Verfahrensinformation

Die Kläger sind Eltern von in der Bundesrepublik Deutschland anerkannten Flüchtlingen und begehren die Erteilung von Visa zur Familienzusammenführung (Elternnachzug, § 36 AufenthG). Die Kinder waren als unbegleitete Minderjährige eingereist, ihnen wurde vor Erreichen der Volljährigkeit Flüchtlingsschutz zuerkannt, und sie erhielten Aufenthaltserlaubnisse.


Die deutschen Auslandsvertretungen lehnten die Visumerteilung ab, weil die Kinder vor der Entscheidung über die Visumanträge volljährig geworden sind. Die Vorinstanzen haben die Beklagte zur Erteilung der Visa verpflichtet, weil die Kinder für den Elternnachzug als „minderjährig“ anzusehen seien. Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (Urteil vom 12. April 2018 - C-550/16), die eine abweichende Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts überholt habe, komme es maßgeblich darauf an, dass das nach Deutschland geflüchtete Kind zum Zeitpunkt der Asylantragstellung minderjährig gewesen sei. Dies gelte erst Recht, wenn noch vor Erreichen der Volljährigkeit die Flüchtlingsanerkennung erfolgt und der Visumantrag gestellt worden sei. Dagegen wenden sich die (Sprung-)Revisionen der Beklagten.


Das ebenfalls am 22. April 2020 mündlich zu verhandelnde Verfahren BVerwG 1 C 16.19 betrifft die umgekehrte Konstellation des Kindernachzugs einer nach Visumantragstellung volljährig gewordenen Minderjährigen zu ihrem in Deutschland lebenden und als Flüchtling anerkannten Vater.


Pressemitteilung Nr. 17/2020 vom 23.04.2020

EuGH soll weitere Fragen zum Elternnachzug zu volljährig gewordenen unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen klären

Das Bundesverwaltungsgericht in Leipzig hat heute den Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) zur Klärung der Frage angerufen, ob die deutsche Rechtslage, nach der die nachgezogenen Eltern eines unbegleiteten minderjährigen Flüchtlings ein abgeleitetes Aufenthaltsrecht nur bis zu dessen Volljährigkeit haben, mit Art. 16 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2003/86/EG (sog. Familienzusammenführungsrichtlinie) und der zu Art. 10 Abs. 3 Buchst. a und Art. 2 Buchst. f dieser Richtlinie ergangenen Rechtsprechung des EuGH vereinbar ist.  


Die Kläger sind syrische Staatsangehörige. Ihren Kindern wurde als Minderjährigen in Deutschland Flüchtlingsschutz zuerkannt. Nach der Erteilung von Aufenthaltserlaubnissen an die Kinder beantragten die Kläger Visa zur Familienzusammenführung in Deutschland. Die deutschen Auslandsvertretungen lehnten die Anträge ab, weil die Kinder zwischenzeitlich bereits volljährig geworden waren. Das Verwaltungsgericht hat den Klagen der Eltern im Hinblick auf die Rechtsprechung des EuGH (Urteil vom 12. April 2018 - C-550/16 -) stattgegeben, wonach es beim Elternnachzug für die Beurteilung der Minderjährigkeit auf den Zeitpunkt der Asylantragstellung ankommt. Die beklagte Bundesrepublik hat mit ihren Sprungrevisionen geltend gemacht, dass die Rechtsprechung des EuGH auf die vorliegenden Fälle nicht übertragbar und an der bisherigen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zu § 36 Abs. 1 AufenthG festzuhalten sei, wonach es beim Elternnachzug auf die Minderjährigkeit zum Zeitpunkt der Entscheidung über den Visumantrag ankomme.


Der 1. Revisionssenat des Bundesverwaltungsgerichts sieht Klärungsbedarf, ob der vom EuGH zugrunde gelegte Zeitpunkt für das Bestehen der Minderjährigkeit beim Elternnachzug auch dann zur Zulassung des Familiennachzuges führt, wenn - wie nach deutscher Rechtslage - den Eltern ein Aufenthaltsrecht zur Familienzusammenführung nur bis zur Volljährigkeit des Kindes zusteht, und ob der Familienzusammenführungsantrag deswegen in Anwendung von Art. 16 Abs. 1 Buchst. a RL 2003/86/EG abgelehnt werden darf. Zudem stellt sich die Frage, welche Anforderungen an das Bestehen von tatsächlichen familiären Bindungen i.S.v. Art. 16 Abs. 1 Buchst. b RL 2003/86/EG zwischen den nachziehenden Eltern und dem inzwischen volljährig gewordenen Flüchtling zu stellen sind.


Zu dem umgekehrten Fall des Nachzuges eines volljährig gewordenen Kindes zu einem als Flüchtling anerkannten Elternteil hat das Bundesverwaltungsgericht mit Beschluss vom heutigen Tag (BVerwG 1 C 16.19) ebenfalls ein Vorabentscheidungsersuchen an den EuGH gerichtet.


Fußnote:

Vorlagefragen


1a) Kann beim Nachzug zu einem unbegleiteten minderjährigen Flüchtling nach Art. 10 Abs. 3 Buchst. a und Art. 2 Buchst. f der Richtlinie 2003/86/EG des Rates vom 22. September 2003 das Fortbestehen der Minderjährigkeit „Bedingung“ i.S.d. Art. 16 Abs. 1 Buchst. a RL 2003/86/EG sein? Ist mit den vorgenannten Bestimmungen eine Regelung eines Mitgliedstaates vereinbar, die nachgezogenen Eltern eines unbegleiteten minderjährigen Flüchtlings i.S.v. Art. 2 Buchst. f RL 2003/86/EG nur so lange ein (abgeleitetes) Aufenthaltsrecht in dem Mitgliedstaat gewährt, wie der Flüchtling tatsächlich noch minderjährig ist?


b) Falls die Fragen 1a) zu bejahen sind: Ist Art. 16 Abs. 1 Buchst. a i.V.m. Art. 10 Abs. 3 Buchst. a und Art. 2 Buchst. f RL 2003/86/EG dahin auszulegen, dass es einem Mitgliedstaat, nach dessen Rechtsvorschriften das (abgeleitete) Aufenthaltsrecht der Eltern auf den Zeitraum bis zur Volljährigkeit des Kindes begrenzt ist, erlaubt ist, einen Antrag der noch im Drittstaat aufhältigen Eltern auf Einreise und Aufenthalt zum Zwecke der Familienzusammenführung abzulehnen, wenn der Flüchtling vor der abschließenden Entscheidung über einen innerhalb von drei Monaten nach der Flüchtlingsanerkennung gestellten Antrag im behördlichen oder gerichtlichen Verfahren volljährig geworden ist?


2. Falls in Beantwortung der Frage 1 eine Ablehnung der Familienzusammenführung nicht zulässig ist:


Welche Anforderungen sind an die tatsächlichen familiären Bindungen i.S.d. Art. 16 Abs. 1 Buchst. b RL 2003/86/EG in Fällen des Elternnachzuges zu einem Flüchtling zu stellen, der vor der Entscheidung über den Antrag auf Einreise und Aufenthalt zum Zwecke der Familienzusammenführung volljährig geworden ist? Insbesondere:


a) Reicht dafür die Verwandtschaft in gerader aufsteigender Linie ersten Grades (Art. 10 Abs. 3 Buchst. a RL 2003/86/EG) aus oder ist auch ein tatsächliches Familienleben erforderlich?


b) Falls es auch eines tatsächlichen Familienlebens bedarf: Welche Intensität ist dafür erforderlich? Genügen dazu etwa gelegentliche oder regelmäßige Besuchskontakte, bedarf es des Zusammenlebens in einem gemeinsamen Haushalt oder ist darüber hinaus eine Beistandsgemeinschaft erforderlich, deren Mitglieder aufeinander angewiesen sind?


c) Erfordert der Nachzug der Eltern, die sich noch im Drittstaat befinden und einen Antrag auf Familienzusammenführung zu einem als Flüchtling anerkannten, zwischenzeitlich volljährig gewordenen Kind gestellt haben, die Prognose, dass das Familienleben nach der Einreise in der gemäß Frage 2b) geforderten Weise im Mitgliedstaat (wieder) aufgenommen wird?


BVerwG 1 C 9.19 - Beschluss vom 23. April 2020

Vorinstanz:

VG Berlin, 15 K 936.17 V - Urteil vom 01. Februar 2019 -

BVerwG 1 C 10.19 - Beschluss vom 23. April 2020

Vorinstanz:

VG Berlin, 20 K 538.17 V - Urteil vom 30. Januar 2019 -


Beschluss vom 23.04.2020 -
BVerwG 1 C 10.19ECLI:DE:BVerwG:2020:230420B1C10.19.0

Elternnachzug zum unbegleiteten minderjährigen Flüchtling

Leitsatz:

Vorabentscheidungsersuchen an den EuGH zur Auslegung von Bestimmungen der Familienzusammenführungsrichtlinie (RL 2003/86/EG), mit dem insbesondere geklärt werden soll, ob beim Nachzug der Eltern zu einem minderjährigen unbegleiteten Flüchtling nach Art. 10 Abs. 3 Buchst. a und Art. 2 Buchst. f RL 2003/86/EG das Fortbestehen der Minderjährigkeit "Bedingung" im Sinne von Art. 16 Abs. 1 Buchst. a RL 2003/86/EG sein kann, so dass bei deren Nichtvorliegen ein Familienzusammenführungsantrag abgelehnt werden kann.

  • Rechtsquellen
    AufenthG § 6 Abs. 3, § 32 Abs. 1, § 36 Abs. 1 und 2
    RL 2003/86/EG Art. 2 Buchst. d und f, Art. 10 Abs. 3 Buchst. a, Art. 15 Abs. 2, Art. 16 Abs. 1 Buchst. a und b

  • VG Berlin - 30.01.2019 - AZ: VG 20 K 538.17 V

  • Zitiervorschlag

    BVerwG, Beschluss vom 23.04.2020 - 1 C 10.19 - [ECLI:DE:BVerwG:2020:230420B1C10.19.0]

Beschluss

BVerwG 1 C 10.19

  • VG Berlin - 30.01.2019 - AZ: VG 20 K 538.17 V

In der Verwaltungsstreitsache hat der 1. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 23. April 2020
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Berlit, die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Fricke,
den Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Fleuß,
den Richter am Bundesverwaltungsgericht Böhmann und
die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Dr. Wittkopp
beschlossen:

  1. Das Verfahren wird ausgesetzt.
  2. Es wird gemäß Art. 267 AEUV eine Vorabentscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union zu folgenden Fragen eingeholt:
  3. 1a) Kann beim Nachzug zu einem unbegleiteten minderjährigen Flüchtling nach Art. 10 Abs. 3 Buchst. a und Art. 2 Buchst. f der Richtlinie 2003/86/EG des Rates vom 22. September 2003 das Fortbestehen der Minderjährigkeit "Bedingung" im Sinne des Art. 16 Abs. 1 Buchst. a RL 2003/86/EG sein? Ist mit den vorgenannten Bestimmungen eine Regelung eines Mitgliedstaates vereinbar, die nachgezogenen Eltern eines unbegleiteten minderjährigen Flüchtlings im Sinne von Art. 2 Buchst. f RL 2003/86/EG nur so lange ein (abgeleitetes) Aufenthaltsrecht in dem Mitgliedstaat gewährt, wie der Flüchtling tatsächlich noch minderjährig ist?
  4. b) Falls die Fragen 1a) zu bejahen sind: Ist Art. 16 Abs. 1 Buchst. a in Verbindung mit Art. 10 Abs. 3 Buchst. a und Art. 2 Buchst. f RL 2003/86/EG dahin auszulegen, dass es einem Mitgliedstaat, nach dessen Rechtsvorschriften das (abgeleitete) Aufenthaltsrecht der Eltern auf den Zeitraum bis zur Volljährigkeit des Kindes begrenzt ist, erlaubt ist, einen Antrag der noch im Drittstaat aufhältigen Eltern auf Einreise und Aufenthalt zum Zwecke der Familienzusammenführung abzulehnen, wenn der Flüchtling vor der abschließenden Entscheidung über einen innerhalb von drei Monaten nach der Flüchtlingsanerkennung gestellten Antrag im behördlichen oder gerichtlichen Verfahren volljährig geworden ist?
  5. 2. Falls in Beantwortung der Frage 1 eine Ablehnung der Familienzusammenführung nicht zulässig ist:
  6. Welche Anforderungen sind an die tatsächlichen familiären Bindungen im Sinne des Art. 16 Abs. 1 Buchst. b RL 2003/86/EG in Fällen des Elternnachzuges zu einem Flüchtling zu stellen, der vor der Entscheidung über den Antrag auf Einreise und Aufenthalt zum Zwecke der Familienzusammenführung volljährig geworden ist? Insbesondere:
  7. a) Reicht dafür die Verwandtschaft in gerader aufsteigender Linie ersten Grades (Art. 10 Abs. 3 Buchst. a RL 2003/86/EG) aus oder ist auch ein tatsächliches Familienleben erforderlich?
  8. b) Falls es auch eines tatsächlichen Familienlebens bedarf: Welche Intensität ist dafür erforderlich? Genügen dazu etwa gelegentliche oder regelmäßige Besuchskontakte, bedarf es des Zusammenlebens in einem gemeinsamen Haushalt oder ist darüber hinaus eine Beistandsgemeinschaft erforderlich, deren Mitglieder aufeinander angewiesen sind?
  9. c) Erfordert der Nachzug der Eltern, die sich noch im Drittstaat befinden und einen Antrag auf Familienzusammenführung zu einem als Flüchtling anerkannten, zwischenzeitlich volljährig gewordenen Kind gestellt haben, die Prognose, dass das Familienleben nach der Einreise in der gemäß Frage 2b) geforderten Weise im Mitgliedstaat (wieder) aufgenommen wird?

Gründe

I

1 Die Kläger begehren als syrische Staatsangehörige die Erteilung von nationalen Visa zur Familienzusammenführung mit ihrem als Flüchtling anerkannten Sohn.

2 Ihr am ... Januar 1999 geborener Sohn reiste Ende August 2015 gemeinsam mit drei volljährigen Brüdern in die Bundesrepublik Deutschland ein. Auf seinen Asylantrag vom 5. Oktober 2015 erkannte ihm das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) am 10. Dezember 2015 die Flüchtlingseigenschaft zu. Die Ausländerbehörde erteilte ihm daraufhin am 26. Mai 2016 eine für drei Jahre gültige Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 2 AufenthG.

3 Der Sohn und sein ältester Bruder übermittelten am 29. Januar 2016 per E-Mail an die Botschaft der Bundesrepublik Deutschland in B. einen Antrag auf Familienzusammenführung mit den Klägern (Eltern) und zwei jüngeren Geschwistern (die vormaligen Kläger zu 3 und 4). Die Botschaft vergab einen Termin am 9. November 2016, an dem die Kläger Visaanträge stellten.

4 Die Botschaft lehnte die Visaanträge mit Bescheiden vom 28. März 2017 ab. Die Erteilung eines Visums an die Kläger zum Familiennachzug nach § 36 Abs. 1 AufenthG sei nicht mehr möglich, weil der Sohn am ... Januar 2017 volljährig geworden sei. Die Voraussetzungen einer außergewöhnlichen Härte i.S.d. § 36 Abs. 2 AufenthG lägen nicht vor. Die dagegen erhobene Remonstration blieb ohne Erfolg.

5 Auf die Klage der Kläger hat das Verwaltungsgericht die Beklagte mit Urteil vom 30. Januar 2019 verpflichtet, den Klägern nationale Visa zum Zwecke des Familiennachzuges zu erteilen. Die Beklagte sei nach § 6 Abs. 3 Satz 2 i.V.m. § 36 Abs. 1 AufenthG zur Erteilung von Visa verpflichtet. Die Voraussetzungen lägen vor; insbesondere sei der Sohn unter Zugrundelegung der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union (nachfolgend: Gerichtshof) im Urteil vom 12. April 2018 - C-550/16 - als minderjährig zu betrachten.

6 Mit ihrer Sprungrevision rügt die Beklagte eine Verletzung von § 36 Abs. 1 AufenthG. Der Sohn der Kläger sei zu dem nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung der letzten Tatsacheninstanz (BVerwG, Urteil vom 18. April 2013 - 10 C 9.12 -) kein minderjähriger Flüchtling gewesen. Die Rechtsprechung des Gerichtshofs sei auf den vorliegenden Fall nicht übertragbar, weil eine abschließende Entscheidung nur zu dem Tatbestandsmerkmal der Minderjährigkeit in Art. 10 Abs. 3 Buchst. a RL 2003/86/EG ergangen sei. Nicht entschieden worden sei, ob den Eltern eines volljährig gewordenen Flüchtlings ein Visum zu Einreise und Aufenthalt auch dann zu erteilen sei, wenn sie nach nationalem Recht kein vom minderjährigen Flüchtling unabhängiges Aufenthaltsrecht hätten und sofort wieder ausreisen müssten. Es liege ein anderer Sachverhalt vor, weil der Sohn der Kläger im vorliegenden Verfahren (auch) bei Flüchtlingsanerkennung noch minderjährig gewesen sei und die Familienzusammenführung unter Inanspruchnahme vorläufigen Rechtsschutzes hätte erreicht werden können. In diesem Fall würde der von der Familienzusammenführungsrichtlinie nicht begünstigte Nachzug von Verwandten in gerader aufsteigender Linie zu Volljährigen ermöglicht. Der Sohn der Kläger sei auch nicht unbegleitet, weil er sich in Obhut des ältesten Bruders befinde. Nach nationalem Recht wirke die Flüchtlingsanerkennung und die darauf erteilte Aufenthaltserlaubnis nicht auf den Zeitpunkt der Asylantragstellung zurück. Der Antrag auf Familienzusammenführung sei auch nicht wirksam innerhalb von drei Monaten nach der Flüchtlingsanerkennung gestellt worden.

II

7 Der Rechtsstreit ist auszusetzen. Gemäß Art. 267 AEUV ist eine Vorabentscheidung des Gerichtshofs zu den im Beschlusstenor formulierten Fragen einzuholen. Diese Fragen betreffen die Auslegung von Art. 16 Abs. 1 Buchst. a und b der Richtlinie 2003/86/EG des Rates vom 22. September 2003 betreffend das Recht auf Familienzusammenführung (ABl. L 251 S. 12, nachfolgend: RL 2003/86/EG).

8 1. Die rechtliche Beurteilung richtet sich im nationalen Recht nach dem Gesetz über den Aufenthalt, die Erwerbstätigkeit und die Integration von Ausländern im Bundesgebiet (Aufenthaltsgesetz - AufenthG) in seiner aktuellen Fassung der Bekanntmachung vom 25. Februar 2008 (BGBl. I S. 162), zuletzt geändert durch Art. 4b des Gesetzes vom 17. Februar 2020 (BGBl. I S. 166).

9 Den danach maßgeblichen rechtlichen Rahmen des Rechtsstreits bilden die folgenden Vorschriften des nationalen Aufenthaltsgesetzes:
§ 6 Visum
(...)
(3) Für längerfristige Aufenthalte ist ein Visum für das Bundesgebiet (nationales Visum) erforderlich, dass vor der Einreise erteilt wird. Die Erteilung richtet sich nach den für die Aufenthaltserlaubnis, die Blaue Karte EU, die ICT-Karte, die Niederlassungserlaubnis und die Erlaubnis zum Daueraufenthalt-EU geltenden Vorschriften. (...)
(...)
§ 36 Nachzug der Eltern und sonstiger Familienangehöriger
(1) Den Eltern eines minderjährigen Ausländers, der eine Aufenthaltserlaubnis nach § 23 Absatz 4, § 25 Absatz 1 oder Absatz 2 Satz 1 erste Alternative, eine Niederlassungserlaubnis nach § 26 Absatz 3 oder nach Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Absatz 2 Satz 1 zweite Alternative eine Niederlassungserlaubnis nach § 26 Absatz 4 besitzt, ist abweichend von § 5 Absatz 1 Nummer 1 und § 29 Absatz 1 Nummer 2 eine Aufenthaltserlaubnis zu erteilen, wenn sich kein personensorgeberechtigter Elternteil im Bundesgebiet aufhält.
(2) Sonstigen Familienangehörigen eines Ausländers kann zum Familiennachzug eine Aufenthaltserlaubnis erteilt werden, wenn es zur Vermeidung einer außergewöhnlichen Härte erforderlich ist. Auf volljährige Familienangehörige sind § 30 Abs. 3 und § 31, auf minderjährige Familienangehörige ist § 34 entsprechend anzuwenden.
§ 25 Aufenthalt aus humanitären Gründen
(...)
(2) Einem Ausländer ist eine Aufenthaltserlaubnis zu erteilen, wenn das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge die Flüchtlingseigenschaft im Sinne des § 3 Absatz 1 des Asylgesetzes oder subsidiären Schutz im Sinne des § 4 Absatz 1 des Asylgesetzes zuerkannt hat. (...)
(...)

10 2. Die Vorlagefragen sind entscheidungserheblich. Die Klage kann nur Erfolg haben, wenn den Klägern der geltend gemachte Anspruch in unmittelbarer Anwendung von Art. 10 Abs. 3 Buchst. a der Richtlinie 2003/86/EG zusteht. Das hängt von der Beantwortung der Vorlagefragen ab.

11 2.1 Auf der Grundlage des nationalen Rechts haben die Kläger keinen Rechtsanspruch auf Erteilung von Visa zum Familiennachzug zu ihrem Sohn.

12 Ein solcher Rechtsanspruch könnte sich nur aus § 36 Abs. 1 AufenthG ergeben, der den Nachzug der Eltern eines minderjährigen Ausländers, der einen qualifizierten Aufenthaltstitel aus humanitären Gründen, insbesondere einen solchen nach einer Anerkennung als Flüchtling besitzt, unabhängig von der Sicherung des Lebensunterhalts und des Bereitstehens ausreichenden Wohnraums regelt, wenn sich kein sorgeberechtigter Elternteil im Bundesgebiet aufhält. Der Nachzug von Eltern zu volljährigen Kindern unterfällt § 36 Abs. 2 AufenthG und kann nur bei Vorliegen einer außergewöhnlichen Härte im Ermessenswege gewährt werden (§ 36 Abs. 2 AufenthG); diese Voraussetzungen sind hinsichtlich der Kläger bisher tatrichterlich nicht festgestellt.

13 Die Voraussetzungen des § 36 Abs. 1 AufenthG liegen nicht vor. Nach der gefestigten Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts besteht ein Anspruch der Eltern auf Nachzug zu einem minderjährigen Flüchtling nach § 36 Abs. 1 AufenthG nur, wenn das Kind noch im Zeitpunkt der (behördlichen oder tatsachengerichtlichen) Entscheidung über den Antrag auf Familienzusammenführung minderjährig ist. Das Aufenthaltsrecht nachgezogener Eltern ist nach nationalem Recht auf den Zeitraum bis zu dessen Volljährigkeit begrenzt. Dadurch unterscheidet sich der Elternnachzug vom Kindernachzug, der auf Dauer angelegt ist, weil sich die einem Kind erteilte Aufenthaltserlaubnis mit Eintritt der Volljährigkeit zu einem eigenständigen, vom Familiennachzug unabhängigen Aufenthaltsrecht wandelt (§ 34 Abs. 2 AufenthG). Dieses kann verlängert werden, solange die Voraussetzungen für die Erteilung eines unbefristeten Aufenthaltsrechts (nationale Niederlassungserlaubnis oder Erlaubnis zum Daueraufenthalt-EU) noch nicht vorliegen. Nachgezogenen Eltern gewährt das deutsche Recht bei Volljährigkeit des Kindes kein derartiges eigenständiges Aufenthaltsrecht; von der (fakultativen) Ermächtigung in Art. 15 Abs. 2 RL 2003/86/EG hat der Gesetzgeber keinen Gebrauch gemacht (vgl. BVerwG, Urteil vom 18. April 2013 - 10 C 9.12 - BVerwGE 146, 189 Rn. 17 ff.). Eine Verlängerung der ihnen erteilten Aufenthaltserlaubnis bleibt an das Fortbestehen der Voraussetzungen des Nachzugstatbestands (hier: § 36 Abs. 1 AufenthG) gebunden und ist daher nach Eintritt der Volljährigkeit des Kindes nicht mehr möglich. Sie werden daher grundsätzlich ausreisepflichtig, sofern sie nicht zu diesem Zeitpunkt bereits die Voraussetzungen für eine (unbefristete) Niederlassungserlaubnis oder eine Erlaubnis zum Daueraufenthalt-EU nach der Richtlinie 2003/109/EG erfüllen oder selbst internationalen Schutz erhalten haben.

14 Nach diesem Regelungskonzept dient das Nachzugsrecht der Eltern gemäß § 36 Abs. 1 AufenthG dem tatsächlichen Schutz des unbegleiteten minderjährigen Flüchtlings und seinem Interesse an der Familieneinheit mit seinen Eltern, nicht jedoch eigenständigen Interessen der Eltern am Zusammenleben mit dem Kind. Innerer Grund für diesen Elternnachzug ist allein die gesteigerte Betreuungs- und Schutzbedürftigkeit eines minderjährigen Ausländers mit humanitärem Aufenthaltstitel, welche für den Zeitraum ihrer tatsächlichen Fortdauer die Anwesenheit eines zur Personensorge berechtigten Elternteils gebietet. Dieser Zweck erfordert keine Sicherung einer mit der Visumbeantragung - oder noch früher - eröffneten aufenthaltsrechtlichen Perspektive.

15 Eine Auslegung des § 36 Abs. 1 AufenthG dahin, dass sich die Minderjährigkeit des zusammenführenden Flüchtlings anhand des Zeitpunkts seiner Asylantragstellung beurteilt (s. dazu EuGH, Urteil vom 12. April 2018 - C-550/16 [ECLI:​EU:​C:​2018:​248], A und S -), wäre in Anwendung der allgemein anerkannten Auslegungsregeln selbst dann nicht möglich, wenn Unionsrecht für das Vorliegen des Tatbestandsmerkmals der "Minderjährigkeit" in Art. 2 Buchst. f i.V.m. Art. 10 Abs. 3 RL 2003/86/EG ein Abstellen auf diesen Zeitpunkt auch unter Berücksichtigung der Besonderheiten der deutschen Rechtslage gebietet. Der Gesetzgeber wollte durch § 36 Abs. 1 AufenthG zwar den Anspruch auf Familiennachzug nach Art. 10 Abs. 3 Buchst. a RL 2003/86/EG abschließend umsetzen (BT-Drs. 16/5065 S. 176). Dieses Motiv ändert indes nichts daran, dass nach der Entstehungsgeschichte und dem Wortlaut, wie sich auch aus dem Merkmal der Nichtanwesenheit eines personensorgeberechtigten Elternteils ergibt, durch diese Regelung der Familiennachzug nur dann und nur so lange zugelassen werden sollte, wie er der Gewährleistung der tatsächlichen Betreuung und Sorge für eine Person dient, die auf diese Sorge ihrem Alter nach noch angewiesen ist. Die Regelung zielt nicht auf eine weitergehende, dauerhafte Zusammenführung von Familienangehörigen in auf- oder absteigender Linie unabhängig von der Wahrnehmung tatsächlicher Sorge und ermöglicht sie auch nicht. Eine (dauerhafte) Fixierung des Zeitpunkts, zu dem die Person, zu der der Familiennachzug erfolgt, als "minderjähriger Ausländer" anzusehen ist, auf einen Zeitpunkt vor der tatsächlichen Volljährigkeit ist der Regelung fremd; dies gilt selbst im Falle einer Vorverlagerung auf den Zeitpunkt der Stellung eines Visumantrages zum Zwecke der Familienzusammenführung, wie sie in den Fällen des Kindernachzuges (§ 32 Abs. 1 AufenthG) angenommen wird (dazu BVerwG, Beschluss vom 23. April 2020 - 1 C 16.19 - Rn. 9 ff.). Einer entsprechenden unionsrechtskonformen Auslegung des nationalen Rechts steht der klare Wille des nationalen Gesetzgebers entgegen.

16 2.2 Von der Beantwortung der Vorlagefragen zu 1 hängt ab, ob den Klägern der geltend gemachte Anspruch auf Erteilung eines Visums zum Zwecke der Familienzusammenführung in unmittelbarer Anwendung von Art. 10 Abs. 3 Buchst. a RL 2003/86/EG zusteht. Die Voraussetzungen für eine unmittelbare Anwendung der Richtlinienvorschrift lägen vor (vgl. dazu EuGH, Urteil vom 26. Februar 1986 - Rs. 152/84 [ECLI:​EU:​C:​1986:​84], Marshall - Rn. 46 f.): Es handelt sich um eine inhaltlich unbedingte und hinreichend genaue Regelung, die ein Recht des Einzelnen begründet und die der deutsche Gesetzgeber innerhalb der am 3. Oktober 2005 (Art. 20 Abs. 1 RL 2003/86/EG) abgelaufenen Umsetzungsfrist nicht hinreichend in das nationale Recht umgesetzt hätte. Art. 10 Abs. 3 Buchst. a RL 2003/86/EG gibt den Mitgliedstaaten eine präzise positive Verpflichtung auf, der ein klar definiertes Recht gegenübersteht. Danach sind sie in dem darin genannten Fall verpflichtet, die Familienzusammenführung der Verwandten in gerader aufsteigender Linie ersten Grades des Zusammenführenden zu gestatten, ohne dass sie dabei über einen Wertungsspielraum verfügen (vgl. EuGH, Urteil vom 12. April 2018 - C-550/16 - Rn. 43). Art. 10 Abs. 3 Buchst. a RL 2003/86/EG räumt den Mitgliedstaaten insbesondere kein Ermessen bei der Gestattung der Einreise und des Aufenthalts zum Zwecke des Familiennachzuges ungeachtet der in Art. 4 Abs. 2 Buchst. a RL 2003/86/EG genannten Bedingungen ein; die Legaldefinition des "unbegleiteten Minderjährigen" in Art. 2 Buchst. f RL 2003/86/EG eröffnet den Mitgliedstaaten ebenfalls keine Befugnis, die Begriffsbestimmung selbst auszuformen oder den Zeitpunkt zu bestimmen, zu dem die dort genannten Voraussetzungen erfüllt sein müssen.

17 Von der Beantwortung der Vorlagefrage 2 hängt ab, welche Aufklärungsmaßnahmen das Tatsachengericht gegebenenfalls noch zu ergreifen hat, um festzustellen, dass der Familiennachzug auf die (Wieder-)Aufnahme eines tatsächlichen familiären Lebens zielt.

18 Die weiteren, in den Vorlagefragen nicht erwähnten Voraussetzungen für eine Familienzusammenführung unmittelbar auf der Grundlage von Art. 10 Abs. 3 Buchst. a RL 2003/86/EG lägen vor. Der Sohn der Kläger ist als Flüchtling anerkannt. Er war im Zeitpunkt seiner Einreise und der Stellung seines Antrages auf internationalen Schutz minderjährig und unbegleitet. Dem steht nicht entgegen, dass dem ältesten Bruder M. auf Grundlage einer vom Kläger zu 1 in Syrien ausgestellten Vollmacht zur Vertretung gegenüber Behörden mit Beschluss des Amtsgerichts C. vom 24. Februar 2016 die Vormundschaft für den jüngeren Bruder übertragen wurde, da die Bestellung erst nach der Einreise erfolgt ist. Bei dem Bruder handelte es sich bei Einreise nicht um einen zur Personensorge berechtigten Elternteil (§ 36 Abs. 1 AufenthG) oder einen nach nationalem Recht kraft Gesetzes zur Personensorge berechtigten Angehörigen. Das Verwaltungsgericht hat - den Senat revisionsrechtlich bindend (§ 137 Abs. 2, § 173 VwGO i.V.m. § 293 ZPO) - festgestellt, dass auch nach syrischem Familienrecht der Bruder des Sohnes der Kläger nicht für diesen personensorgeberechtigt war. Bei dem Bruder handelte es sich auch sonst nicht um einen im Sinne von Art. 2 Buchst. f RL 2003/86/EG nach Gesetz oder Gewohnheitsrecht verantwortlichen Erwachsenen.

19 Der formlose Antrag des Sohnes und seines ältesten Bruders auf Familienzusammenführung mit den Klägern in der E-Mail an die Botschaft B. vom 29. Januar 2016 ist auch innerhalb von drei Monaten nach der durch Bescheid des BAMF vom 10. Dezember 2015 erfolgten Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gestellt (vgl. zu dieser Voraussetzung EuGH, Urteil vom 12. April 2018 - C-550/16 - Rn. 61). Auf Grundlage dieses Antrages hat die Botschaft B. den Klägern am 17. Februar 2016 einen Termin zur Visaantragstellung am 9. November 2016 vergeben. Der Antrag auf Einreise und Aufenthalt zur Familienzusammenführung muss nach Art. 5 Abs. 1 RL 2003/86/EG - abhängig von der Ausgestaltung im nationalen Recht - entweder vom Zusammenführenden oder dem oder den Familienangehörigen gestellt werden. Dies gilt gemäß Art. 11 Abs. 1 RL 2003/86/EG auch für den Familiennachzug zu Flüchtlingen. Zwar wird nach § 81 Abs. 1 AufenthG einem Ausländer ein Aufenthaltstitel grundsätzlich (nur) auf seinen Antrag erteilt. Im unmittelbaren Anwendungsbereich des Ehegatten- und Kindernachzuges zum anerkannten Flüchtling nach Art. 12 Abs. 1 Unterabs. 3 RL 2003/86/EG, auf den der Gerichtshof zur Begründung der dreimonatigen Antragsfrist rekurriert, ist die Frist nach § 29 Abs. 2 Satz 3 AufenthG auch durch einen Antrag des Stammberechtigten gewahrt. Die dem zugrunde liegenden Erwägungen (BT-Drs. 16/5065 S. 172) gelten nach Sinn und Zweck entsprechend auch für den Elternnachzug zum minderjährigen Flüchtling.

20 3. Die Vorlagefragen bedürfen der Klärung durch den Gerichtshof.

21 3.1 Mit Vorlagefrage 1a soll geklärt werden, ob beim Nachzug eines Elternteils zu einem unbegleiteten minderjährigen Flüchtling der tatsächliche Fortbestand der Minderjährigkeit "Bedingung" im Sinne des Art. 16 Abs. 1 Buchst. a RL 2003/86/EG ist, die von einem Mitgliedstaat für eine positive Entscheidung über einen Antrag auf Einreise und Aufenthalt auch noch im Zeitpunkt dieser Entscheidung verlangt werden kann. Diese Frage stellt sich hier für eine Fallkonstellation, in der - wie nach dem Recht der Bundesrepublik Deutschland - das nationale Recht den Eltern eines minderjährigen Flüchtlings von vornherein einen Familiennachzugsanspruch nur für die Zeit bis zu dessen Volljährigkeit zubilligt und mit dem Eintritt der Volljährigkeit grundsätzlich keinen Fortbestand des Aufenthaltstitels oder dessen Verlängerung unabhängig vom weiteren Vorliegen der Voraussetzungen für die Familienzusammenführung vorsieht.

22 Der Senat hält diese Frage durch das Urteil des Gerichtshofs vom 12. April 2018 - C-550/16 - für die vorliegende Fallkonstellation für nicht abschließend geklärt. Dieses Urteil bindet den Senat, soweit es danach beim Elternnachzug zu einem minderjährigen Flüchtling gemäß Art. 2 Buchst. f in Verbindung mit Art. 10 Abs. 3 Buchst. a RL 2003/86/EG für die Minderjährigkeit auf den Zeitpunkt der Asylantragstellung ankommt. Insoweit sieht das vorlegende Gericht keinerlei Raum für vernünftige Zweifel (vgl. EuGH, Urteil vom 6. Oktober 1982 - Rs. 283/81 [ECLI:​EU:​C:​1982:​335], C.I.L.F.I.T. - Rn. 16), dass diese Auslegung des Unionsrechts auch und erst recht in einem Fall wie dem vorliegenden Geltung beansprucht, in dem der Flüchtling sogar im Zeitpunkt seiner Anerkennung noch minderjährig war.

23 Diese bindende Festlegung des maßgeblichen Zeitpunkts für die Beurteilung der Frage, ob es sich bei dem Zusammenführenden um einen "minderjährigen Flüchtling" handelt, lässt indes die Folgen für die Auslegung und Anwendung der Gründe offen, aus denen die Mitgliedstaaten nach Art. 16 Abs. 1 RL 2003/86/EG einen Antrag auf Einreise und Aufenthalt zum Zwecke der Familienzusammenführung oder dessen Verlängerung ablehnen können. Das Urteil des Gerichtshofs vom 12. April 2018 - C-550/16 - bezieht die Auslegung und Anwendung des Art. 16 RL 2003/86/EG nicht ein; angesichts der zur Beantwortung vorgelegten Frage und der offenbar von der deutschen abweichenden niederländischen Rechtslage war dies auch nicht erforderlich. Der Senat neigt zu der Auffassung, dass Art. 16 Abs. 1 RL 2003/86/EG dahin auszulegen ist, dass mit "Bedingungen" im Sinne von Art. 16 Abs. 1 Buchst. a RL 2003/86/EG nicht allein die in Kapitel IV der Richtlinie genannten allgemeinen Voraussetzungen für die Ausübung des Rechts auf Familienzusammenführung erfasst sind, die in Art. 4 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 RL 2003/86/EG selbst als "Bedingungen" bezeichnet werden. Vielmehr sieht er alle Voraussetzungen eines unionsrechtskonformen Familiennachzuges erfasst, neben den in Art. 6 und 7 Abs. 1 und 2 RL 2003/86/EG benannten "Voraussetzungen für die Ausübung des Rechts auf Familienzusammenführung" bei dem privilegierten Elternnachzug zu einem unbegleiteten minderjährigen Flüchtling also auch dessen Minderjährigkeit. Auch hierbei handelt es sich um eine in der Richtlinie festgelegte Bedingung für den Elternnachzug, die im Zeitpunkt der Entscheidung über den Antrag auf Einreise und Aufenthalt zum Zwecke der Familienzusammenführung hier tatsächlich nicht mehr erfüllt ist. Schon dies bedarf indes der Klärung (Vorlagefrage 1a Satz 1).

24 Wenn es sich bei der "Minderjährigkeit" um eine "Bedingung" im Sinne des Art. 16 Abs. 1 Buchst. a RL 2003/86/EG handelt, bedarf es der Klärung, ob der für die Anwendung des Art. 10 Abs. 3 Buchst. a RL 2003/86/EG maßgebliche Zeitpunkt für die Beurteilung der Minderjährigkeit, also jener der Asylantragstellung, auch in dem für die Entscheidung nach Art. 16 Abs. 1 RL 2003/86/EG entscheidend ist. Dann wäre diese Bedingung auch bei einem Zusammenführenden, der im Zeitpunkt der nach Art. 16 Abs. 1 RL 2003/86/EG zu treffenden Entscheidung zwischenzeitlich volljährig geworden ist, unabhängig von dessen tatsächlichem Alter dauerhaft und unveränderlich für die Ersterteilung von Aufenthaltstiteln und deren Verlängerung jedenfalls dann erfüllt, wenn ein Antrag auf Familiennachzug innerhalb von drei Monaten nach der Flüchtlingsanerkennung gestellt worden ist. Der Klärung dieser Frage dient Vorlagefrage 1a Satz 2. Eine dauerhafte "Minderjährigkeitsfiktion" liegt bei Übertragung der Erwägung des Urteils des Gerichtshofs vom 12. April 2018 - C-550/16 - zwar nahe. Klärungsbedürftig ist dies indes für eine nationale Rechtslage, in der der Mitgliedstaat im Rahmen des ihm durch Art. 15 Abs. 2 und 4 RL 2003/86/EG eingeräumten Umsetzungsspielraums, ob und inwieweit nachgezogenen Verwandten in gerader aufsteigender Linie ein eigenständiges Aufenthaltsrecht zu gewähren ist, bewusst davon abgesehen hat, den nachziehenden Eltern nach nationalem Recht ein eigenständiges Aufenthaltsrecht zuzubilligen. Eine für Art. 10 Abs. 3 RL 2003/86/EG begründete "Minderjährigkeitsfiktion", nach der auch für diesen Fall für die Anwendung der Art. 13 ff. RL 2003/86/EG eine tatsächlich eingetretene Volljährigkeit und der damit bewirkte Wegfall der Personensorge- und Betreuungsbedürftigkeit dauerhaft außer Betracht zu bleiben hätte, änderte zwar nichts daran, dass ein hieran anknüpfender Aufenthaltstitel zum Familiennachzug abhängig vom fortdauernden Aufenthalt des (minderjährigen bzw. als minderjährig zu fingierenden) Ausländers wäre. Der Sache nach entstünde aber unabhängig von den in Art. 15 Abs. 2 und 4 RL 2003/86/EG eröffneten Umsetzungsspielräumen auch schon vor dem Ablauf der in Art. 15 Abs. 1 RL 2003/86/EG benannten Frist ein von der tatsächlichen Wahrnehmung der Personensorge für einen unbegleiteten minderjährigen Flüchtling unabhängiges Aufenthaltsrecht der nachziehenden Eltern, bei dem zudem nicht das Erfordernis einer Sicherung des Lebensunterhalts (Art. 4 Abs. 2 Buchst. a RL 2003/86/EG) zu beachten wäre.

25 Weil Art. 16 Abs. 1 RL 2003/86/EG abschließend die Voraussetzungen regelt, unter denen ein Antrag auf Einreise und Aufenthalt zum Zwecke der Familienzusammenführung abgelehnt oder die Verlängerung eines Aufenthaltstitels verweigert werden kann, hält es das vorlegende Gericht auch nicht für möglich, die "Minderjährigkeitsfiktion" auf die Einreise und die erstmalige Erteilung eines Aufenthaltstitels mit mindestens einjähriger Gültigkeitsdauer (Art. 13 Abs. 2 RL 2003/86/EG) zu beschränken und den Umstand, dass der Zusammenführende tatsächlich volljährig (geworden) ist, erst bei einer Verlängerung zu berücksichtigen.

26 Die Vorlagefrage zu 1b dient für den Fall, dass es sich bei der Minderjährigkeit in Fällen des Art. 10 Abs. 3 Buchst. a RL 2003/86/EG um eine in der Richtlinie festgelegte Bedingung im Sinne des Art. 16 Abs. 1 Buchst. a RL 2003/86/EG handelt, der Klärung der Anschlussfrage, ob ein im Sinne der Rechtsprechung des Gerichtshofs (EuGH, Urteil vom 12. April 2018 - C-550/16 - Rn. 61) fristgerechter Zusammenführungsantrag deshalb im Einklang mit Art. 16 Abs. 1 Buchst. a RL 2003/86/EG abgelehnt werden kann, weil den nachziehenden Eltern nach nationalem Recht kein eigenständiges Aufenthaltsrecht zusteht.

27 3.2 Vorlagefrage 2 dient gegebenenfalls der Klärung, welche Anforderungen an die tatsächlichen familiären Bindungen im Sinne des Art. 16 Abs. 1 Buchst. b RL 2003/86/EG und deren Überprüfung in einem solchen Fall zu stellen sind.

28 Der Anspruch auf Familienzusammenführung ist nach seinem Sinn und Zweck auf die Herstellung eines tatsächlichen Familienlebens gerichtet. Dies bestätigt die Entstehungsgeschichte der Richtlinie (vgl. etwa die Begründung des ursprünglichen Richtlinienvorschlags der Kommission vom 1. Dezember 1999 <KOM(1999) 638 endgültig> zu Art. 11 Nr. 2, Art. 13 Nr. 1). Es folgt auch aus dem zweiten und sechsten Erwägungsgrund sowie einigen ausdrücklichen Bestimmungen der Richtlinie: So ist die Familienzusammenführung gemäß Art. 2 Buchst. d RL 2003/86/EG auf das Ziel gerichtet, die Familiengemeinschaft aufrechtzuerhalten. Art. 5 Abs. 2 und Art. 11 Abs. 2 RL 2003/86/EG regeln die Anforderungen an den Nachweis des Bestehens familiärer Bindungen. Am deutlichsten ergibt sich das Erfordernis von auch tatsächlichen familiären Bindungen aus Art. 16 Abs. 1 Buchst. b RL 2003/86/EG. Art. 16 RL 2003/86/EG enthält eine abschließende Aufzählung aller Gründe, aus denen ein (erstmaliger) Antrag auf Einreise und Aufenthalt zum Zwecke der Familienzusammenführung abgelehnt, ein bereits erteilter Aufenthaltstitel entzogen oder seine Verlängerung verweigert werden kann (siehe auch Begründung der Kommission zum geänderten Vorschlag für eine Richtlinie des Rates betreffend das Recht auf Familienzusammenführung <KOM(2002) 225 endg.> <ABl. C 203 E S. 136>, zu Art. 16). Die Kommission hat in diesem Zusammenhang das Erfordernis eines tatsächlichen Ehe- oder Familienlebens mit dem Ziel der Familienzusammenführung begründet, das in der "Aufrechterhaltung oder Wiederherstellung der Familiengemeinschaft" bestehe.

29 All dies lässt nach Auffassung des vorlegenden Gerichts erkennen, dass das rein formale Ehe- oder Familienband für sich genommen nicht ausreichend ist, um einen Anspruch auf Familienzusammenführung zu begründen, sondern der Nachzugsantrag auch darauf gerichtet sein muss, in dem Mitgliedstaat, in dem der Zusammenführende sich aufhält, ein tatsächliches Ehe- bzw. hier Familienleben aufzunehmen. Vorlagefrage 2a dürfte daher im letztgenannten Sinne zu beantworten sein; Vorlagefrage 2c dürfte zu bejahen sein.

30 Schwieriger zu beantworten ist aus Sicht des vorlegenden Gerichts die Frage, welche konkreten Anforderungen an ein tatsächliches Familienleben zu stellen sind (Vorlagefrage 2b). Die Bandbreite möglicher tatsächlicher familiärer Bindungen reicht insoweit von gelegentlichen Kontakten bis hin zu einer Beistandsgemeinschaft, bei der die beteiligten Familienmitglieder aufeinander angewiesen sind. Das vorlegende Gericht bittet in diesem Zusammenhang auch um Präzisierung, mit welcher Intensität die Absicht, tatsächliche familiäre Bindungen in dem geforderten Umfang aufzunehmen, vor der erstmaligen Entscheidung über die Familienzusammenführung zu überprüfen ist und ob es dafür eine Rolle spielt, dass das Kind im Zeitpunkt dieser Entscheidung bereits volljährig ist. Für den Fall, dass bei dem Familiennachzug von Eltern zu zusammenführenden minderjährigen Kindern in der Regel ohne weitere Angaben oder Ermittlungen davon auszugehen ist, dass dieser der (Wieder-)Aufnahme eines tatsächlichen Familienlebens im Mitgliedstaat dient, möchte das vorlegende Gericht deshalb insbesondere wissen, ob eine solche "Automatik" gegebenenfalls auch für Eltern gälte, deren Kinder bei der Entscheidung über den Antrag auf Familienzusammenführung bereits volljährig sind, aber - wegen der Vorverlagerung des für die Minderjährigkeit maßgeblichen Zeitpunkts - gleichwohl noch von Art. 10 Abs. 3 Buchst. a RL 2003/86/EG erfasst sind.

31 4. Auch wenn die Voraussetzungen für die Durchführung eines beschleunigten Verfahrens gemäß Art. 105 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs nicht vorliegen dürften, bittet das vorlegende Gericht um eine möglichst beschleunigte Verfahrensbehandlung. Ein gegebenenfalls fortwirkender Minderjährigenschutz verlöre mit weiterem Zeitablauf immer mehr an Bedeutung. Das gilt über das vorliegende Verfahren hinaus in einer Vielzahl von Fällen, in denen sich die hier aufgeworfenen Fragen mit Blick auf die große Zahl der in Deutschland aufhältigen Flüchtlinge stellen und stellen werden. Eine rasche Klärung erscheint daher wünschenswert.

Beschluss vom 23.04.2020 -
BVerwG 1 C 9.19ECLI:DE:BVerwG:2020:230420B1C9.19.0

Elternnachzug zum unbegleiteten minderjährigen Flüchtling

Leitsatz:

Vorabentscheidungsersuchen an den EuGH zur Auslegung von Bestimmungen der Familienzusammenführungsrichtlinie (RL 2003/86/EG), mit dem insbesondere geklärt werden soll, ob beim Nachzug der Eltern zu einem unbegleiteten minderjährigen Flüchtling nach Art. 10 Abs. 3 Buchst. a und Art. 2 Buchst. f RL 2003/86/EG das Fortbestehen der Minderjährigkeit "Bedingung" im Sinne von Art. 16 Abs. 1 Buchst. a RL 2003/86/EG sein kann, so dass bei deren Nichtvorliegen ein Familienzusammenführungsantrag abgelehnt werden kann.

  • Rechtsquellen
    AufenthG § 6 Abs. 3, § 32 Abs. 1, § 36 Abs. 1 und 2,
    RL 2003/86/EG Art. 2 Buchst. d und f, Art. 10 Abs. 3 Buchst. a, Art. 15 Abs. 2, Art. 16 Abs. 1 Buchst. a und b

  • VG Berlin - 01.02.2019 - AZ: VG 15 K 936.17 V

  • Zitiervorschlag

    BVerwG, Beschluss vom 23.04.2020 - 1 C 9.19 - [ECLI:DE:BVerwG:2020:230420B1C9.19.0]

Beschluss

BVerwG 1 C 9.19

  • VG Berlin - 01.02.2019 - AZ: VG 15 K 936.17 V

In der Verwaltungsstreitsache hat der 1. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 23. April 2020
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Berlit, die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Fricke,
den Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Fleuß,
den Richter am Bundesverwaltungsgericht Böhmann und
die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Dr. Wittkopp
beschlossen:

  1. Das Verfahren wird ausgesetzt.
  2. Es wird gemäß Art. 267 AEUV eine Vorabentscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union zu folgenden Fragen eingeholt:
  3. 1a) Kann beim Nachzug zu einem unbegleiteten minderjährigen Flüchtling nach Art. 10 Abs. 3 Buchst. a und Art. 2 Buchst. f der Richtlinie 2003/86/EG des Rates vom 22. September 2003 das Fortbestehen der Minderjährigkeit "Bedingung" im Sinne des Art. 16 Abs. 1 Buchst. a RL 2003/86/EG sein? Ist mit den vorgenannten Bestimmungen eine Regelung eines Mitgliedstaates vereinbar, die nachgezogenen Eltern eines unbegleiteten minderjährigen Flüchtlings im Sinne von Art. 2 Buchst. f RL 2003/86/EG nur so lange ein (abgeleitetes) Aufenthaltsrecht in dem Mitgliedstaat gewährt, wie der Flüchtling tatsächlich noch minderjährig ist?
  4. b) Falls die Fragen 1a) zu bejahen sind: Ist Art. 16 Abs. 1 Buchst. a in Verbindung mit Art. 10 Abs. 3 Buchst. a und Art. 2 Buchst. f RL 2003/86/EG dahin auszulegen, dass es einem Mitgliedstaat, nach dessen Rechtsvorschriften das (abgeleitete) Aufenthaltsrecht der Eltern auf den Zeitraum bis zur Volljährigkeit des Kindes begrenzt ist, erlaubt ist, einen Antrag der noch im Drittstaat aufhältigen Eltern auf Einreise und Aufenthalt zum Zwecke der Familienzusammenführung abzulehnen, wenn der Flüchtling vor der abschließenden Entscheidung über einen innerhalb von drei Monaten nach der Flüchtlingsanerkennung gestellten Antrag im behördlichen oder gerichtlichen Verfahren volljährig geworden ist?
  5. 2. Falls in Beantwortung der Fragen 1 eine Ablehnung der Familienzusammenführung nicht zulässig ist:
  6. Welche Anforderungen sind an die tatsächlichen familiären Bindungen im Sinne des Art. 16 Abs. 1 Buchst. b RL 2003/86/EG in Fällen des Elternnachzuges zu einem Flüchtling zu stellen, der vor der Entscheidung über den Antrag auf Einreise und Aufenthalt zum Zwecke der Familienzusammenführung volljährig geworden ist? Insbesondere:
  7. a) Reicht dafür die Verwandtschaft in gerader aufsteigender Linie ersten Grades (Art. 10 Abs. 3 Buchst. a RL 2003/86/EG) aus oder ist auch ein tatsächliches Familienleben erforderlich?
  8. b) Falls es auch eines tatsächlichen Familienlebens bedarf: Welche Intensität ist dafür erforderlich? Genügen dazu etwa gelegentliche oder regelmäßige Besuchskontakte, bedarf es des Zusammenlebens in einem gemeinsamen Haushalt oder ist darüber hinaus eine Beistandsgemeinschaft erforderlich, deren Mitglieder aufeinander angewiesen sind?
  9. c) Erfordert der Nachzug der Eltern, die sich noch im Drittstaat befinden und einen Antrag auf Familienzusammenführung zu einem als Flüchtling anerkannten, zwischenzeitlich volljährig gewordenen Kind gestellt haben, die Prognose, dass das Familienleben nach der Einreise in der gemäß Frage 2b) geforderten Weise im Mitgliedstaat (wieder) aufgenommen wird?

Gründe

I

1 Die Klägerin begehrt als syrische Staatsangehörige die Erteilung eines nationalen Visums zum Familiennachzug zu ihrem als Flüchtling anerkannten Sohn.

2 Ihr am ... geborener Sohn reiste im Jahr 2015 in die Bundesrepublik Deutschland ein. Auf seinen Asylantrag vom 10. Dezember 2015 erkannte ihm das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) am 15. Juli 2016 die Flüchtlingseigenschaft zu. Die Ausländerbehörde erteilte ihm daraufhin am 15. August 2016 eine für drei Jahre gültige Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 2 AufenthG. Der Sohn lebt mit seinem bei Einreise in die Bundesrepublik Deutschland im Frühjahr 2016 volljährigen Bruder zusammen.

3 Am 4. Oktober 2016 beantragte die Klägerin für sich und drei weitere Kinder (die vormaligen Kläger zu 2, 3 und 4) bei der Botschaft der Bundesrepublik Deutschland in Beirut (Botschaft Beirut) die Erteilung von nationalen Visa zum Zwecke des Familiennachzugs zu ihrem im Bundesgebiet lebenden Sohn.

4 Die Botschaft lehnte die Visaanträge mit Bescheiden vom 2. März 2017 ab. Die Erteilung eines Visums an die Klägerin zum Familiennachzug nach § 36 Abs. 1 AufenthG sei nicht mehr möglich, weil der Sohn am ... volljährig geworden sei. Die Voraussetzungen einer außergewöhnlichen Härte i.S.d. § 36 Abs. 2 AufenthG lägen nicht vor. Die dagegen erhobene Remonstration blieb ohne Erfolg.

5 Auf die Klage der Klägerin hat das Verwaltungsgericht die Beklagte mit Urteil vom 1. Februar 2019 verpflichtet, der Klägerin ein nationales Visum zum Zwecke des Familiennachzugs zu erteilen. Die Beklagte sei nach § 6 Abs. 3 Satz 2 i.V.m. § 36 Abs. 1 AufenthG zur Erteilung des Visums verpflichtet. Die Voraussetzungen lägen vor; insbesondere sei der Sohn unter Zugrundelegung der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union (nachfolgend: Gerichtshof) im Urteil vom 12. April 2018 - C-550/16 [ECLI:​EU:​C:​2018:​248] - als minderjährig zu betrachten.

6 Mit ihrer Sprungrevision rügt die Beklagte eine Verletzung von § 36 Abs. 1 AufenthG. Der Sohn der Klägerin sei zu dem nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung der letzten Tatsacheninstanz (BVerwG, Urteil vom 18. April 2013 - 10 C 9.12 -) kein minderjähriger Flüchtling gewesen. Die Rechtsprechung des Gerichtshofs sei auf den vorliegenden Fall nicht übertragbar, weil eine abschließende Entscheidung nur zu dem Tatbestandsmerkmal der Minderjährigkeit in Art. 10 Abs. 3 Buchst. a RL 2003/86/EG ergangen sei. Nicht entschieden worden sei, ob den Eltern eines volljährig gewordenen Flüchtlings ein Visum zu Einreise und Aufenthalt auch dann zu erteilen sei, wenn sie nach nationalem Recht kein vom minderjährigen Flüchtling unabhängiges Aufenthaltsrecht hätten und sofort wieder ausreisen müssten. Es liege ein anderer Sachverhalt vor, weil der Sohn der Klägerin im vorliegenden Verfahren (auch) bei Flüchtlingsanerkennung noch minderjährig gewesen sei und die Familienzusammenführung unter Inanspruchnahme vorläufigen Rechtsschutzes hätte erreicht werden können. In diesem Fall würde der von der Richtlinie 2003/86/EG nicht begünstigte Nachzug von Verwandten in gerader aufsteigender Linie zu Volljährigen ermöglicht. Der Sohn der Klägerin sei auch nicht unbegleitet, weil er mit dem Bruder zusammenlebe. Nach nationalem Recht wirke die Flüchtlingsanerkennung und die darauf erteilte Aufenthaltserlaubnis nicht auf den Zeitpunkt der Asylantragstellung zurück.

II

7 Der Rechtsstreit ist auszusetzen. Gemäß Art. 267 AEUV ist eine Vorabentscheidung des Gerichtshofs zu den im Beschlusstenor formulierten Fragen einzuholen. Diese Fragen betreffen die Auslegung von Art. 16 Abs. 1 Buchst. a und b der Richtlinie 2003/86/EG des Rates vom 22. September 2003 betreffend das Recht auf Familienzusammenführung (ABl. L 251 S. 12, nachfolgend: RL 2003/86/EG).

8 1. Die rechtliche Beurteilung richtet sich im nationalen Recht nach dem Aufenthaltsgesetz (AufenthG) in seiner aktuellen Fassung der Bekanntmachung vom 25. Februar 2008 (BGBl. I S. 162), zuletzt geändert durch Art. 4b des Dritten Gesetzes zur Änderung des Waffengesetzes und weitere Vorschriften vom 17. Februar 2020 (BGBl. I S. 166).

9 Den danach maßgeblichen rechtlichen Rahmen des Rechtsstreits bilden die folgenden Vorschriften des nationalen Aufenthaltsgesetzes (AufenthG):
§ 6 Visum
(...)
(3) Für längerfristige Aufenthalte ist ein Visum für das Bundesgebiet (nationales Visum) erforderlich, das vor der Einreise erteilt wird. Die Erteilung richtet sich nach den für die Aufenthaltserlaubnis, die Blaue Karte EU, die ICT-Karte, die Niederlassungserlaubnis und die Erlaubnis zum Daueraufenthalt-EU geltenden Vorschriften.
(...)
§ 36 Nachzug der Eltern und sonstiger Familienangehöriger
(1) Den Eltern eines minderjährigen Ausländers, der eine Aufenthaltserlaubnis nach (...), § 25 Absatz 1 oder Absatz 2 Satz 1 erste Alternative, (...) besitzt, ist abweichend von § 5 Absatz 1 Nummer 1 und § 29 Absatz 1 Nummer 2 eine Aufenthaltserlaubnis zu erteilen, wenn sich kein personensorgeberechtigter Elternteil im Bundesgebiet aufhält.
(2) Sonstigen Familienangehörigen eines Ausländers kann zum Familiennachzug eine Aufenthaltserlaubnis erteilt werden, wenn es zur Vermeidung einer außergewöhnlichen Härte erforderlich ist. Auf volljährige Familienangehörige sind § 30 Absatz 3 und § 31, auf minderjährige Familienangehörige ist § 34 entsprechend anzuwenden.
§ 25 Aufenthalt aus humanitären Gründen
(...)
(2) Einem Ausländer ist eine Aufenthaltserlaubnis zu erteilen, wenn das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge die Flüchtlingseigenschaft im Sinne des § 3 Absatz 1 des Asylgesetzes oder subsidiären Schutz im Sinne des § 4 Absatz 1 des Asylgesetzes zuerkannt hat. (...)
(...)

10 2. Die Vorlagefragen sind entscheidungserheblich. Die Klage kann nur Erfolg haben, wenn der Klägerin der geltend gemachte Anspruch in unmittelbarer Anwendung von Art. 10 Abs. 3 Buchst. a der Richtlinie 2003/86/EG des Rates vom 22. September 2003 betreffend das Recht auf Familienzusammenführung (ABl. L 251 S. 12 - RL 2003/86/EG) zusteht. Das hängt von der Beantwortung der Vorlagefragen ab.

11 2.1 Auf der Grundlage des nationalen Rechts hat die Klägerin keinen Rechtsanspruch auf Erteilung eines Visums zum Familiennachzug zu ihrem Sohn.

12 Ein solcher Rechtsanspruch könnte sich nur aus § 36 Abs. 1 AufenthG ergeben, der den Nachzug der Eltern eines minderjährigen Ausländers, der einen qualifizierten Aufenthaltstitel aus humanitären Gründen, insbesondere einen solchen nach einer Anerkennung als Flüchtling besitzt, unabhängig von der Sicherung des Lebensunterhalts und des Bereitstehens ausreichenden Wohnraums regelt, wenn sich kein sorgeberechtigter Elternteil im Bundesgebiet aufhält. Der Nachzug von Eltern zu volljährigen Kindern unterfällt § 36 Abs. 2 AufenthG und kann nur bei Vorliegen einer außergewöhnlichen Härte im Ermessenswege gewährt werden (§ 36 Abs. 2 AufenthG); diese Voraussetzungen sind hinsichtlich der Klägerin bisher tatrichterlich nicht festgestellt.

13 Die Voraussetzungen des § 36 Abs. 1 AufenthG liegen nicht vor. Nach der gefestigten Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts besteht ein Anspruch der Eltern auf Nachzug zu einem minderjährigen Flüchtling nach § 36 Abs. 1 AufenthG nur, wenn das Kind noch im Zeitpunkt der (behördlichen oder tatsachengerichtlichen) Entscheidung über den Antrag auf Familienzusammenführung minderjährig ist. Das Aufenthaltsrecht nachgezogener Eltern ist nach nationalem Recht auf den Zeitraum bis zu dessen Volljährigkeit begrenzt. Dadurch unterscheidet sich der Elternnachzug vom Kindernachzug, der auf Dauer angelegt ist, weil sich die einem Kind erteilte Aufenthaltserlaubnis mit Eintritt der Volljährigkeit zu einem eigenständigen, vom Familiennachzug unabhängigen Aufenthaltsrecht wandelt (§ 34 Abs. 2 AufenthG). Dieses kann verlängert werden, solange die Voraussetzungen für die Erteilung eines unbefristeten Aufenthaltsrechts (nationale Niederlassungserlaubnis oder Erlaubnis zum Daueraufenthalt-EU) noch nicht vorliegen. Nachgezogenen Eltern gewährt das deutsche Recht bei Volljährigkeit des Kindes kein derartiges eigenständiges Aufenthaltsrecht; von der (fakultativen) Ermächtigung in Art. 15 Abs. 2 RL 2003/86/EG hat der Gesetzgeber keinen Gebrauch gemacht (vgl. BVerwG, Urteil vom 18. April 2013 - 10 C 9.12 - BVerwGE 146, 189 Rn. 17 ff.). Eine Verlängerung der ihnen erteilten Aufenthaltserlaubnis bleibt an das Fortbestehen der Voraussetzungen des Nachzugstatbestands (hier: § 36 Abs. 1 AufenthG) gebunden und ist daher nach Eintritt der Volljährigkeit des Kindes nicht mehr möglich. Sie werden daher grundsätzlich ausreisepflichtig, sofern sie nicht zu diesem Zeitpunkt bereits die Voraussetzungen für eine (unbefristete) Niederlassungserlaubnis oder eine Erlaubnis zum Daueraufenthalt-EU nach der Richtlinie 2003/109/EG erfüllen oder selbst internationalen Schutz erhalten haben.

14 Nach diesem Regelungskonzept dient das Nachzugsrecht der Eltern gemäß § 36 Abs. 1 AufenthG dem tatsächlichen Schutz des unbegleiteten minderjährigen Flüchtlings und seinem Interesse an der Familieneinheit mit seinen Eltern, nicht jedoch eigenständigen Interessen der Eltern am Zusammenleben mit dem Kind. Innerer Grund für diesen Elternnachzug ist allein die gesteigerte Betreuungs- und Schutzbedürftigkeit eines minderjährigen Ausländers mit humanitärem Aufenthaltstitel, welche für den Zeitraum ihrer tatsächlichen Fortdauer die Anwesenheit eines zur Personensorge berechtigten Elternteils gebietet. Dieser Zweck erfordert keine Sicherung einer mit der Visumbeantragung - oder noch früher - eröffneten aufenthaltsrechtlichen Perspektive.

15 Eine Auslegung des § 36 Abs. 1 AufenthG dahin, dass sich die Minderjährigkeit des zusammenführenden Flüchtlings anhand des Zeitpunkts seiner Asylantragstellung beurteilt (s. dazu EuGH, Urteil vom 12. April 2018 - C-550/16 -), wäre in Anwendung der allgemein anerkannten Auslegungsregeln selbst dann nicht möglich, wenn Unionsrecht für das Vorliegen des Tatbestandsmerkmals der "Minderjährigkeit" in Art. 2 Buchst. f. i.V.m. Art. 10 Abs. 3 RL 2003/86/EG ein Abstellen auf diesen Zeitpunkt auch unter Berücksichtigung der Besonderheiten der deutschen Rechtslage gebietet. Der Gesetzgeber wollte durch § 36 Abs. 1 AufenthG zwar den Anspruch auf Familiennachzug nach Art. 10 Abs. 3 Buchst. a RL 2003/86/EG abschließend umsetzen (BT-Drs. 16/5065 S. 176). Dieses Motiv ändert indes nichts daran, dass nach der Entstehungsgeschichte und dem Wortlaut, wie sich auch aus dem Merkmal der Nichtanwesenheit eines personensorgeberechtigten Elternteils ergibt, durch diese Regelung der Familiennachzug nur dann und nur so lange zugelassen werden sollte, wie er der Gewährleistung der tatsächlichen Betreuung und Sorge für eine Person dient, die auf diese Sorge ihrem Alter nach noch angewiesen ist. Die Regelung zielt nicht auf eine weitergehende, dauerhafte Zusammenführung von Familienangehörigen in auf- oder absteigender Linie unabhängig von der Wahrnehmung tatsächlicher Sorge und ermöglicht sie auch nicht. Eine (dauerhafte) Fixierung des Zeitpunkts, zu dem die Person, zu der der Familiennachzug erfolgt, als "minderjähriger Ausländer" anzusehen ist, auf einen Zeitpunkt vor der tatsächlichen Volljährigkeit ist der Regelung fremd; dies gilt selbst im Falle einer Vorverlagerung auf den Zeitpunkt der Stellung eines Visumantrages zum Zwecke der Familienzusammenführung, wie sie in den Fällen des Kindernachzugs (§ 32 Abs. 1 AufenthG) angenommen wird (dazu BVerwG, Beschluss vom 23. April 2020 - 1 C 16.19 - Rn. 9 ff.). Einer entsprechenden unionsrechtskonformen Auslegung des nationalen Rechts steht der klare Wille des nationalen Gesetzgebers entgegen.

16 2.2 Von der Beantwortung der Vorlagefragen zu 1 hängt ab, ob der Klägerin der geltend gemachte Anspruch auf Erteilung eines Visums zum Zwecke der Familienzusammenführung in unmittelbarer Anwendung von Art. 10 Abs. 3 Buchst. a RL 2003/86/EG zusteht. Die Voraussetzungen für eine unmittelbare Anwendung der Richtlinienvorschrift lägen vor (vgl. dazu EuGH, Urteil vom 26. Februar 1986 - Rs. 152/84 [ECLI:​EU:​C:​1986:​84], Marshall - Rn. 46 f.): Es handelt sich um eine inhaltlich unbedingte und hinreichend genaue Regelung, die ein Recht des Einzelnen begründet und die der deutsche Gesetzgeber innerhalb der am 3. Oktober 2005 (Art. 20 Abs. 1 RL 2003/86/EG) abgelaufenen Umsetzungsfrist nicht hinreichend in das nationale Recht umgesetzt hätte. Art. 10 Abs. 3 Buchst. a RL 2003/86/EG gibt den Mitgliedstaaten eine präzise positive Verpflichtung auf, der ein klar definiertes Recht gegenübersteht. Danach sind sie in dem darin genannten Fall verpflichtet, die Familienzusammenführung der Verwandten in gerader aufsteigender Linie ersten Grades des Zusammenführenden zu gestatten, ohne dass sie dabei über einen Wertungsspielraum verfügen (vgl. EuGH, Urteil vom 12. April 2018 - C-550/16 - Rn. 43). Art. 10 Abs. 3 Buchst. a RL 2003/86/EG räumt den Mitgliedstaaten insbesondere kein Ermessen bei der Gestattung der Einreise und des Aufenthalts zum Zwecke des Familiennachzuges ungeachtet der in Art. 4 Abs. 2 Buchst. a RL 2003/86/EG genannten Bedingungen ein; die Legaldefinition des "unbegleiteten Minderjährigen" in Art. 2 Buchst. f RL 2003/86/EG eröffnet den Mitgliedstaaten ebenfalls keine Befugnis, die Begriffsbestimmung selbst auszuformen oder den Zeitpunkt zu bestimmen, zu dem die dort genannten Voraussetzungen erfüllt sein müssen.

17 Von der Beantwortung der Vorlagefrage 2 hängt ab, welche Aufklärungsmaßnahmen das Tatsachengericht gegebenenfalls noch zu ergreifen hat, um festzustellen, dass der Familiennachzug auf die (Wieder-)Aufnahme eines tatsächlichen familiären Lebens zielt.

18 Die weiteren, in den Vorlagefragen nicht erwähnten Voraussetzungen für eine Familienzusammenführung unmittelbar auf der Grundlage von Art. 10 Abs. 3 Buchst. a RL 2003/86/EG lägen vor. Der Sohn der Klägerin ist als Flüchtling anerkannt. Er war im Zeitpunkt seiner Einreise und der Stellung seines Antrages auf internationalen Schutz minderjährig und unbegleitet. Dem steht nicht entgegen, dass er seit der Einreise seines volljährigen Bruders im Frühjahr 2016 in das Bundesgebiet mit diesem zusammenlebt. Bei dem Bruder handelt es sich nicht um einen zur Personensorge berechtigten Elternteil (§ 36 Abs. 1 AufenthG) oder einen nach nationalem Recht kraft Gesetzes zur Personensorge berechtigten Angehörigen. Das Verwaltungsgericht hat - den Senat revisionsrechtlich bindend (§ 137 Abs. 2, § 173 VwGO i.V.m. § 293 ZPO) - festgestellt, dass auch nach syrischem Familienrecht der Bruder des Sohnes der Klägerin nicht für diesen personensorgeberechtigt war. Bei dem Bruder handelt es sich auch sonst nicht um einen im Sinne von Art. 2 Buchst. f RL 2003/86/EG nach Gesetz oder Gewohnheitsrecht verantwortlichen Erwachsenen. Die Klägerin hat den Antrag auf Familienzusammenführung durch die Visumantragstellung in der Botschaft Beirut am 4. Oktober 2016 auch innerhalb von drei Monaten nach der durch Bescheid des BAMF vom 15. Juli 2016 erfolgten Zuerkennung der Flüchtlingsanerkennung gestellt (vgl. zu dieser Voraussetzung EuGH, Urteil vom 12. April 2018 - C-550/16 - Rn. 61).

19 3. Die Vorlagefragen bedürfen der Klärung durch den Gerichtshof.

20 3.1 Mit Vorlagefrage 1a soll geklärt werden, ob beim Nachzug eines Elternteils zu einem unbegleiteten minderjährigen Flüchtling der tatsächliche Fortbestand der Minderjährigkeit "Bedingung" im Sinne des Art. 16 Abs. 1 Buchst. a RL 2003/86/EG ist, die von einem Mitgliedstaat für eine positive Entscheidung über einen Antrag auf Einreise und Aufenthalt auch noch im Zeitpunkt dieser Entscheidung verlangt werden kann. Diese Frage stellt sich hier für eine Fallkonstellation, in der - wie nach dem Recht der Bundesrepublik Deutschland - das nationale Recht den Eltern eines minderjährigen Flüchtlings von vornherein einen Familiennachzugsanspruch nur für die Zeit bis zu dessen Volljährigkeit zubilligt und mit dem Eintritt der Volljährigkeit grundsätzlich keinen Fortbestand des Aufenthaltstitels oder dessen Verlängerung unabhängig vom weiteren Vorliegen der Voraussetzungen für die Familienzusammenführung vorsieht.

21 Der Senat hält diese Frage durch das Urteil des Gerichtshofs vom 12. April 2018 - C-550/16 - für die vorliegende Fallkonstellation für nicht abschließend geklärt. Dieses Urteil bindet den Senat, soweit es danach beim Elternnachzug zu einem minderjährigen Flüchtling gemäß Art. 2 Buchst. f in Verbindung mit Art. 10 Abs. 3 Buchst. a RL 2003/86/EG für die Minderjährigkeit auf den Zeitpunkt der Asylantragstellung ankommt. Insoweit sieht das vorlegende Gericht keinerlei Raum für vernünftige Zweifel (vgl. EuGH, Urteil vom 6. Oktober 1982 - Rs. 283/81 [ECLI:​EU:​C:​1982:​335], C.I.L.F.I.T. - Rn. 16), dass diese Auslegung des Unionsrechts auch und erst recht in einem Fall wie dem vorliegenden Geltung beansprucht, in dem der Flüchtling sogar im Zeitpunkt seiner Anerkennung noch minderjährig war.

22 Diese bindende Festlegung des maßgeblichen Zeitpunkts für die Beurteilung der Frage, ob es sich bei dem Zusammenführenden um einen "minderjährigen Flüchtling" handelt, lässt indes die Folgen für die Auslegung und Anwendung der Gründe offen, aus denen die Mitgliedstaaten nach Art. 16 Abs. 1 RL 2003/86/EG einen Antrag auf Einreise und Aufenthalt zum Zwecke der Familienzusammenführung oder dessen Verlängerung ablehnen können. Das Urteil des Gerichtshofs vom 12. April 2018 - C-550/16 - bezieht die Auslegung und Anwendung des Art. 16 RL 2003/86/EG nicht ein; angesichts der zur Beantwortung vorgelegten Frage und der offenbar von der deutschen abweichenden niederländischen Rechtslage war dies auch nicht erforderlich. Der Senat neigt zu der Auffassung, dass Art. 16 Abs. 1 RL 2003/86/EG dahin auszulegen ist, dass mit "Bedingungen" im Sinne von Art. 16 Abs. 1 Buchst. a RL 2003/86/EG nicht allein die in Kapitel IV der Richtlinie genannten allgemeinen Voraussetzungen für die Ausübung des Rechts auf Familienzusammenführung erfasst sind, die in Art. 4 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 RL 2003/86/EG selbst als "Bedingungen" bezeichnet werden. Vielmehr sieht er alle Voraussetzungen eines unionsrechtskonformen Familiennachzugs erfasst, neben den in Art. 6 und 7 Abs. 1 und 2 RL 2003/86/EG benannten "Voraussetzungen für die Ausübung des Rechts auf Familienzusammenführung" bei dem privilegierten Elternnachzug zu einem unbegleiteten minderjährigen Flüchtling also auch dessen Minderjährigkeit. Auch hierbei handelt es sich um eine in der Richtlinie festgelegte Bedingung für den Elternnachzug, die im Zeitpunkt der Entscheidung über den Antrag auf Einreise und Aufenthalt zum Zwecke der Familienzusammenführung hier tatsächlich nicht mehr erfüllt ist. Schon dies bedarf indes der Klärung (Vorlagefrage 1a Satz 1).

23 Wenn es sich bei der "Minderjährigkeit" um eine "Bedingung" im Sinne des Art. 16 Abs. 1 Buchst. a RL 2003/86/EG handelt, bedarf es der Klärung, ob der für die Anwendung des Art. 10 Abs. 3 Buchst a RL 2003/86/EG maßgebliche Zeitpunkt für die Beurteilung der Minderjährigkeit, also jener der Asylantragstellung, auch in dem für die Entscheidung nach Art. 16 Abs. 1 RL 2003/86/EG entscheidend ist. Dann wäre diese Bedingung auch bei einem Zusammenführenden, der im Zeitpunkt der nach Art. 16 Abs. 1 RL 2003/86/EG zu treffenden Entscheidung zwischenzeitlich volljährig geworden ist, unabhängig von dessen tatsächlichem Alter dauerhaft und unveränderlich für die Ersterteilung von Aufenthaltstiteln und deren Verlängerung jedenfalls dann erfüllt, wenn ein Antrag auf Familiennachzug innerhalb von drei Monaten nach der Flüchtlingsanerkennung gestellt worden ist. Der Klärung dieser Frage dient Vorlagefrage 1a Satz 2. Eine dauerhafte "Minderjährigkeitsfiktion" liegt bei Übertragung der Erwägung des Urteils des Gerichtshofs vom 12. April 2018 - C-550/16 - zwar nahe. Klärungsbedürftig ist dies indes für eine nationale Rechtslage, in der der Mitgliedstaat im Rahmen des ihm durch Art. 15 Abs. 2 und 4 RL 2003/86/EG eingeräumten Umsetzungsspielraums, ob und inwieweit nachgezogenen Verwandten in gerader aufsteigender Linie ein eigenständiges Aufenthaltsrecht zu gewähren ist, bewusst davon abgesehen hat, den nachziehenden Eltern nach nationalem Recht ein eigenständiges Aufenthaltsrecht zuzubilligen. Eine für Art. 10 Abs. 3 RL 2003/86/EG begründete "Minderjährigkeitsfiktion", nach der auch für diesen Fall für die Anwendung der Art. 13 ff. RL 2003/86/EG eine tatsächlich eingetretene Volljährigkeit und den damit bewirkten Wegfall der Personensorge- und Betreuungsbedürftigkeit dauerhaft außer Betracht zu bleiben hätte, änderte zwar nichts daran, dass ein hieran anknüpfender Aufenthaltstitel zum Familiennachzug abhängig vom fortdauernden Aufenthalt des (minderjährigen bzw. als minderjährig zu fingierenden) Ausländers wäre. Der Sache nach entstünde aber unabhängig von den in Art. 15 Abs. 2 und 4 RL 2003/86/EG eröffneten Umsetzungsspielräumen auch schon vor dem Ablauf der in Art. 15 Abs. 1 RL 2003/86/EG benannten Frist ein von der tatsächlichen Wahrnehmung der Personensorge für einen unbegleiteten minderjährigen Flüchtling unabhängiges Aufenthaltsrecht der nachziehenden Eltern, bei dem zudem nicht das Erfordernis einer Sicherung des Lebensunterhalts (Art. 4 Abs. 2 Buchst. a RL 2003/86/EG) zu beachten wäre.

24 Weil Art. 16 Abs. 1 RL 2003/86/EG abschließend die Voraussetzungen regelt, unter denen ein Antrag auf Einreise und Aufenthalt zum Zwecke der Familienzusammenführung abgelehnt oder die Verlängerung eines Aufenthaltstitels verweigert werden kann, hält es das vorlegende Gericht auch nicht für möglich, die "Minderjährigkeitsfiktion" auf die Einreise und die erstmalige Erteilung eines Aufenthaltstitels mit mindestens einjähriger Gültigkeitsdauer (Art. 13 Abs. 2 RL 2003/86/EG) zu beschränken und den Umstand, dass der Zusammenführende tatsächlich volljährig (geworden) ist, erst bei einer Verlängerung zu berücksichtigen.

25 b) Die Vorlagefrage zu 1b dient für den Fall, dass es sich bei der Minderjährigkeit in Fällen des Art. 10 Abs. 3 Buchst. a RL 2003/86/EG um eine in der Richtlinie festgelegte Bedingung im Sinne des Art. 16 Abs. 1 Buchst. a RL 2003/86/EG handelt, der Klärung der Anschlussfrage, ob ein im Sinne der Rechtsprechung des Gerichtshofs (EuGH, Urteil vom 12. April 2018 - C-550/16 -, Rn. 61) fristgerechter Zusammenführungsantrag deshalb im Einklang mit Art. 16 Abs. 1 Buchst. a RL 2003/86/EG abgelehnt werden kann, weil den nachziehenden Eltern nach nationalem Recht kein eigenständiges Aufenthaltsrecht zusteht.

26 3.3 Vorlagefrage 2 dient gegebenenfalls der Klärung, welche Anforderungen an die tatsächlichen familiären Bindungen im Sinne des Art. 16 Abs. 1 Buchst. b RL 2003/86/EG und deren Überprüfung in einem solchen Fall zu stellen sind.

27 Der Anspruch auf Familienzusammenführung ist nach seinem Sinn und Zweck auf die Herstellung eines tatsächlichen Familienlebens gerichtet. Dies bestätigt die Entstehungsgeschichte der Richtlinie (vgl. etwa die Begründung des ursprünglichen Richtlinienvorschlags der Kommission vom 1. Dezember 1999 <KOM (1999) 638 endgültig> zu Art. 11 Nr. 2, Art. 13 Nr. 1). Es folgt auch aus dem zweiten und sechsten Erwägungsgrund sowie einigen ausdrücklichen Bestimmungen der Richtlinie: So ist die Familienzusammenführung gemäß Art. 2 Buchst. d RL 2003/86/EG auf das Ziel gerichtet, die Familiengemeinschaft aufrechtzuerhalten. Art. 5 Abs. 2 und Art. 11 Abs. 2 RL 2003/86/EG regeln die Anforderungen an den Nachweis des Bestehens familiärer Bindungen. Am deutlichsten ergibt sich das Erfordernis von auch tatsächlichen familiären Bindungen aus Art. 16 Abs. 1 Buchst. b RL 2003/86/EG. Art. 16 RL 2003/86/EG enthält eine abschließende Aufzählung aller Gründe, aus denen ein (erstmaliger) Antrag auf Einreise und Aufenthalt zum Zwecke der Familienzusammenführung abgelehnt, ein bereits erteilter Aufenthaltstitel entzogen oder seine Verlängerung verweigert werden kann (siehe auch Begründung der Kommission zum geänderten Vorschlag für eine Richtlinie des Rates betreffend das Recht auf Familienzusammenführung <KOM (2002) 225 endg.>, ABl. C-203 E S. 136, zu Art. 16). Die Kommission hat in diesem Zusammenhang das Erfordernis eines tatsächlichen Ehe- oder Familienlebens mit dem Ziel der Familienzusammenführung begründet, das in der "Aufrechterhaltung oder Wiederherstellung der Familiengemeinschaft" bestehe.

28 All dies lässt nach Auffassung des vorlegenden Gerichts erkennen, dass das rein formale Ehe- oder Familienband für sich genommen nicht ausreichend ist, um einen Anspruch auf Familienzusammenführung zu begründen, sondern der Nachzugsantrag auch darauf gerichtet sein muss, in dem Mitgliedstaat, in dem der Zusammenführende sich aufhält, ein tatsächliches Ehe- bzw. hier Familienleben aufzunehmen. Vorlagefrage 2a dürfte daher im letztgenannten Sinne zu beantworten sein; Vorlagefrage 2c dürfte zu bejahen sein.

29 Schwieriger zu beantworten ist aus Sicht des vorlegenden Gerichts die Frage, welche konkreten Anforderungen an ein tatsächliches Familienleben zu stellen sind (Vorlagefrage 2b). Die Bandbreite möglicher tatsächlicher familiärer Bindungen reicht insoweit von gelegentlichen Kontakten bis hin zu einer Beistandsgemeinschaft, bei der die beteiligten Familienmitglieder aufeinander angewiesen sind. Das vorlegende Gericht bittet in diesem Zusammenhang auch um Präzisierung, mit welcher Intensität die Absicht, tatsächliche familiäre Bindungen in dem geforderten Umfang aufzunehmen, vor der erstmaligen Entscheidung über die Familienzusammenführung zu überprüfen ist und ob es dafür eine Rolle spielt, dass das Kind im Zeitpunkt dieser Entscheidung bereits volljährig ist. Für den Fall, dass bei dem Familiennachzug von Eltern zu zusammenführenden minderjährigen Kindern in der Regel ohne weitere Angaben oder Ermittlungen davon auszugehen ist, dass dieser der (Wieder-)Aufnahme eines tatsächlichen Familienlebens im Mitgliedstaat dient, möchte das vorlegende Gericht deshalb insbesondere wissen, ob eine solche "Automatik" gegebenenfalls auch für Eltern gälte, deren Kinder bei der Entscheidung über den Antrag auf Familienzusammenführung bereits volljährig sind, aber - wegen der Vorverlagerung des für die Minderjährigkeit maßgeblichen Zeitpunkts - gleichwohl noch von Art. 10 Abs. 3 Buchst. a RL 2003/86/EG erfasst sind.

30 4. Auch wenn die Voraussetzungen für die Durchführung eines beschleunigten Verfahrens gemäß Art. 105 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs nicht vorliegen dürften, bittet das vorlegende Gericht um eine möglichst beschleunigte Verfahrensbehandlung. Ein gegebenenfalls fortwirkender Minderjährigenschutz verlöre mit weiterem Zeitablauf immer mehr an Bedeutung. Das gilt über das vorliegende Verfahren hinaus in einer Vielzahl von Fällen, in denen sich die hier aufgeworfenen Fragen mit Blick auf die große Zahl der in Deutschland aufhältigen Flüchtlinge stellen und stellen werden. Eine rasche Klärung erscheint daher wünschenswert.

Beschluss vom 20.08.2020 -
BVerwG 1 C 9.19ECLI:DE:BVerwG:2020:200820B1C9.19.0

  • Zitiervorschlag

    BVerwG, Beschluss vom 20.08.2020 - 1 C 9.19 - [ECLI:DE:BVerwG:2020:200820B1C9.19.0]

Beschluss

BVerwG 1 C 9.19

  • VG Berlin - 01.02.2019 - AZ: VG 15 K 936.17 V

In der Verwaltungsstreitsache hat der 1. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 20. August 2020
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Berlit, die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Fricke,
den Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Fleuß,
den Richter am Bundesverwaltungsgericht Böhmann und
die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Dr. Wittkopp
beschlossen:

Der Aussetzungs- und Vorlagebeschluss vom 23. April 2020 wird aufrechterhalten.

Gründe

1 Das Gericht sieht auf die Anfrage des Gerichtshofs der Europäischen Union (Gerichtshof) im Schreiben vom 4. August 2020 auch nach dem Urteil des Gerichtshofs vom 16. Juli 2020 in den verbundenen Rechtssachen C-133/19, C-136/19 und C-137/19 (B.M.M. u.a. ./. État belge) weiterhin Klärungsbedarf hinsichtlich der Vorlagefragen im Beschluss vom 23. April 2020.

2 1. Der vom Gerichtshof nunmehr entschiedene und der vorgelegte Rechtsstreit betreffen unterschiedliche Fallkonstellationen und Normen. Soweit der Gerichtshof in dem genannten Urteil für den Kindernachzug zu einem in einem Mitgliedstaat als Flüchtling anerkannten drittstaatsangehörigen Elternteil feststellt, dass das Alter des Antragstellers (Kindes) nicht als eine materielle Voraussetzung für die Ausübung des Rechts auf Familienzusammenführung angesehen werden kann, sondern (nur) eine Voraussetzung für die Zulässigkeit des Antrags auf Familienzusammenführung darstellt, und deshalb zur Bestimmung, ob ein unverheirateter Drittstaatsangehöriger oder Staatenloser ein minderjähriges Kind ist, auf den Zeitpunkt der Einreichung des Antrags auf Einreise und Aufenthalt zum Zwecke der Familienzusammenführung für ein minderjähriges Kind - und nicht auf den Zeitpunkt der Entscheidung der Behörde über den Antrag - abzustellen ist (Rn. 46 f.), kann daraus aus Sicht des ersuchenden Gerichts zwar möglicherweise geschlossen werden, dass auch beim Elternnachzug zum unbegleiteten minderjährigen Flüchtling nach Art. 10 Abs. 3 und Art. 2 Buchst. f RL 2003/86/EG die Minderjährigkeit keine "Bedingung" im Sinne von Art. 16 Abs. 1 Buchst. a RL 2003/86/EG ist (Vorlagefrage 1a) Satz 1).

3 Die Differenzierung zwischen materiellen Voraussetzungen für den Familiennachzug einerseits und der Minderjährigkeit des Nachziehenden als Zulässigkeitsvoraussetzung für den Antrag andererseits, die in der Richtlinie keinen Niederschlag gefunden hat (vgl. insbesondere Art. 1 der Richtlinie), lässt indes nicht erkennen, inwieweit die Wahrung der Effektivität und Fairness des Verfahrens zur Durchsetzung des Anspruchs und das allgemeine Ziel der Begünstigung der Familienzusammenführung (vgl. Rn. 25 des Urteils) den - mit Volljährigkeit eines Kindes entfallenden - Zweck der Richtlinie, insbesondere den wegen ihrer Minderjährigkeit tatsächlich auf familiären Beistand, Betreuung und Sorge angewiesenen Minderjährigen Schutz zu gewähren (vgl. Rn. 25 des Urteils), unter besonderer Berücksichtigung des Kindeswohls (vgl. Rn. 35 des Urteils), überwiegen. Soweit der Gerichtshof das Abstellen auf den Zeitpunkt der Antragstellung mit den Grundsätzen der Gleichbehandlung und Rechtssicherheit begründet (Rn. 42 des Urteils), hätte dies konsequenterweise dazu führen müssen, dass beim Familiennachzug zu einem Flüchtling nicht auf den Antrag auf Familienzusammenführung, sondern auf den Zeitpunkt der Asylantragstellung durch den Zusammenführenden abzustellen ist. Im Übrigen müssten dann die Folgewirkungen der Festschreibung eines der tatsächlichen Veränderung unterliegenden Tatbestandsmerkmals auch in anderen Bereichen berücksichtigt werden, wenn sie zu einer Ungleichbehandlung führen können. Würde etwa bei einem Antrag auf internationalen Schutz nach der Richtlinie 2011/95/EU allein auf die Verfolgungssituation im Zeitpunkt der Antragstellung abgestellt, könnten Veränderungen (zugunsten oder zuungunsten des Betroffenen) bis zur Entscheidung, bei der eine umfassende Prüfung der Sach- und Rechtslage vorzunehmen ist, keine Berücksichtigung finden.

4 Offenbleibt zudem die Frage, ob eine gemäß Art. 15 Abs. 2 und Art. 4 Abs. 2 RL 2003/86/EG dem Umsetzungsspielraum der Mitgliedstaaten unterfallende nationale Regelung (wie die des § 36 Abs. 1 AufenthG), die ein (abgeleitetes) Aufenthaltsrecht der Eltern nur bis zur Volljährigkeit des Flüchtlings vorsieht, auch dann mit Unionsrecht vereinbar ist, wenn das Alter des Kindes nicht als materielle Voraussetzung für die Ausübung des Rechts auf Familienzusammenführung anzusehen ist (Vorlagefrage 1a) Satz 2). Nicht eindeutig beantwortet ist damit auch die Vorlagefrage 1b), ob es die Auslegung von Art. 16 Abs. 1 Buchst. a in Verbindung mit Art. 10 Abs. 3 Buchst. a und Art. 2 Buchst. f RL 2003/86/EG zulässt, in Anwendung der nationalen Regelung einen Antrag auf Elternnachzug in Ermangelung eines eigenständigen Aufenthaltsrechts abzulehnen, wenn der Flüchtling nach (fristgerechter) Stellung eines Familienzusammenführungsantrages mit den Eltern volljährig geworden ist, weil das nationale Recht nur ein abgeleitetes Aufenthaltsrecht der Eltern bis zur Volljährigkeit des zusammenführenden Kindes vorsieht.

5 2. Das genannte Urteil des Gerichtshofs verhält sich für das ersuchende Gericht ersichtlich auch nicht zu der Vorlagefrage 2., die sich gerade bei Verneinung der Vorlagefragen 1a) und 1b) stellt.

6 3. Entsprechendes gilt für das gleichlautende Vorlageersuchen im Beschluss des Senats vom 23. April 2020 im Verfahren 1 C 10.19 .

Beschluss vom 15.11.2022 -
BVerwG 1 C 15.22ECLI:DE:BVerwG:2022:151122B1C15.22.0

  • Zitiervorschlag

    BVerwG, Beschluss vom 15.11.2022 - 1 C 15.22 - [ECLI:DE:BVerwG:2022:151122B1C15.22.0]

Beschluss

BVerwG 1 C 15.22

  • VG Berlin - 30.01.2019 - AZ: 20 K 538.17 V

In der Verwaltungsstreitsache hat der 1. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 15. November 2022
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Keller
und die Richter am Bundesverwaltungsgericht Dollinger und Böhmann
beschlossen:

  1. Das Revisionsverfahren wird eingestellt.
  2. Die Beklagte trägt die Kosten des Revisionsverfahrens mit Ausnahme der außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen, die diese selbst trägt.
  3. Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Revisionsverfahren auf 10 000 € festgesetzt.

Gründe

1 Die Beklagte hat ihre Revision gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Berlin vom 30. Januar 2019 mit Schriftsatz vom 11. November 2022 zurückgenommen. Das Revisionsverfahren ist deshalb gemäß § 141 Satz 1, § 125 Abs. 1 Satz 1, § 92 Abs. 3 Satz 1 VwGO einzustellen.

2 Die Kostenentscheidung folgt aus § 155 Abs. 2 sowie § 162 Abs. 3 VwGO. Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 47 Abs. 1 Satz 1 i. V. m. § 52 Abs. 1 GKG.

Beschluss vom 17.11.2022 -
BVerwG 1 C 17.22ECLI:DE:BVerwG:2022:171122B1C17.22.0

  • Zitiervorschlag

    BVerwG, Beschluss vom 17.11.2022 - 1 C 17.22 - [ECLI:DE:BVerwG:2022:171122B1C17.22.0]

Beschluss

BVerwG 1 C 17.22

  • VG Berlin - 01.02.2019 - AZ: 15 K 936.17 V

In der Verwaltungsstreitsache hat der 1. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 17. November 2022
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Keller
und die Richter am Bundesverwaltungsgericht Dollinger und Böhmann
beschlossen:

  1. Das Revisionsverfahren wird eingestellt.
  2. Die Beklagte trägt die Kosten des Revisionsverfahrens mit Ausnahme der außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen, die diese selbst trägt.
  3. Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Revisionsverfahren auf 5 000 € festgesetzt.

Gründe

1 Die Beklagte hat ihre Revision gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Berlin vom 1. Februar 2019 mit Schriftsatz vom 10. November 2022 zurückgenommen. Das Revisionsverfahren ist deshalb gemäß § 141 Satz 1, § 125 Abs. 1 Satz 1, § 92 Abs. 3 Satz 1 VwGO einzustellen.

2 Die Kostenentscheidung folgt aus § 155 Abs. 2 sowie § 162 Abs. 3 VwGO. Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 47 Abs. 1 Satz 1 i. V. m. § 52 Abs. 1 GKG.