nachteile ersichtlich seien. Ebenso wenig bestehe ein Anspruch auf verwaltungsrechtliche Rehabilitierung. Soweit sich der Kläger auf die hochdramatischen Umstände seiner Flucht berufe, sei nicht ersichtlich, dass es sich bei den Grenzsicherungsmaßnahmen der DDR um eine konkret-individuell gegen den Kläger gerichtete Maßnahme gehandelt habe; vielmehr dürften die Grenzsicherungsmaßnahmen der DDR abstrakt-generell gegen die Gesamtheit der DDR-Bevölkerung gerichtet gewesen sein.


Mit der vom Bundesverwaltungsgericht zugelassenen Revision verfolgt der Kläger sein Begehren weiter.


Pressemitteilung Nr. 56/2019 vom 24.07.2019

Rehabilitierung wegen Gesundheitsschäden durch Grenzsicherungsmaßnahmen der DDR

Die zur Verhinderung eines Grenzübertritts an der früheren Grenze der DDR ausgelösten Grenzsicherungsmaßnahmen waren rechtsstaatswidrig. Eine infolge dieser Maßnahmen erlittene gesundheitliche Schädigung kann verwaltungsrechtlich rehabilitiert werden. Das hat das Bundesverwaltungsgericht in Leipzig heute entschieden.


Der Kläger begehrt seine verwaltungsrechtliche Rehabilitierung. Zur Begründung seines Antrags machte er u.a. geltend, ihm sei im Dezember 1988 die Flucht aus der DDR nach Berlin (West) gelungen, die besonders dramatisch verlaufen sei. Diese Erfahrung habe ihn traumatisiert und zu einer psychischen Erkrankung geführt, die noch heute fortwirke. Der Beklagte lehnte den Antrag ab.


Das Verwaltungsgericht hat die dagegen erhobene Klage abgewiesen. Ein Anspruch auf verwaltungsrechtliche Rehabilitierung bestehe nicht. Bei den Grenzsicherungsmaßnahmen der DDR habe es sich nicht um eine konkret-individuell gegen den Kläger, sondern um eine gegen die gesamte Bevölkerung der DDR gerichtete abstrakt-generelle Maßnahme gehandelt.


Die Revision des Klägers hatte Erfolg und führte zur Verpflichtung des Beklagten, die  Rechtsstaatswidrigkeit der ausgelösten Grenzsicherungsmaßnahmen festzustellen. Die Annahme des Verwaltungsgerichts, die Grenzsicherungsmaßnahmen der DDR seien lediglich abstrakt-generell gegen die Gesamtheit der Bevölkerung der DDR gerichtet gewesen, so dass eine verwaltungsrechtliche Rehabilitierung ausscheide, verletzt Bundesrecht. Die zur Verhinderung eines bestimmten Grenzübertritts ausgelösten Grenzsicherungsmaßnahmen der DDR waren hoheitliche Maßnahmen, die sich konkret und individuell gegen den Betroffenen - hier den Kläger - richteten. Sie waren rechtsstaatswidrig, weil sie in schwerwiegender Weise gegen die Prinzipien der Gerechtigkeit und der Verhältnismäßigkeit verstießen und Willkürakte im Einzelfall darstellten. Der Kläger hat darüber hinaus schlüssig dargelegt, dass die ausgelösten Grenzsicherungsmaßnahmen bei ihm zu einer gesundheitlichen Schädigung geführt haben können, die noch unmittelbar schwer und unzumutbar fortwirkt. Die abschließende Entscheidung über Folgeansprüche obliegt dem zuständigen Versorgungsamt.


BVerwG 8 C 1.19 - Urteil vom 24. Juli 2019

Vorinstanz:

VG Potsdam, 11 K 211/16 - Urteil vom 15. November 2016 -


Urteil vom 24.07.2019 -
BVerwG 8 C 1.19ECLI:DE:BVerwG:2019:240719U8C1.19.0

Rehabilitierung wegen Gesundheitsschäden durch Grenzsicherungsmaßnahmen der DDR

Leitsatz:

Die zur Verhinderung eines bestimmten Grenzübertritts ausgelösten Grenzsicherungsmaßnahmen der DDR waren hoheitliche Maßnahmen im Einzelfall, die sich individuell und konkret gegen den Betroffenen richteten. Sie unterliegen deshalb nach § 1 Abs. 5 i.V.m. Abs. 1 Satz 1 VwRehaG bei Vorliegen der weiteren gesetzlichen Voraussetzungen der verwaltungsrechtlichen Rehabilitierung.

  • Rechtsquellen
    VwGO § 74 Abs. 1 und 2, § 137 Abs. 1 und 2, § 144 Abs. 3 und 4
    VwRehaG § 1 Abs. 1, 2 und 5, § 2 Abs. 2, § 13 Abs. 3
    VwVfG § 41 Abs. 2

  • VG Potsdam - 15.11.2016 - AZ: VG 11 K 211/16

  • Zitiervorschlag

    BVerwG, Urteil vom 24.07.2019 - 8 C 1.19 - [ECLI:DE:BVerwG:2019:240719U8C1.19.0]

Urteil

BVerwG 8 C 1.19

  • VG Potsdam - 15.11.2016 - AZ: VG 11 K 211/16

In der Verwaltungsstreitsache hat der 8. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
auf die mündliche Verhandlung vom 24. Juli 2019
durch die Vorsitzende Richterin am Bundesverwaltungsgericht Dr. Held-Daab,
die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Hoock,
den Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Keller,
die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Dr. Rublack und
den Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Seegmüller
für Recht erkannt:

  1. Soweit der Kläger die Klage zurückgenommen hat, wird das Verfahren eingestellt. Insoweit ist das Urteil des Verwaltungsgerichts Potsdam vom 15. November 2016 wirkungslos.
  2. Im Übrigen wird dieses Urteil geändert und der Beklagte unter Aufhebung der entgegenstehenden Regelungen seines Bescheides vom 16. Dezember 2015 verpflichtet festzustellen, dass die zur Verhinderung des Grenzübertritts des Klägers am 20. Dezember 1988 ausgelösten Grenzsicherungsmaßnahmen (Explosion von Erdminen, Stacheldrahtverletzung, Verfolgung durch Grenzposten) rechtsstaatswidrig waren, sowie zu bestätigen, dass keine Ausschließungsgründe gemäß § 2 Abs. 2 VwRehaG vorliegen.
  3. Die Kosten des Verfahrens in beiden Rechtszügen tragen der Kläger zu 1/5 und der Beklagte zu 4/5.

Gründe

I

1 Der Kläger begehrt seine Rehabilitierung nach dem Verwaltungsrechtlichen Rehabilitierungsgesetz (VwRehaG) wegen eines infolge seiner Flucht aus der DDR erlittenen Gesundheitsschadens.

2 Am 20. Dezember 1988 flüchtete der Kläger gemeinsam mit seinem Bruder aus der DDR nach (West-)Berlin. Beim Überwinden der Grenzanlagen löste der Kläger die Explosion mehrerer Erdminen aus. Er wurde gegen Stacheldraht geschleudert und erlitt dadurch eine Verletzung. Die alarmierten Grenzsoldaten der DDR ließen von Maßnahmen gegen den Kläger und seinen Bruder ab, als auf der Westseite der Grenze US-amerikanische Soldaten erschienen. Der Kläger und sein Bruder konnten die Flucht vollenden.

3 Im August 2012 beantragte der Kläger, ihn berufsrechtlich und verwaltungsrechtlich zu rehabilitieren. Bei seiner Berufswahl und seiner Berufsausübung sei er benachteiligt worden. Nach Stellung seines Ausreiseantrags sei er Repressionen ausgesetzt gewesen. Seit der Flucht sei er psychisch krank; er leide an Depressionen und Schlafstörungen. Hierzu legte er mehrere ärztliche Gutachten vor. Der Beklagte lehnte die Anträge ab. Die vorgetragenen Umstände der Flucht seien keine individuell gegen den Kläger gerichteten Verfolgungsmaßnahmen gewesen. Ausweislich der vorgelegten Arztberichte habe er nach der Flucht zwar psychische Probleme bekommen; diese fielen aber nicht in den Anwendungsbereich der Rehabilitierungsgesetze.

4 Das Verwaltungsgericht hat die Klage abgewiesen. Der Kläger habe weder Anspruch auf berufsrechtliche noch auf verwaltungsrechtliche Rehabilitierung. Zur Begründung hat es auf die Gründe des angefochtenen Bescheides Bezug genommen und ergänzend ausgeführt: Es möge durchaus sein, dass der Kläger durch die Umstände seiner Flucht traumatisiert worden sei. Bei den Grenzsicherungsmaßnahmen der DDR habe es sich jedoch nicht um eine konkret-individuell gegen den Kläger, sondern um eine abstrakt-generell gegen die Gesamtheit der DDR-Bevölkerung gerichtete Maßnahme gehandelt.

5 Zur Begründung der Revision macht der Kläger geltend, er habe bei der Flucht unter extremer körperlicher und seelischer Anspannung gestanden und ständige Angst vor Entdeckung gehabt. Durch den ausgelösten Alarm sei er in Panik geraten. Vor diesem Hintergrund sei seine Traumatisierung plausibel. Die daraus folgende psychische Erkrankung habe er durch ärztliche Atteste hinreichend belegt.

6 Nachdem der Kläger in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat mit Zustimmung des Beklagten die weitergehende Klage zurückgenommen hat, beantragt er,
das Urteil des Verwaltungsgerichts Potsdam vom 15. November 2016 zu ändern und den Beklagten unter Aufhebung der entgegenstehenden Regelungen in dessen Bescheid vom 16. Dezember 2015 zu verpflichten festzustellen, dass die zur Verhinderung seines Grenzübertritts am 20. Dezember 1988 ausgelösten Grenzsicherungsmaßnahmen (Explosion von Erdminen, Stacheldrahtverletzung, Verfolgung durch Grenzposten) rechtsstaatswidrig waren, sowie ferner zu bestätigen, dass keine Ausschließungsgründe gemäß § 2 Abs. 2 VwRehaG vorliegen.

7 Der Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.

8 Er verteidigt das angegriffene Urteil.

II

9 Soweit die Klage mit Zustimmung des Beklagten im Revisionsverfahren zurückgenommen worden ist, ist das Verfahren einzustellen (§ 92 Abs. 3 VwGO i.V.m. § 141 und § 125 Abs. 1 VwGO). Das Urteil des Verwaltungsgerichts ist insoweit wirkungslos (§ 173 Satz 1 VwGO i.V.m. § 269 Abs. 3 Satz 1 ZPO).

10 Im Übrigen hat die Revision Erfolg. Das Verwaltungsgericht hat einen Anspruch des Klägers auf verwaltungsrechtliche Rehabilitierung - soweit noch Gegenstand der Revision - zu Unrecht verneint. Das angefochtene Urteil beruht insoweit auf der Verletzung von Bundesrecht und erweist sich auch nicht aus anderen Gründen als richtig (§ 137 Abs. 1 Nr. 1, § 144 Abs. 4 VwGO). Der Senat kann in der Sache selbst entscheiden, weil weitere Ermittlungen nicht erforderlich sind (§ 144 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 VwGO).

11 1. Die Annahme der Vorinstanz, die zur Verhinderung eines bestimmten Grenzübertritts ausgelösten Grenzsicherungsmaßnahmen der DDR hätten sich nicht konkret-individuell gegen den Betroffenen, sondern lediglich gegen die Gesamtheit der Bevölkerung der DDR gerichtet, beruht auf einer unzutreffenden Anwendung des § 1 Abs. 5 i.V.m. Abs. 1 Satz 1 des Verwaltungsrechtlichen Rehabilitierungsgesetzes (VwRehaG).

12 Zutreffend geht das Verwaltungsgericht davon aus, dass sich der Anspruch des Klägers auf verwaltungsrechtliche Rehabilitierung nach § 1 Abs. 5 i.V.m. Abs. 1 Satz 1 VwRehaG beurteilt. Danach ist eine hoheitliche Maßnahme einer deutschen behördlichen Stelle zur Regelung eines Einzelfalls im Beitrittsgebiet, die zu einer gesundheitlichen Schädigung geführt hat, auf Antrag aufzuheben, soweit sie mit tragenden Grundsätzen des Rechtsstaates schlechthin unvereinbar ist und ihre Folgen noch unmittelbar schwer und unzumutbar fortwirken (vgl. § 1 Abs. 1 Satz 1 VwRehaG). Ist die hoheitliche Maßnahme nicht auf die Herbeiführung einer Rechtsfolge gerichtet, tritt an die Stelle der Aufhebung der Maßnahme die Feststellung ihrer Rechtsstaatswidrigkeit (vgl. § 1 Abs. 5 VwRehaG).

13 Entgegen der Auffassung der Vorinstanz waren die zur Verhinderung eines bestimmten Grenzübertritts ausgelösten Grenzsicherungsmaßnahmen der DDR einzelfallbezogen, weil sie sich individuell und konkret gegen den Betroffenen richteten. Sie sind deshalb - bei Vorliegen der weiteren gesetzlichen Voraussetzungen - nach § 1 Abs. 5 i.V.m. Abs. 1 Satz 1 VwRehaG rehabilitierungsfähig. Richtig ist zwar, dass die bloße Existenz der Grenzsicherungsanlagen der DDR sich gegen die Gesamtheit der DDR-Bürger richtete und allgemein das Ziel verfolgte, deren ungenehmigte Ausreise in den Westen zu verhindern. Nach dem Willen des Gesetzgebers sind solche systemimmanenten Einbußen an Freiheit und Eigentum, die jeden Rechtsunterworfenen der DDR mehr oder weniger gleich trafen, nicht rehabilitierungsfähig (vgl. BT-Drs. 12/4994, S. 23). Dazu gehören grundsätzlich auch Nachteile, die DDR-Bürgern aus den allgemeinkundigen Beschränkungen der Reisefreiheit und der faktischen Unmöglichkeit der Ausreise aus der DDR erwuchsen. Diese Beschränkungen trafen alle DDR-Bürger schon seit der Gründung der DDR, besonders aber seit dem Bau der Mauer (vgl. BVerwG, Beschluss vom 5. Dezember 2013 - 3 PKH 8.13 <3 B 30.13 > - juris Rn. 6). Anderes gilt hingegen, wenn ein Betroffener nach Betreten der Grenzsicherungsanlagen der DDR die dort zur Verhinderung einer Flucht vorgesehenen technischen und personellen Reaktionen auslöste. In diesem Fall blieb es nicht bei der mit der Existenz der Grenzsicherungsanlagen verbundenen abstrakten Abschreckungswirkung. Vielmehr gelangten die vorhandenen Regeln und Vorkehrungen zur Grenzsicherung konkret zur Anwendung und wandten sich zielgerichtet und individuell gegen den Betroffenen. Derartige Maßnahmen können nicht mehr dem allgemeinen Schicksal der Bevölkerung in der DDR zugerechnet werden, sondern stellen, sobald sie sich gegen eine einzelne Person konkretisieren, individuelle Verfolgung dar (vgl. BVerwG, Beschluss vom 1. Oktober 2018 - 3 B 20.17 - juris Rn. 11). Das gilt insbesondere vor dem Hintergrund, dass die Staatspraxis der DDR die vorsätzliche Tötung von Flüchtlingen durch Schusswaffen, Selbstschussanlagen oder Minen zur Vermeidung einer Flucht aus der DDR in Kauf nahm (vgl. BGH, Urteile vom 25. März 1993 - 5 StR 418/92 - BGHSt 39, 168 <183 f.> und vom 26. Juli 1994 - 5 StR 98/94 - BGHSt 40, 218 <232>). Derartige Maßnahmen griffen unmittelbar in die Persönlichkeitssphäre des Betroffenen und in dessen körperliche Unversehrtheit ein. Sie unterliegen mithin der verwaltungsrechtlichen Rehabilitierung (vgl. auch BVerwG, Urteile vom 26. September 1996 - 7 C 61.94 - BVerwGE 102, 89 <93> und vom 23. August 2001 - 3 C 39.00 - Buchholz 428.6 § 1 VwRehaG Nr. 3 Rn. 13).

14 2. Das angegriffene Urteil beruht auf der unzutreffenden Anwendung des § 1 Abs. 5 i.V.m. Abs. 1 Satz 1 VwRehaG und erweist sich nicht aus anderen Gründen als richtig (§ 144 Abs. 4 VwGO). Vielmehr ergibt sich auf der Grundlage der den Senat gemäß § 137 Abs. 2 VwGO bindenden tatsächlichen Feststellungen der Vorinstanz, dass die Voraussetzungen des § 1 Abs. 5 i.V.m. Abs. 1 Satz 1 VwRehaG vorliegen und der Kläger wegen des Fluchtgeschehens verwaltungsrechtlich zu rehabilitieren ist. Der Senat kann in der Sache selbst entscheiden, weil weitere Ermittlungen nicht erforderlich sind (§ 144 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 VwGO).

15 a) Bei zutreffender Anwendung des § 1 Abs. 5 i.V.m. Abs. 1 Satz 1 VwRehaG stellten sich die gegen den Kläger eingesetzten Grenzsicherungsmaßnahmen als hoheitliche Maßnahmen im Einzelfall dar. Nach den Feststellungen der Vorinstanz löste der Kläger beim Versuch des Übersteigens der Grenze die Explosion mehrerer Erdminen aus. In der Folge ließen die Grenzsoldaten der DDR von weiteren Maßnahmen nur wegen des Auftauchens US-amerikanischer Soldaten an der Westseite der Grenze ab. Die Explosion der Erdminen und die - schließlich abgebrochene - Verfolgung der Flüchtenden durch die alarmierten Grenzsoldaten der DDR gingen über die allgemein mit den Grenzsicherungsanlagen verbundene Abschreckungswirkung hinaus. Als Maßnahmen zur gewaltsamen Verhinderung der bereits begonnenen und von den Grenzsoldaten erkannten Flucht richteten sie sich konkret und individuell gegen die Person des Flüchtenden, hier des Klägers. Dabei kommt es entgegen der Auffassung des Beklagten nicht darauf an, ob und gegebenenfalls wann die Grenzsoldaten den Kläger und dessen Bruder trotz witterungsbedingter Sichtbehinderungen erkennen konnten. Jede durch einen bestimmten Fluchtversuch ausgelöste, der Verhinderung dieser Flucht dienende staatliche Maßnahme konkretisiert die allgemeinen Regelungen und Vorkehrungen zur Grenzsicherung in Bezug auf den jeweiligen Einzelfall. Sie bezieht sich konkret auf den betreffenden Fluchtversuch und richtet sich individuell gegen die flüchtende Person (vgl. BVerwG, Beschluss vom 1. Oktober 2018 - 3 B 20.17 - ZOV 2018, 228 f. Rn. 11 zur Konkretisierung so genannter Zersetzungsmaßnahmen des MfS). Schon die Explosion der Erdminen war danach eine konkret-individuelle, gegen den Kläger gerichtete Maßnahme. Gleiches gilt für den durch seine Flucht ausgelösten Alarm, für die damit einsetzende Suche der alarmierten Grenzsoldaten der DDR nach den Flüchtenden und für deren weitere Verfolgung bis zum Erscheinen der US-amerikanischen Soldaten westlich der Grenze.

16 b) Die zur Verhinderung der Flucht des Klägers ausgelösten Grenzsicherungsmaßnahmen waren auch mit tragenden Grundsätzen eines Rechtsstaates schlechthin unvereinbar. Nach § 1 Abs. 2 VwRehaG ist das der Fall, wenn die Maßnahmen in schwerwiegender Weise gegen die Prinzipien der Gerechtigkeit, der Rechtssicherheit oder der Verhältnismäßigkeit verstoßen haben und der politischen Verfolgung gedient oder Willkür im Einzelfall dargestellt haben. Die Vorschrift erfasst einen Kernbestand von Regeln, die schlechthin verbindlich für jeden Staat sein müssen, der den Namen Rechtsstaat für sich in Anspruch nimmt (vgl. BT-Drs. 12/4994 S. 23).

17 aa) Die gegen den Kläger konkret und individuell zur Verhinderung seiner Flucht ergriffenen Grenzsicherungsmaßnahmen verstießen in schwerwiegender Weise gegen die Prinzipien der Gerechtigkeit und der Verhältnismäßigkeit. In der höchstrichterlichen Rechtsprechung ist anerkannt, dass das Grenzregime der DDR der Durchsetzung des Verbots, die Grenze zu überschreiten, schlechthin Vorrang gab vor dem Lebensrecht von Menschen und offensichtlich und unerträglich gegen elementare Gebote der Gerechtigkeit und gegen völkerrechtlich geschützte Menschenrechte verstieß (vgl. BGH, Urteile vom 3. November 1992 - 5 StR 370/92 - BGHSt 39, 1 <15>, vom 25. März 1993 - 5 StR 418/92 - BGHSt 39, 168 <183 f.>, vom 26. Juli 1994 - 5 StR 167/94 - BGHSt 40, 241 <244> und - 5 StR 98/94 - BGHSt 40, 218 <232>). Die Praxis der DDR, die innerdeutsche Grenze mit Mauer, Stacheldraht, Todesstreifen und Schießbefehl zu sichern, war unmenschlich (vgl. BVerfG, Beschluss vom 24. Oktober 1996 - 2 BvR 1851, 1853, 1875, 1852/94 - BVerfGE 95, 96 <135 f.> unter Bezugnahme auf Urteil vom 31. Juli 1973 - 2 BvF 1/73 - BVerfGE 36, 1 <35>). Die zum Einsatz gekommenen Grenzsicherungsmaßnahmen verstießen auch gegen das Prinzip der Verhältnismäßigkeit, denn der staatlicherseits in Kauf genommene Verlust des Lebens stand außerhalb jedes vernünftigen Verhältnisses zum damit verfolgten politischen Ziel, eine Flucht zu verhindern.

18 bb) Es kann offenbleiben, ob die gegen den Kläger ergriffenen Grenzsicherungsmaßnahmen der politischen Verfolgung gedient haben. Davon wäre nur auszugehen, wenn sie ihm in Anknüpfung an bestimmte, regelmäßig unverfügbare Merkmale gezielt Rechtsverletzungen zufügten, die ihn ihrer Intensität nach aus der übergreifenden Friedensordnung der staatlichen Gemeinschaft ausgrenzten (vgl. BVerwG, Beschluss vom 29. Juli 2003 - 3 B 72.03 - juris Rn. 4). Jedenfalls waren sie von der Tendenz und Absicht getragen, ihre Adressaten bewusst zu benachteiligen (vgl. BVerwG, Beschluss vom 25. Juli 2000 - 3 B 7.00 - juris Rn. 6; Urteil vom 23. August 2001 - 3 C 39.00 - Buchholz 428.6 § 1 VwRehaG Nr. 3 Rn. 17 und Leitsatz 1), und stellten deshalb Willkürakte im Einzelfall im Sinne des § 1 Abs. 2 VwRehaG dar. Der Einsatz von Erdminen und die dadurch veranlasste Alarmierung der Grenzsoldaten sollten dem Kläger gezielt Schaden an Leib oder Leben zufügen, um seine Flucht zu verhindern. Diese Maßnahmen waren Ausdruck eines staatlichen Systems, das seine Bürger bei Fluchtversuchen zum Objekt staatlicher Willkür degradierte (vgl. BT-Drs. 12/4994 S. 25). Eine Schädigungsabsicht war ihnen immanent.

19 c) Der Kläger hat schlüssig dargelegt und unter Vorlage mehrerer ärztlicher Atteste glaubhaft gemacht, dass die gegen ihn bei der Flucht ergriffenen Grenzsicherungsmaßnahmen zu seiner Traumatisierung, mithin zu einem Eingriff in seine (psychische) Gesundheit, geführt haben und dass ihre Folgen noch unmittelbar schwer und unzumutbar fortwirken (vgl. § 1 Abs. 1 Satz 1 VwRehaG). Den vorgelegten ärztlichen Bescheinigungen lässt sich entnehmen, dass bei dem Kläger mindestens seit 2003 sowie in den Folgejahren wiederholt eine mittelgradige depressive Episode, eine posttraumatische Belastungsstörung sowie Panik-, Angst- und Schlafstörungen diagnostiziert wurden. Diese fortwirkenden gesundheitlichen Beeinträchtigungen kommen nach dem Inhalt der beigebrachten Atteste auch als unmittelbare Folge der rechtsstaatswidrigen Grenzsicherungsmaßnahmen in Betracht. Dabei genügt es, dass die erlittene Traumatisierung sowie die nachfolgend diagnostizierten psychischen Störungen durch das Fluchtgeschehen zumindest mitverursacht wurden (vgl. BVerwG, Urteil vom 9. Oktober 2003 - 3 C 1.03 - BVerwGE 119, 102 <107>). Dass der Kläger nach den Feststellungen der Vorinstanz bei der Flucht keine bleibenden körperlichen Schäden erlitten hat, schließt eine Verletzung seiner psychischen Gesundheit nicht aus.

20 4. Anhaltspunkte für das Vorliegen von Ausschließungsgründen nach § 2 Abs. 2 VwRehaG, die den vom Kläger angestrebten Folgeansprüchen entgegenstehen könnten, sind nicht gegeben. Die Vorinstanz hat hierzu - aus ihrer Sicht konsequent - keine Feststellungen getroffen. Den im angegriffenen Urteil in Bezug genommenen Akten lassen sich solche Anhaltspunkte ebenfalls nicht entnehmen. Auch der Beklagte hat in der mündlichen Verhandlung vor dem erkennenden Senat im Hinblick auf die bereits vorliegende Auskunft des Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR insoweit keinen Anlass für weitere Ermittlungen gesehen.

21 Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1, § 155 Abs. 2 VwGO. Die Kostenaufteilung orientiert sich an der wirtschaftlichen Bedeutung des zurückgenommenen Teils der Klage im Verhältnis zum verbliebenen Revisionsbegehren.