Verfahrensinformation

Kürzung der Kindertagesstättenförderung wegen Zuzahlungen durch die Eltern?


Die Klägerin ist als Trägerin der freien Jugendhilfe anerkannt und betreibt im Bereich des Beklagten drei Kindertagesstätten mit ca. 400 Betreuungsplätzen. Ihr Konzept sieht eine internationale (bilinguale) frühkindliche bzw. vorschulische Bildung vor, die einen höheren Personal(kosten)einsatz bedingt, als er in anderen Kindertagesstätten üblich ist. Diesen höheren Finanzbedarf deckt die Klägerin nicht durch Fördermittel, sondern durch Zuzahlungen der Eltern. Im Übrigen finanziert sie sich ganz wesentlich durch Leistungsentgelte in Form von Kostenerstattungen des Beklagten.


Das Landesrecht sieht vor, dass die Finanzierung von Tageseinrichtungen der Träger der freien Jugendhilfe auf der Grundlage einer - eine Rechtsverordnung ersetzenden - landesweiten Leistungsvereinbarung zwischen dem Land und den Trägern der freien Jugendhilfe über die zu erbringenden Leistungen und die Höhe der dafür anfallenden Kostenerstattungen erfolgt. Der Beitritt zu der Leistungsvereinbarung ist Voraussetzung der Finanzierung. Die im Streit stehende Leistungsvereinbarung (RV Tag) ist als öffentlich-rechtlicher Vertrag zwischen dem Land und zwei Spitzenverbänden von freien Trägern der Jugendhilfe abgeschlossen worden. Auf dieser Grundlage erstattet der Beklagte den freien Trägern ca. 95 % ihrer Personal- und Sachkosten pro Tageseinrichtungsplatz. Die Klägerin gehört diesen Verbänden nicht an und war an der Aushandlung der Vereinbarung nicht beteiligt. Sie ist aber im Jahr 2006 der RV Tag beigetreten. Änderungen der RV Tag durch die vertragsschließenden Parteien gelten nach dieser mit Wirkung für alle beigetretenen Träger von Einrichtungen. Seit dem 1. September 2018 gilt als Folge einer Änderung der RV Tag, dass freie Träger mit den Eltern nur noch Zuzahlungen von maximal 90 Euro pro Kind und Monat inklusive 30 Euro für Frühstück und Vesper vereinbaren dürfen. Nachdem die Klägerin sich geweigert hatte, dieser Regelung nachzukommen, kürzte der Beklagte die monatlichen Zahlungen an die Klägerin. Ihre Klage und ihre Berufung blieben erfolglos.


Mit der vom Bundesverwaltungsgericht zugelassenen Revision verfolgt die Klägerin ihr Begehren weiter. Sie vertritt insbesondere die - vom Beklagten nicht geteilte - Auffassung, dass Bundesrecht unter dem Gesichtspunkt der Pluralität von Inhalten, Methoden und Arbeitsformen der Jugendhilfe einer Kürzung der landesrechtlich vorgesehenen Kindertagesstättenförderung entgegensteht, wenn Teil der Betreuungskonzeption des freien Trägers ein pädagogisches Konzept ist, das die Erhebung von höheren Zuzahlungen für die Kindertagesbetreuung von den Eltern erfordert.


Pressemitteilung Nr. 75/2023 vom 26.10.2023

Berliner Obergrenze für monatliche Zuzahlungen der Eltern für die Betreuung in Kindertagesstätten unwirksam

Die in Berlin für zusätzliche Leistungen freier Träger von Kindertagesstätten geltende strikte Obergrenze für monatliche Zuzahlungen der Eltern ist mit dem Anspruch der freien Jugendhilfeträger auf gleichheitsgerechte Beteiligung am staatlichen System der Kindertagesstättenfinanzierung unvereinbar (Art. 3 Abs. 1 Grundgesetz -GG - in Verbindung mit den §§ 3 ff. Achtes Buch Sozialgesetzbuch - SGB VIII). Das hat das Bundesverwaltungsgericht in Leipzig heute entschieden.


Die Klägerin ist als Trägerin der freien Jugendhilfe anerkannt und betreibt in Berlin unter anderem drei Kindertagesstätten mit ca. 400 Betreuungsplätzen. Ihr Konzept sieht nach ihren Angaben eine bilinguale frühkindliche bzw. vorschulische Bildung sowie einen höheren Personalschlüssel vor, die einen höheren Aufwand bedingten, als er in anderen Kindertagesstätten üblich sei. Diesen höheren Finanzbedarf hat die Klägerin durch Zuzahlungen der Eltern gedeckt. Seit 2018 ist in Anlage 10 Abs. 6 der Berliner Rahmenvereinbarung über die Finanzierung und Leistungssicherstellung der Tageseinrichtungen (RV Tag) vorgesehen, dass freie Träger mit den Eltern nur noch Zuzahlungen von maximal 90 Euro pro Kind und Monat inklusive 30 Euro für Frühstück und Vesper vereinbaren dürfen. Nachdem die Klägerin dieser Regelung nicht nachgekommen war, kürzte das beklagte Land die ihr zustehende monatliche Betriebskostenerstattung für die erbrachten Betreuungsleistungen. Die hiergegen gerichtete Klage hatte anders als in den Vorinstanzen vor dem Bundesverwaltungsgericht Erfolg.


Vorrangiger bundesrechtlicher Prüfungsmaßstab für die Beurteilung der Finanzierungssysteme der Länder im Bereich der Kindertageseinrichtungen ist, wie das Bundesverwaltungsgericht bereits im Jahr 2010 entschieden hat, der allgemeine Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG). Hierbei ist insbesondere der Grundsatz der Trägerpluralität (§ 3 Abs. 1 SGB VIII) zu beachten. Danach darf bei der Ausgestaltung der Förderung grundsätzlich nicht nach Wertorientierungen oder Inhalten, Methoden und Arbeitsformen der freien Träger differenziert werden. Diese sind vielmehr wegen der ihnen gewährleisteten Autonomie (§ 4 Abs. 1 Satz 2 SGB VIII) befugt, in ihrem pädagogischen Leistungsangebot auch über das hinauszugehen, was Träger der öffentlichen Jugendhilfe oder andere freie Träger für erforderlich halten. Dies schließt das Recht ein, die hierfür notwendigen und nicht durch die öffentliche Förderung abgedeckten Mittel durch Zuzahlungen von Seiten der Eltern zu erheben, wenn ein deren Wunsch- und Wahlrecht (§ 5 Abs. 1 Satz 1 SGB VIII) entsprechender Bedarf besteht.


Die in der RV Tag, die das Bundesverwaltungsgericht als untergesetzliche Rechtsnorm (Normvertrag) eingeordnet hat, vorgesehene strikte Zuzahlungsbegrenzung hält den vor diesem Hintergrund erforderlichen strengen Anforderungen der Verhältnismäßigkeitsprüfung nicht stand. Sie verfolgt zwar einen legitimen Zweck. Denn sie soll der Absicherung der in Berlin eingeführten (weitgehenden) Elternbeitragsfreiheit dienen und zur Verwirklichung von Chancengleichheit bei der Inanspruchnahme von Tagesstättenplätzen die ökonomischen Zugangsschwellen möglichst niedrig halten. Zur Erreichung dieses Zwecks ist sie auch geeignet und erforderlich. Die Regelung erweist sich allerdings als unangemessen, weil sie das vom Bundesgesetzgeber mit einem hohen Rang versehene Rechtsgut der Trägerpluralität bei Überschreiten der Zuzahlungshöchstgrenze ausnahmslos zurücktreten lässt. Sie berücksichtigt nicht, ob der jeweilige Träger zur Verwirklichung seiner gewählten pädagogischen Zielsetzung zwingend auf eigene Einnahmen angewiesen ist, die er durch Zuzahlungen decken will. Ob dies bei belastbaren Erkenntnissen über eine relevante Zahl von Fällen, in denen Tagesstättenplätze durch hohe Zuzahlungen dem chancengleichen Zugang entzogen werden, anders zu bewerten wäre, hatte der Senat nicht zu entscheiden.


Die Unwirksamkeit der Regelung (Anlage 10 Abs. 6 RV Tag) führt auch dazu, dass es an der Rechtsgrundlage für die vom beklagten Land vorgenommene Kürzung der Kostenerstattung (§ 7 Abs. 2 RV Tag) fehlt. Das beklagte Land war daher zur Zahlung einbehaltener Gelder in Höhe von 200.000 Euro an die Klägerin zu verurteilen.


BVerwG 5 C 6.22 - Urteil vom 26. Oktober 2023

Vorinstanzen:

OVG Berlin-Brandenburg, OVG 6 B 13.20 - Urteil vom 19. März 2021 -

VG Berlin, VG 18 K 60.19 - Urteil vom 19. Juni 2020 -


Beschluss vom 31.03.2022 -
BVerwG 5 B 18.21ECLI:DE:BVerwG:2022:310322B5B18.21.0

  • Zitiervorschlag

    BVerwG, Beschluss vom 31.03.2022 - 5 B 18.21 - [ECLI:DE:BVerwG:2022:310322B5B18.21.0]

Beschluss

BVerwG 5 B 18.21

  • VG Berlin - 19.06.2020 - AZ: VG 18 K 60.19
  • OVG Berlin-Brandenburg - 19.03.2021 - AZ: OVG 6 B 13/20

In der Verwaltungsstreitsache hat der 5. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 31. März 2022
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Störmer
und die Richter am Bundesverwaltungsgericht Holtbrügge und Preisner
beschlossen:

  1. Die Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts Berlin-Brandenburg über die Nichtzulassung der Revision gegen sein Urteil vom 19. März 2021 wird aufgehoben.
  2. Die Revision wird zugelassen.
  3. Die Entscheidung über die Kosten des Beschwerdeverfahrens folgt der Kostenentscheidung in der Hauptsache.

Gründe

1 Die Revision gegen das Urteil des Oberverwaltungsgerichts Berlin-Brandenburg vom 19. März 2021 ist nach § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache zuzulassen.

2 Die Revision kann dem Senat Gelegenheit zur Klärung insbesondere der Frage geben, ob § 3 Abs. 1 SGB VIII unter dem Gesichtspunkt der Pluralität von Inhalten, Methoden und Arbeitsformen der Jugendhilfe einer Kürzung der landesrechtlich vorgesehenen Kindertagesstättenförderung entgegensteht, wenn Teil der Betreuungskonzeption des freien Trägers ein pädagogisches Konzept ist, das die Erhebung von höheren Zuzahlungen für die Kindertagesbetreuung von den Eltern erfordert.

Rechtsbehelfsbelehrung


Das Beschwerdeverfahren wird als Revisionsverfahren unter dem Aktenzeichen BVerwG 5 C 6.22 fortgesetzt. Der Einlegung einer Revision durch den Beschwerdeführer bedarf es nicht.
Die Revision ist innerhalb eines Monats nach Zustellung dieses Beschlusses zu begründen. Die Begründung ist bei dem Bundesverwaltungsgericht in Leipzig einzureichen.
Für die Beteiligten besteht Vertretungszwang; dies gilt auch für die Begründung der Revision. Die Beteiligten müssen sich durch Bevollmächtigte im Sinne von § 67 Abs. 4 Satz 3 bis 6 VwGO, § 5 Nr. 6 Alt. 2 RDGEG vertreten lassen.