Verfahrensinformation
Die Beteiligten, zwei örtliche Träger der öffentlichen Jugendhilfe, streiten über die Erstattung von Kosten für Jugendhilfeleistungen in Höhe von ca. 330 000 €, die der Kläger, ein hessischer Landkreis, von Mai 2018 bis Februar 2020 für ein Kind erbracht hat. Zwischen ihnen steht dabei insbesondere im Streit, wer für die Erbringung der Jugendhilfeleistungen nach dem Sozialgesetzbuch Achtes Buch (SGB VIII) örtlich zuständig war. Das Verwaltungsgericht hat die beklagte nordrhein-westfälische Stadt zur Kostenerstattung verurteilt. Es hat zur Begründung angeführt, der Kläger sei zwar ursprünglich zuständig gewesen (§ 86 Abs. 2 Satz 1 Halbs. 1 SGB VIII). Die örtliche Zuständigkeit sei jedoch im Mai 2018 auf die Beklagte übergegangen. Dies folge aus § 86 Abs. 3 SGB VIII i.V.m. § 86 Abs. 2 Satz 2 SGB VIII. Ausschlaggebend hierfür sei die gerichtliche Übertragung des bis dahin bestehenden alleinigen Sorgerechts der im Bezirk des Klägers wohnenden Mutter des Kindes auf das Jugendamt der Beklagten, welches das bei seinem Vater im Bezirk der Beklagten lebende Kind in Obhut genommen hatte. Die Regelung, wonach die bisherige Zuständigkeit bestehen bleibe (§ 86 Abs. 5 Satz 2 Alt. 2 SGB VIII), sei nicht einschlägig. Hiergegen richtet sich die vom Verwaltungsgericht zugelassene und mit Zustimmung des Klägers eingelegte Sprungrevision der Beklagten. Diese macht geltend, aufgrund des Umstands, dass mit dem Entzug des Sorgerechts der Mutter kein Elternteil mehr die Personensorge innegehabt habe, sei es bei der vorherigen Zuständigkeit des Klägers geblieben.
Verfahrensinformation
Die beteiligten Träger der öffentlichen Jugendhilfe streiten über die Erstattung von Jugendhilfekosten, welche die Klägerin in der Zeit von Mai 2017 bis April 2018 getragen hat. Klägerin ist die Landeshauptstadt Stuttgart, wo die Mutter des Hilfeempfängers zu Beginn der Leistung im Jahr 2007 lebte. Die Klägerin macht geltend, sie sei zwar ursprünglich zuständig gewesen. Die örtliche Zuständigkeit für den Jugendhilfefall sei jedoch nach den Regelungen des Sozialgesetzbuchs Achtes Buch (SGB VIII) im Jahr 2017 auf den beklagten bayerischen Landkreis übergegangen, so dass ihn die Erstattungspflicht für den streitigen Zeitraum treffe. Ihre Klage auf Erstattung von Jugendhilfekosten in Höhe von über 98 000 € hat das Verwaltungsgericht als unbegründet abgewiesen, weil der Beklagte für den Jugendhilfefall nicht zuständig geworden sei. Zwar sei nach der Ruhendstellung des Sorgerechts der Mutter seit 2012 im Mai 2017 auch das Ruhen des Sorgerechts des Vaters familiengerichtlich angeordnet worden. In Fällen, in denen die Eltern - wie hier - bereits vor Beginn der Leistung unterschiedliche Aufenthalte gehabt, aber nachträglich beide das Sorgerecht verloren hätten, sei jedoch die Regelung anzuwenden, wonach die Zuständigkeit des bis dahin örtlich zuständigen Jugendhilfeträgers bestehen bleibe (§ 86 Abs. 5 Satz 2 Alt. 2 SGB VIII). Es könne dahinstehen, ob dies derjenige Landkreis sei, in dem der Hilfeempfänger in Obhut genommen wurde, oder derjenige, in dessen Bereich der zunächst noch sorgeberechtigte Vater inhaftiert gewesen sei. Jedenfalls sei es nicht der Beklagte, in dessen Kreisgebiet die nicht mehr sorgeberechtigte Mutter lebe. Hiergegen richtet sich die Revision der Klägerin, die das Verwaltungsgericht mit Zustimmung der Beteiligten wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache als Sprungrevision zugelassen hat.
Pressemitteilung Nr. 24/2024 vom 25.04.2024
Örtliche Zuständigkeit des Jugendhilfeträgers bei vollständigem Verlust des Sorgerechts der getrenntlebenden Eltern
Haben die Eltern eines Kindes zu Beginn und während einer Jugendhilfeleistung ihren jeweiligen gewöhnlichen Aufenthalt in Bezirken verschiedener Jugendhilfeträger und verlieren beide Elternteile das Personensorgerecht, richtet sich die örtliche Zuständigkeit des Jugendhilfeträgers nach dem gewöhnlichen Aufenthalt des Elternteils, bei dem das Kind vor Beginn der Hilfeleistung zuletzt seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte. Dies hat das Bundesverwaltungsgericht in Leipzig heute entschieden.
Der Kläger, ein hessischer Landkreis, begehrt von der beklagten nordrhein-westfälischen Stadt die Erstattung von Jugendhilfekosten in Höhe von etwa 330.000 €. Die Eltern des 2008 geborenen Kindes lebten seit 2012 getrennt. Das Kind verblieb beim Vater im Zuständigkeitsbezirk der beklagten Stadt. 2014 zog die Mutter in den Zuständigkeitsbereich des Klägers um. Nachdem das Familiengericht im Sommer 2017 dem Kindesvater die elterliche Sorge entzogen hatte, nahm das Jugendamt der Beklagten das Kind in Obhut und erbrachte Jugendhilfeleistungen in Form der Heimerziehung. Der Kläger übernahm den Hilfefall in seine Zuständigkeit, weil die zu diesem Zeitpunkt allein sorgeberechtigte Mutter ihren gewöhnlichen Aufenthalt in seinem Zuständigkeitsbereich hatte. Nachdem das Familiengericht im Mai 2018 auch der Mutter das Sorgerecht entzogen hatte, vertrat der Kläger gegenüber der Beklagten erfolglos die Auffassung, diese sei für den Hilfefall wieder zuständig geworden, weil die elterliche Sorge keinem Elternteil zustehe und das Kind vor Beginn der Jugendhilfeleistung seinen gewöhnlichen Aufenthalt beim Vater gehabt habe, der seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Bereich der Beklagten habe. Infolgedessen müsse die Beklagte die im Zeitraum von Mai 2018 bis Februar 2023 entstandenen Jugendhilfekosten erstatten. Das Verwaltungsgericht ist der Auffassung des Klägers gefolgt.
Die hiergegen von der Beklagten mit Zustimmung des Klägers eingelegte Sprungrevision zum Bundesverwaltungsgericht blieb erfolglos. Die örtliche Zuständigkeit des Jugendhilfeträgers richtet sich in einem solchen Fall danach, wo derjenige Elternteil seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat, bei dem das Kind vor Beginn der Hilfeleistung zuletzt seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte (§ 86 Abs. 3 i. V. m. Abs. 2 Satz 2 des Achten Buchs des Sozialgesetzbuchs - SGB VIII). Nicht anwendbar ist die Regelung, die eine statische Zuständigkeit des bisherigen örtlichen Trägers vorsieht (§ 86 Abs. 5 Satz 2 Alt. 2 SGB VIII). Diese Vorschrift regelt zwar auch den Fall, dass keinem der Eltern die elterliche Sorge zusteht. Sie betrifft aber nur - wie sich im Wege der Auslegung ergibt - die in ihrem Satz 1 (§ 86 Abs. 5 Satz 1 SGB VIII) geregelten Fälle, in denen die Eltern nach Beginn der Jugendhilfeleistung verschiedene gewöhnliche Aufenthalte begründen. Nachdem der Gesetzgeber im Jahre 2013 die Zuständigkeitsnorm (§ 86 Abs. 5 Satz 2 SGB VIII) mit Wirkung zum 1. Januar 2014 geändert und dort die Worte "in diesen Fällen" eingefügt hat, nimmt diese Regelung auch dann in vollem Umfang den vorhergehenden Satz 1 in Bezug, wenn keinem Elternteil das Sorgerecht zusteht. Die gegenteilige Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zu § 86 Abs. 5 Satz 2 Alt. 2 SGB VIII in der bis Ende 2013 geltenden Fassung, auf die sich die Beklagte beruft, ist auf die aktuelle Gesetzesfassung nicht übertragbar. Haben die Elternteile bereits bei Beginn und während einer Jugendhilfeleistung verschiedene gewöhnliche Aufenthalte und verliert wie hier auch der zweite Elternteil die Personensorge für das Kind, richtet sich die örtliche Zuständigkeit daher nach dem gewöhnlichen Aufenthalt des Elternteils, bei dem das Kind vor Beginn der Hilfeleistung seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte (§ 86 Abs. 3 i.V.m. Abs. 2 Satz 2 SGB VIII).
In einem ähnlich gelagerten Verfahren des Verwaltungsgerichts München hat das Bundesverwaltungsgericht die vorgenannte Rechtsfrage ebenso entschieden, aber die Entscheidung der Vorinstanz aufgehoben und die Sache zur weiteren Tatsachenaufklärung an diese zurückverwiesen.
BVerwG 5 C 3.23 - Urteil vom 25. April 2024
Vorinstanz:
VG Minden, VG 6 K 861/20 - Urteil vom 14. März 2023 -
BVerwG 5 C 12.22 - Urteil vom 25. April 2024
Vorinstanz:
VG München, VG M 18 K 18.2485 - Urteil vom 08. Juni 2022 -
Urteil vom 25.04.2024 -
BVerwG 5 C 12.22ECLI:DE:BVerwG:2024:250424U5C12.22.0
-
Zitiervorschlag
BVerwG, Urteil vom 25.04.2024 - 5 C 12.22 - [ECLI:DE:BVerwG:2024:250424U5C12.22.0]
Urteil
BVerwG 5 C 12.22
- VG München - 08.06.2022 - AZ: M 18 K 18.2485
In der Verwaltungsstreitsache hat der 5. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
auf die mündliche Verhandlung vom 25. April 2024
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Störmer und
die Richterinnen am Bundesverwaltungsgericht Stengelhofen-Weiß und Dr. Harms sowie
die Richter am Bundesverwaltungsgericht Holtbrügge und Preisner
für Recht erkannt:
- Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Bayerischen Verwaltungsgerichts München vom 8. Juni 2022 aufgehoben. Die Sache wird zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das Bayerische Verwaltungsgericht München zurückverwiesen.
- Die Entscheidung über die Kosten bleibt der Schlussentscheidung vorbehalten.
Gründe
I
1 Die Klägerin (Landeshauptstadt S.) begehrt von dem beklagten bayerischen Landkreis A. die Erstattung von Jugendhilfekosten in Höhe von rund 98 000 €.
2 In der Zeit vom 10. Januar 2007 bis zum 25. April 2018 gewährte die Klägerin zugunsten des am 2. August 2002 geborenen Kindes A. verschiedene Leistungen der Jugendhilfe, insbesondere Hilfe zur Erziehung in Form der Heimerziehung und Eingliederungshilfe. Zum Zeitpunkt der erstmaligen Bewilligung waren die Eltern gemeinsam sorgeberechtigt. Während der Vater sich seit Februar 2006 im Landkreis R. in Haft befand, lebte das Kind bei seiner Mutter im Zuständigkeitsbereich der Klägerin. Im April 2012 ordnete das Familiengericht das Ruhen der Personensorge der Mutter an. Nachdem A. seine bisherige Jugendhilfeeinrichtung verlassen musste, wurde er im Mai 2017 vom Jugendamt L. in Obhut genommen und in der Jugendhilfeeinrichtung M. untergebracht. Das dortige Familiengericht ordnete am 24. Mai 2017 das Ruhen auch der Personensorge des Vaters an. Dieser befand sich zu diesem Zeitpunkt in der Justizvollzugsanstalt H. im Landkreis E. in Haft, die Mutter wohnte in B. im Kreisgebiet des Beklagten. Die Klägerin gewährte die Unterbringung von A. in der Jugendhilfeeinrichtung M. als Eingliederungshilfe nach § 35a SGB VIII und bat zugleich den Beklagten, den Hilfefall zu übernehmen und die ab dem 24. Mai 2017 anfallenden Kosten zu erstatten, was dieser ablehnte. Am 25. April 2018 wurden die Jugendhilfeleistungen wegen der Inhaftierung von A. beendet.
3 Die daraufhin von der Klägerin erhobene Klage auf Erstattung der Kosten für die von ihr in der Zeit vom 24. Mai 2017 bis 25. April 2018 erbrachten Jugendhilfeleistungen in Höhe von 98 056,82 € hat das Verwaltungsgericht als unbegründet abgewiesen. Der geltend gemachte Kostenerstattungsanspruch bestehe nicht, weil der Beklagte nach dem Ruhen des Sorgerechts auch des Vaters für den streitgegenständlichen Jugendhilfefall nicht zuständig geworden sei. Es folge der vom Bayerischen Verwaltungsgerichtshof vertretenen Auffassung, wonach bei der 2. Fallgruppe in § 86 Abs. 5 Satz 2 SGB VIII - fehlendes Sorgerecht bei beiden Elternteilen - lediglich auf das "Bestehen" verschiedener gewöhnlicher Aufenthalte der Elternteile Bezug genommen werde, nicht hingegen auf das "Begründen" verschiedener gewöhnlicher Aufenthalte nach Leistungsbeginn. Dementsprechend bleibe die bisherige örtliche Zuständigkeit eines Jugendhilfeträgers dann als "statische" Zuständigkeit bestehen, wenn die Personensorge für den Hilfebedürftigen - wie hier - keinem Elternteil zustehe und die Elternteile nach Beginn der Leistung verschiedene gewöhnliche Aufenthaltebesäßen. Sei demnach § 86 Abs. 5 Satz 2 Alt. 2 SGB VIII anzuwenden, so könne dahinstehen, ob danach der Landkreis L. oder der E.-Kreis örtlich zuständig geblieben sei, wo der zunächst noch sorgeberechtigte Vater inhaftiert gewesen sei. Jedenfalls sei es nicht der Beklagte, in dessen Kreisgebiet die seit 2012 nicht mehr sorgeberechtigte Mutter lebe.
4 Hiergegen wendet sich die Klägerin mit ihrer Sprungrevision. Sie macht insbesondere geltend, der Beklagte sei mit dem Entzug des Sorgerechts auch des Vaters gemäß § 86 Abs. 2 und 3 SGB VIII für den Jugendhilfefall zuständig geworden. Die gegenteilige Auffassung des Verwaltungsgerichts stehe jedenfalls nach der Neufassung des § 86 Abs. 5 Satz 2 SGB VIII mit Bundesrecht nicht mehr im Einklang.
5 Der Beklagte verteidigt die angegriffene Entscheidung.
II
6 Die nach § 134 VwGO zulässige Sprungrevision ist begründet. Das Verwaltungsgericht hat einen Kostenerstattungsanspruch der Klägerin gegen den Beklagten aus § 89c Abs. 1 Satz 1 des Achten Buches Sozialgesetzbuch - Kinder- und Jugendhilfe - i. d. F. der Bekanntmachung vom 11. September 2012 (BGBl. I S. 2022) - SGB VIII - mit einer seine Entscheidung tragenden Begründung verneint, die mit Bundesrecht (§ 137 Abs. 1 Nr. 1 VwGO) nicht im Einklang steht. Es hat zu Unrecht angenommen, dass die Regelung über die örtliche Zuständigkeit nach § 86 Abs. 5 Satz 2 Alt. 2 SGB VIII anwendbar sei, wenn die Eltern eines Hilfebedürftigen bei Beginn und während der Jugendhilfeleistung unterschiedliche gewöhnliche Aufenthalte besäßen und beide Elternteile nach Beginn der Leistung das Sorgerecht verlören. Die örtliche Zuständigkeit richtet sich in diesem Fall vielmehr nach § 86 Abs. 3 i. V. m. Abs. 2 Satz 2 SGB VIII (1.). Der Senat kann auf der Grundlage der Feststellungen der Vorinstanz aber nicht selbst entscheiden, ob sich das angefochtene Urteil im Ergebnis als richtig erweist (§ 144 Abs. 4 VwGO). Es ist daher aufzuheben und die Sache ist zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das Verwaltungsgericht zurückzuverweisen (§ 144 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 VwGO; 2.).
7 1. Nach § 89c Abs. 1 Satz 1 SGB VIII sind Kosten, die ein örtlicher Träger im Rahmen seiner Verpflichtung nach § 86c SGB VIII aufgewendet hat, von dem örtlichen Träger zu erstatten, der nach dem Wechsel der örtlichen Zuständigkeit zuständig geworden ist. Das Verwaltungsgericht hat einen Kostenerstattungsanspruch der Klägerin nach dieser Regelung unter Verstoß gegen Bundesrecht abgelehnt, soweit es angenommen hat, dass ein Wechsel der örtlichen Zuständigkeit zum Beklagten schon deshalb ausgeschlossen sei, weil sich die örtliche Zuständigkeit des Jugendhilfeträgers in der vorliegenden Fallkonstellation nach § 86 Abs. 5 Satz 2 Alt. 2 SGB VIII richte, wonach jedenfalls nicht der Beklagte für den Jugendhilfefall zuständig geworden sei (a). Auf diesem Bundesrechtsverstoß beruht die Entscheidung des Verwaltungsgerichts (b).
8 a) Haben die Eltern des Kindes zu Beginn und während einer Jugendhilfeleistung ihren jeweiligen gewöhnlichen Aufenthalt in Bezirken verschiedener Jugendhilfeträger und verlieren beide Elternteile das Personensorgerecht, so richtet sich die örtliche Zuständigkeit entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts nach § 86 Abs. 3 i. V. m. Abs. 2 Satz 2 SGB VIII und nicht nach § 86 Abs. 5 Satz 2 Alt. 2 SGB VIII (ebenso das Urteil des Senats vom 25. April 2024 - 5 C 3.23 - Rn. 10 ff.). Nach § 86 Abs. 5 Satz 2 Alt. 2 SGB VIII in der hier maßgeblichen, seit dem 1. Januar 2014 geltenden Fassung des Art. 1 Nr. 5 des Gesetzes vom 29. August 2013 (BGBl. I S. 3464) bleibt die bisherige Zuständigkeit bestehen, "[s]olange in diesen Fällen die Personensorge [...] keinem Elternteil zusteht". Die Zuständigkeitsvorschrift betrifft zwar ebenso wie § 86 Abs. 3 i. V. m. Abs. 2 Satz 2 SGB VIII den Fall, dass die Personensorge keinem Elternteil zusteht. Sie ist aber entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts nicht anwendbar, weil sie sich ausschließlich auf den vorhergehenden Satz 1 und damit auf den - hier nicht festgestellten - Fall bezieht, dass die Eltern nach Beginn der Leistung erstmalig oder erneut verschiedene gewöhnliche Aufenthalte begründen.
9 Bereits der Wortlaut des § 86 Abs. 5 Satz 2 SGB VIII deutet mit den durch das Gesetz vom 29. August 2013 eingefügten Worten "in diesen Fällen" mit erheblichem Gewicht darauf hin, dass nicht nur die erste Fallvariante (gemeinsames Sorgerecht der Eltern; vgl. dazu BVerwG, Urteil vom 21. September 2022 - 5 C 5.21 - Buchholz 436.511 § 86 SGB VIII Nr. 23), sondern auch die zweite Alternative (das Sorgerecht steht keinem Elternteil zu) den vorhergehenden Satz 1 mit sämtlichen Tatbestandsmerkmalen in Bezug nimmt.
10 Dieses Wortlautverständnis wird von der Gesetzessystematik bestätigt. In binnensystematischer Hinsicht spricht bereits die Stellung des Satzes 2 innerhalb des Absatzes 5 dafür, dass er sich insgesamt und umfassend auf die Voraussetzungen des vorangegangenen Satzes 1 bezieht (vgl. BVerwG, Urteil vom 14. November 2013 - 5 C 34.12 - BVerwGE 148, 242 Rn. 24). Das Gleiche gilt für die Stellung des Absatzes 5 innerhalb der Gesamtsystematik des § 86 SGB VIII. § 86 Abs. 5 SGB VIII steht insgesamt in unmittelbarem Bezug zu § 86 Abs. 1 Satz 1 SGB VIII (gemeinsamer gewöhnlicher Aufenthalt der Eltern bei Beginn oder während der Leistung) und kann nicht direkt einer Zuständigkeit nach § 86 Abs. 2 bis 4 SGB VIII (u. a. verschiedene gewöhnliche Aufenthalte der Eltern während des gesamten Leistungszeitraums) nachfolgen. Die in § 86 Abs. 5 Satz 2 SGB VIII angesprochene "bisherige Zuständigkeit" ergibt sich zwingend aus § 86 Abs. 1 Satz 1 SGB VIII (vgl. BVerwG, Urteil vom 21. September 2022 - 5 C 5.21 - Buchholz 436.511 § 86 SGB VIII Nr. 23 Rn. 14, 15 m. w. N.).
11 Auch der in der Gesetzesbegründung (BT-Drs. 17/13531 S. 8) zum Ausdruck kommende Sinn und Zweck des § 86 Abs. 5 Satz 2 SGB VIII streitet für dieses Verständnis. Danach soll die räumliche Nähe zu den Eltern des Kindes oder Jugendlichen oder zum maßgeblichen Elternteil als grundsätzliche Voraussetzung einer wirksamen Unterstützung, die das dem § 86 SGB VIII zugrunde liegende Prinzip der dynamischen Zuständigkeit gewährleisten will, in ausdrücklicher Abkehr von einem vormaligen Normverständnis des Bundesverwaltungsgerichts (vgl. etwa Urteile vom 30. September 2009 - 5 C 18.08 - BVerwGE 135, 58 Rn. 22, vom 9. Dezember 2010 - 5 C 17.09 - Buchholz 436.511 § 86 SGB VIII Kinder- und Jugendhilfegesetz Nr. 12 Rn. 22 und vom 12. Mai 2011 - 5 C 4.10 - BVerwGE 139, 378 Rn. 17) auch dann maßgeblich sein, wenn die Personensorge beiden Elternteilen gemeinsam oder keinem Elternteil zusteht und die Eltern bereits vor oder bei Beginn der Leistung verschiedene gewöhnliche Aufenthalte hatten. § 86 Abs. 5 Satz 2 SGB VIII in der Fassung des Gesetzes vom 29. August 2013 soll dementsprechend ausdrücklich nur die Fälle erfassen, in denen die Elternteile, denen die Personensorge gemeinsam oder beiden nicht zusteht, nach Beginn der Leistung verschiedene gewöhnliche Aufenthalte begründen. Dies wiederum setzt voraus, dass sie vor der zuständigkeitsrelevanten Veränderung des gewöhnlichen Aufenthalts einen - erstmaligen oder erneuten - gemeinsamen gewöhnlichen Aufenthalt im Sinne des § 86 Abs. 1 Satz 1 SGB VIII hatten (vgl. zu Letzterem BVerwG, Urteile vom 14. November 2013 - 5 C 34.12 - BVerwGE 148, 242 Rn. 19 und vom 21. September 2022 - 5 C 5.21 - Buchholz 436.511 § 86 SGB VIII Nr. 23 Rn. 14 f.). Nach der Wertung des Gesetzgebers bietet der aktuelle gewöhnliche Aufenthalt der Eltern nur in diesen Fällen keinen ausreichenden Anknüpfungspunkt für die Bestimmung des zuständigen Jugendhilfeträgers, weshalb nur dann die Rechtsfolge des § 86 Abs. 5 Satz 2 SGB VIII, wonach es bei der bisherigen Zuständigkeit verbleibt, eingreifen soll.
12 Die zur Fallgruppe, dass keinem Elternteil das Sorgerecht zusteht, ergangene Rechtsprechung des Senats zur Auslegung des § 86 Abs. 5 Satz 2 SGB VIII in der bis Ende 2013 anwendbaren Fassung (zuletzt BVerwG, Urteil vom 14. November 2013 - 5 C 34.12 - BVerwGE 148, 242) kann daher nicht auf die aktuelle Fassung der Vorschrift übertragen werden (a. A. VGH München, Urteil vom 10. Februar 2022 - 12 BV 20.21 7 - JAmt 2023, 37). Für die vormalige Gesetzesfassung bleibt sie jedoch weiterhin maßgeblich. Dies ist zum einen aus Gründen der Rechtssicherheit geboten und ergibt sich zum anderen aus dem Umstand, dass sich das Änderungsgesetz vom 29. August 2013 keine Rückwirkung beigemessen hat, sondern erkennbar zukunftsgerichtet ist, weil es erst mit Wirkung zum 1. Januar 2014 in Kraft getreten ist.
13 b) Die Entscheidung des Verwaltungsgerichts beruht auf dieser Verletzung von Bundesrecht. Die Frage, ob das angefochtene Urteil auf der Rechtsverletzung beruht, ist aus der Sicht der Vorinstanz zu beurteilen (vgl. Buchheister, in: Schoch/Schneider, Verwaltungsrecht, Stand Januar 2024, § 137 VwGO Rn. 107). Hier stellt die vom Verwaltungsgericht zu § 86 Abs. 5 Satz 2 Alt. 2 SGB VIII vertretene Rechtsauffassung aus dessen Sicht die tragende Begründung für die Abweisung der Klage dar. Die Entscheidung ist nicht zugleich auf andere Erwägungen gestützt, die das Ergebnis gesondert bzw. selbstständig tragen.
14 2. Der Senat kann auf der Grundlage der tatsächlichen Feststellungen der Vorinstanz allerdings nicht selbst entscheiden, ob sich das angefochtene Urteil im Ergebnis als richtig erweist (§ 144 Abs. 4 VwGO) oder der geltend gemachte Kostenerstattungsanspruch nach § 89c Abs. 1 Satz 1 SGB VIII gegenüber dem Beklagten besteht. Es ist daher aufzuheben und die Sache ist zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das Verwaltungsgericht zurückzuverweisen (§ 144 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 VwGO).
15 Die Anwendbarkeit des § 86 Abs. 5 Satz 2 Alt. 2 SGB VIII setzt voraus, dass die Eltern vor Beginn der Leistung oder zwischenzeitlich danach einen gemeinsamen gewöhnlichen Aufenthalt im Gebiet desselben Jugendhilfeträgers hatten. Dies lässt sich auf der Grundlage der vom Verwaltungsgericht festgestellten Tatsachen nicht entscheiden.
16 Das Verwaltungsgericht hat bereits keine hinreichenden Feststellungen dazu getroffen, wo der Vater seinen gewöhnlichen Aufenthalt zu Beginn der Leistung am 10. Januar 2007 hatte. Es hat zwar angenommen, dies sei am Ort seiner Inhaftierung gewesen, hat dies jedoch nicht in nachvollziehbarer Weise mit Tatsachenfeststellungen unterlegt. Nach § 30 Abs. 3 Satz 2 SGB I, zu dem sich für den hier zu beurteilenden Fall aus dem Achten Buch Sozialgesetzbuch Abweichendes nicht ergibt (§ 37 Satz 1 SGB I), hat jemand seinen gewöhnlichen Aufenthalt dort, wo er sich unter Umständen aufhält, die erkennen lassen, dass er an diesem Ort oder in diesem Gebiet nicht nur vorübergehend verweilt. Zur Begründung eines "gewöhnlichen Aufenthalts" ist ein dauerhafter oder längerer Aufenthalt nicht erforderlich; es genügt vielmehr, dass der Betreffende sich an dem Ort oder in dem Gebiet "bis auf Weiteres" im Sinne eines zukunftsoffenen Verbleibs aufhält und dort den Mittelpunkt seiner Lebensbeziehungen hat (stRspr, vgl. z. B. BVerwG, Urteil vom 7. Juli 2005 - 5 C 9.04 - Buchholz 436.511 § 86 SGB VIII Kinder- und Jugendhilfegesetz Nr. 3 Rn. 14 m. w. N.). Zwar kann - wie der Senat ebenfalls bereits entschieden hat - auch durch einen Zwangsaufenthalt in einer Strafvollzugsanstalt oder Therapieeinrichtung ein gewöhnlicher Aufenthalt begründet werden, wenn sich aus den Umständen des Einzelfalles (wie etwa der voraussichtlichen Dauer der Strafhaft und den sonstigen Lebensumständen des Untergebrachten) ergibt, dass der Betreffende sich dort nicht nur vorübergehend aufhält, sondern nunmehr bis auf Weiteres im Sinne eines zukunftsoffenen Verbleibs den Mittelpunkt seiner Lebensbeziehungen hat (BVerwG, Urteil vom 29. September 2010 - 5 C 21.09 - BVerwGE 138, 48 Rn. 14 m. w. N.). Bedeutsam dafür ist u. a. auch, ob familiäre Bindungen zum bisherigen Aufenthaltsort noch oder nicht (mehr) bestehen (vgl. BVerwG, Urteil vom 4. Juni 1997 - 1 C 25.96 - Buchholz 402.240 § 63 AuslG Nr. 1 S. 3 f.; OVG Münster, Beschluss vom 29. Januar 2020 - 12 A 512.17 - juris Rn. 8 ff., 12 f. m. w. N.). Das Verwaltungsgericht hat weder festgestellt, wie lange sich der Vater des Kindes in der Justizvollzugsanstalt befand, noch ob er etwa familiäre Bindungen zum bisherigen gewöhnlichen Aufenthalt aufrechterhalten hat.
17 Ebenso wenig hat das Verwaltungsgericht Tatsachenfeststellungen dazu getroffen, ob die Eltern des Hilfeempfängers nach Beginn der Hilfeleistung zwischenzeitlich einen gewöhnlichen Aufenthalt innerhalb des Zuständigkeitsbereichs desselben Trägers der öffentlichen Jugendhilfe begründet haben. Deshalb vermag der Senat auf der Grundlage der Tatsachenfeststellungen der Vorinstanz auch nicht auszuschließen, dass zwischenzeitlich eine örtliche Zuständigkeit nach § 86 Abs. 1 Satz 1 SGB VIII begründet worden ist, an die sich wiederum - im Falle einer erneuten Begründung verschiedener gewöhnlicher Aufenthalte und der Entziehung des Sorgerechts beider Elternteile - die Maßgeblichkeit des § 86 Abs. 5 Satz 2 Alt. 2 SGB VIII für die Ermittlung der örtlichen Zuständigkeit anschließen könnte.
18 3. Die Entscheidung über die Kosten des Revisionsverfahrens bleibt der Schlussentscheidung vorbehalten.
Urteil vom 25.04.2024 -
BVerwG 5 C 3.23ECLI:DE:BVerwG:2024:250424U5C3.23.0
Örtliche Zuständigkeit des Jugendhilfeträgers
Leitsatz:
Haben die Eltern des Kindes zu Beginn und während einer Jugendhilfeleistung ihren jeweiligen gewöhnlichen Aufenthalt in Bezirken verschiedener Jugendhilfeträger und verlieren beide Elternteile das Personensorgerecht, so richtet sich die örtliche Zuständigkeit nicht nach § 86 Abs. 5 Satz 2 Alt. 2 SGB VIII, sondern nach § 86 Abs. 3 i. V. m. Abs. 2 Satz 2 SGB VIII.
-
Rechtsquellen
SGB VIII § 86 Abs. 3 i. V. m. Abs. 2 Satz 2, Abs. 5 Satz 2 Alt. 2 -
Instanzenzug
VG Minden - 14.03.2023 - AZ: 6 K 861/20
-
Zitiervorschlag
BVerwG, Urteil vom 25.04.2024 - 5 C 3.23 - [ECLI:DE:BVerwG:2024:250424U5C3.23.0]
Urteil
BVerwG 5 C 3.23
- VG Minden - 14.03.2023 - AZ: 6 K 861/20
In der Verwaltungsstreitsache hat der 5. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
auf die mündliche Verhandlung vom 25. April 2024
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Störmer und die Richterinnen am Bundesverwaltungsgericht Stengelhofen-Weiß und Dr. Harms
sowie die Richter am Bundesverwaltungsgericht Holtbrügge und Preisner
für Recht erkannt:
- Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Verwaltungsgerichts Minden vom 14. März 2023 im Ausspruch über die Zahlung von Prozesszinsen dahin geändert, dass die Beklagte Prozesszinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz aus dem Betrag von 116 674,80 € ab dem 6. April 2020, aus dem weiteren Betrag von 179 106,64 € ab dem 12. September 2022 und aus dem weiteren Betrag von 34 228,69 € ab dem 27. Februar 2023 zu zahlen hat.
- Im Übrigen wird die Revision zurückgewiesen.
- Die Beklagte trägt die Kosten des Revisionsverfahrens.
Gründe
I
1 Der Kläger, ein hessischer Landkreis, begehrt von der beklagten nordrhein-westfälischen Stadt die Erstattung von Jugendhilfekosten in Höhe von etwa 330 000 €.
2 Die Eltern des 2008 geborenen Kindes M. lebten seit 2012 getrennt. Das Kind wohnte im Zuständigkeitsbereich der Beklagten bei seinem Vater, dem das Familiengericht Ende Juni 2017 die elterliche Sorge entzog. Anfang Juli 2017 nahm die Beklagte das Kind in Obhut und erbrachte Jugendhilfeleistungen. Der Kläger übernahm den Hilfefall zum 1. September 2017 in seine Zuständigkeit, weil die nunmehr allein sorgeberechtigte Mutter seit 2014 ihren gewöhnlichen Aufenthalt in seinem Zuständigkeitsbereich hatte. Nachdem das Familiengericht am 2. Mai 2018 auch der Mutter das Sorgerecht entzog, vertrat der Kläger gegenüber der Beklagten erfolglos die Auffassung, diese müsse die entstandenen Jugendhilfekosten erstatten. Sie sei für den Hilfefall wieder zuständig geworden, weil die elterliche Sorge ab dem 2. Mai 2018 keinem Elternteil zugestanden und das Kind vor Beginn der Jugendhilfeleistung seinen gewöhnlichen Aufenthalt beim Vater gehabt habe, der im Zuständigkeitsbereich der Beklagten lebe.
3 Der Kläger hat am 6. April 2020 Leistungs- und Feststellungsklage erhoben. Mit Urteil vom 14. März 2023 hat das Verwaltungsgericht das Verfahren eingestellt, soweit der Kläger die Feststellungsklage zurückgenommen hat. Im Übrigen hat es die Beklagte verurteilt, dem Kläger die im Hilfefall im Zeitraum vom 2. Mai 2018 bis zum 28. Februar 2023 unter Anrechnung vereinnahmten Kindergeldes in Höhe von 12 137,54 € angefallenen Kosten in Höhe von 330 010,13 € zu erstatten und an ihn Prozesszinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz teilweise ab Rechtshängigkeit, teilweise ab Fälligkeit der Hauptforderung zu zahlen. Der Kostenerstattungsanspruch ergebe sich aus § 89c Abs. 1 Satz 1 SGB VIII. Der Kläger habe die Jugendhilfeleistung nach dem Entzug des Sorgerechts der Mutter nach § 86c SGB VIII erbracht. Mit diesem Sorgerechtsentzug sei die Beklagte gemäß § 86 Abs. 2 Satz 2 i. V. m. Abs. 3 SGB VIII wieder zuständiger Jugendhilfeträger geworden, weil die Eltern vor Beginn und während der Hilfeleistung verschiedene gewöhnliche Aufenthalte gehabt hätten und das Kind vor Beginn der Hilfeleistung beim Vater im Zuständigkeitsbereich der Beklagten gelebt habe. Die örtliche Zuständigkeit richte sich in einem solchen Fall nicht nach § 86 Abs. 5 Satz 2 Alt. 2 SGB VIII.
4 Hiergegen macht die Beklagte mit ihrer Sprungrevision geltend, ein Kostenerstattungsanspruch bestehe nicht, weil der Kläger in Anwendung von § 86 Abs. 5 Satz 2 Alt. 2 SGB VIII zuständiger Jugendhilfeträger geblieben sei. Ferner rügt sie die Berechnung der Prozesszinsen.
5 Der Kläger verteidigt das angefochtene Urteil.
II
6 Die nach § 134 VwGO zulässige Sprungrevision hat ganz überwiegend keinen Erfolg. Das Verwaltungsgericht ist zu Recht davon ausgegangen, dass dem Kläger ein Kostenerstattungsanspruch gegen die Beklagte in der geltend gemachten Höhe gemäß § 89c Abs. 1 Satz 1 des Achten Buches Sozialgesetzbuch - Kinder- und Jugendhilfe - i. d. F. der Bekanntmachung vom 11. September 2012 (BGBl. I S. 2022) - SGB VIII - zusteht, weil sich in der vorliegenden Fallkonstellation die örtliche Zuständigkeit des Jugendhilfeträgers nicht nach § 86 Abs. 5 Satz 2 Alt. 2 SGB VIII, sondern nach § 86 Abs. 3 i. V. m. Abs. 2 Satz 2 SGB VIII richtet und die Beklagte daher der zuständige Jugendhilfeträger war (1.). Das angefochtene Urteil verstößt allerdings gegen die entsprechend anzuwendende Regelung des § 291 Satz 1 Halbs. 2 BGB und damit gegen Bundesrecht (§ 137 Abs. 1 Nr. 1 VwGO), soweit das Verwaltungsgericht die Beklagte auch zur Zahlung von Prozesszinsen nach Maßgabe der Fälligkeit der Hauptforderung verurteilt hat (2.), weshalb der Urteilstenor entsprechend abzuändern war.
7 1. Der Kläger hat aus § 89c Abs. 1 Satz 1 SGB VIII einen Anspruch auf Erstattung der Kosten, die ihm in dem Jugendhilfefall im Zeitraum vom 2. Mai 2018 bis zum 28. Februar 2023 entstanden sind. Danach sind Kosten, die ein örtlicher Träger im Rahmen seiner Verpflichtung nach § 86c SGB VIII aufgewendet hat, von dem örtlichen Träger zu erstatten, der nach dem Wechsel der örtlichen Zuständigkeit zuständig geworden ist. Diese Voraussetzungen sind hier erfüllt.
8 Der Kläger hat nach den von der Beklagten nicht angegriffenen und daher den Senat nach § 137 Abs. 2 VwGO bindenden Feststellungen des Verwaltungsgerichts als örtlicher Träger der Jugendhilfe in dem im Streit stehenden Zeitraum zugunsten des Kindes M. Hilfe zur Erziehung erbracht und dafür die Kosten getragen. Er erfüllt auch die weitere Voraussetzung des Erstattungsanspruchs aus § 89c Abs. 1 Satz 1 SGB VIII, weil er diese Kosten für den Jugendhilfefall im Rahmen seiner Verpflichtung nach § 86c SGB VIII aufgewandt hat. Gemäß § 86c Abs. 1 Satz 1 SGB VIII bleibt der bisher zuständige örtliche Träger im Falle eines Wechsels der örtlichen Zuständigkeit so lange zur Gewährung der Leistung verpflichtet, bis der nunmehr zuständige örtliche Träger die Leistung fortsetzt. Zwischen den Beteiligten steht nicht im Streit, dass die Beklagte den Hilfefall im streitgegenständlichen Zeitraum nicht in die eigene Zuständigkeit übernommen und demzufolge in dieser Zeit auch keine Jugendhilfeleistungen erbracht hat. Ihr Streit konzentriert sich vielmehr darauf, ob die Beklagte aufgrund eines Wechsels der örtlichen Zuständigkeit in diesem Zeitraum örtlich zuständig gewesen ist und der Kläger demgemäß die in Rede stehenden Leistungen in Erfüllung einer Verpflichtung nach § 86c Abs. 1 Satz 1 SGB VIII aufgewendet hat. Das ist zu bejahen.
9 a) Der Kläger war ursprünglich gemäß § 86 Abs. 2 Satz 1 SGB VIII örtlich zuständiger Träger der öffentlichen Jugendhilfe. Danach ist, wenn die Elternteile (bei Beginn der Leistung) verschiedene gewöhnliche Aufenthalte (§ 30 Abs. 3 Satz 2 SGB I) haben, der Träger örtlich zuständig, in dessen Bereich der (allein) personensorgeberechtigte Elternteil seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat. Zwar haben die nach § 86 Abs. 2 Satz 1 SGB VIII maßgeblichen Jugendhilfeleistungen entgegen der Annahme des Verwaltungsgerichts nicht bereits mit der Inobhutnahme am 3. Juli 2017 eingesetzt, weil es sich bei dieser nicht um eine Leistung (§ 2 Abs. 2 SGB VIII), sondern um eine andere Aufgabe der Jugendhilfe (§ 2 Abs. 3 Nr. 1 SGB VIII) handelt (vgl. BVerwG, Urteile vom 25. März 2010 - 5 C 12.09 - BVerwGE 136, 185 Rn. 21 ff. und vom 24. Juni 2021 - 5 C 10.19 - BVerwGE 173, 61 Rn. 16 zum Kostenerstattungsanspruch nach § 89b Abs. 1 SGB VIII). Nach den gemäß § 137 Abs. 2 VwGO bindenden tatsächlichen Feststellungen des Verwaltungsgerichts begannen die Jugendhilfeleistungen in Form der Heimerziehung jedoch ebenfalls im Juli 2017. Zu diesem Zeitpunkt hatten die Eltern verschiedene gewöhnliche Aufenthalte. Der nicht (mehr) sorgeberechtigte Vater des Kindes hatte seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Zuständigkeitsbereich der Beklagten, die allein sorgeberechtigte Mutter hatte ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Zuständigkeitsbereich des Klägers. Auf die Aufenthaltsverhältnisse des Kindes kommt es nach § 86 Abs. 2 Satz 1 SGB VIII nicht an.
10 b) Mit dem Entzug des Sorgerechts (auch) der Mutter am 2. Mai 2018 ist die Beklagte örtlich für den Jugendhilfefall zuständig geworden. Das Verwaltungsgericht ist zu Recht davon ausgegangen, dass sich die örtliche Zuständigkeit des Jugendhilfeträgers, wenn die Eltern des Kindes zu Beginn und während einer Jugendhilfeleistung ihren jeweiligen gewöhnlichen Aufenthalt in Bezirken verschiedener Jugendhilfeträger haben und beide Elternteile das Personensorgerecht verlieren, nicht nach § 86 Abs. 5 Satz 2 Alt. 2 SGB VIII (aa), sondern nach § 86 Abs. 3 i. V. m. Abs. 2 Satz 2 SGB VIII richtet (bb).
11 aa) Eine fortbestehende Zuständigkeit des Klägers ergibt sich nicht aus § 86 Abs. 5 Satz 2 Alt. 2 SGB VIII in der hier anwendbaren, seit dem 1. Januar 2014 geltenden Fassung des Art. 1 Nr. 5 des Gesetzes vom 29. August 2013 (BGBl. I S. 3464). Danach bleibt die bisherige Zuständigkeit bestehen, "[s]olange in diesen Fällen die Personensorge [...] keinem Elternteil zusteht". Die Zuständigkeitsvorschrift betrifft zwar ebenso wie § 86 Abs. 3 i. V. m. Abs. 2 Satz 2 SGB VIII den Fall, dass die Personensorge keinem Elternteil zusteht. Sie ist aber nicht anwendbar, weil sie sich - wie das Verwaltungsgericht zu Recht ausgeführt hat - ausschließlich auf den vorhergehenden Satz 1 und damit auf den - hier nicht gegebenen - Fall bezieht, dass die Eltern nach Beginn der Leistung erstmalig oder erneut verschiedene gewöhnliche Aufenthalte begründen.
12 Bereits der Wortlaut des § 86 Abs. 5 Satz 2 SGB VIII deutet mit den durch das Gesetz vom 29. August 2013 eingefügten Worten "in diesen Fällen" mit erheblichem Gewicht darauf hin, dass nicht nur die erste Fallvariante (gemeinsames Sorgerecht der Eltern; vgl. dazu BVerwG, Urteil vom 21. September 2022 - 5 C 5.21 - Buchholz 436.511 § 86 SGB VIII Nr. 23), sondern auch die zweite Alternative (das Sorgerecht steht keinem Elternteil zu) den vorhergehenden Satz 1 mit sämtlichen Tatbestandsmerkmalen in Bezug nimmt.
13 Dieses Wortlautverständnis wird von der Gesetzessystematik bestätigt. In binnensystematischer Hinsicht spricht bereits die Stellung des Satzes 2 innerhalb des Absatzes 5 dafür, dass er sich insgesamt und umfassend auf die Voraussetzungen des vorangegangenen Satzes 1 bezieht (vgl. BVerwG, Urteil vom 14. November 2013 - 5 C 34.12 - BVerwGE 148, 242 Rn. 24). Das Gleiche gilt für die Stellung des Absatzes 5 innerhalb der Gesamtsystematik des § 86 SGB VIII. § 86 Abs. 5 SGB VIII steht insgesamt in unmittelbarem Bezug zu § 86 Abs. 1 Satz 1 SGB VIII (gemeinsamer gewöhnlicher Aufenthalt der Eltern bei Beginn oder während der Leistung) und kann nicht direkt einer Zuständigkeit nach § 86 Abs. 2 bis 4 SGB VIII (u. a. verschiedene gewöhnliche Aufenthalte der Eltern während des gesamten Leistungszeitraums) nachfolgen. Die in § 86 Abs. 5 Satz 2 SGB VIII angesprochene "bisherige Zuständigkeit" ergibt sich zwingend aus § 86 Abs. 1 Satz 1 SGB VIII (vgl. BVerwG, Urteil vom 21. September 2022 - 5 C 5.21 - Buchholz 436.511 § 86 SGB VIII Nr. 23 Rn. 14, 15 m. w. N.).
14 Auch der in der Gesetzesbegründung (BT-Drs. 17/13531 S. 8) zum Ausdruck kommende Sinn und Zweck des § 86 Abs. 5 Satz 2 SGB VIII streitet für dieses Verständnis. Danach soll die räumliche Nähe zu den Eltern des Kindes oder Jugendlichen oder zum maßgeblichen Elternteil als grundsätzliche Voraussetzung einer wirksamen Unterstützung, die das dem § 86 SGB VIII zugrunde liegende Prinzip der dynamischen Zuständigkeit gewährleisten will, in ausdrücklicher Abkehr von einem vormaligen Normverständnis des Bundesverwaltungsgerichts (vgl. etwa Urteile vom 30. September 2009 - 5 C 18.08 - BVerwGE 135, 58 Rn. 22, vom 9. Dezember 2010 - 5 C 17.09 - Buchholz 436.511 § 86 SGB VIII Kinder- und Jugendhilfegesetz Nr. 12 Rn. 22 und vom 12. Mai 2011 - 5 C 4.10 - BVerwGE 139, 378 Rn. 17) auch dann maßgeblich sein, wenn die Personensorge beiden Elternteilen gemeinsam oder keinem Elternteil zusteht und die Eltern bereits vor oder bei Beginn der Leistung verschiedene gewöhnliche Aufenthalte hatten. § 86 Abs. 5 Satz 2 SGB VIII in der Fassung des Gesetzes vom 29. August 2013 soll dementsprechend ausdrücklich nur die Fälle erfassen, in denen die Elternteile, denen die Personensorge gemeinsam oder beiden nicht zusteht, nach Beginn der Leistung verschiedene gewöhnliche Aufenthalte begründen. Dies wiederum setzt voraus, dass sie vor der zuständigkeitsrelevanten Veränderung des gewöhnlichen Aufenthalts einen - erstmaligen oder erneuten - gemeinsamen gewöhnlichen Aufenthalt im Sinne des § 86 Abs. 1 Satz 1 SGB VIII hatten (vgl. zu Letzterem BVerwG, Urteile vom 14. November 2013 - 5 C 34.12 - BVerwGE 148, 242 Rn. 19 und vom 21. September 2022 - 5 C 5.21 - Buchholz 436.511 § 86 SGB VIII Nr. 23 Rn. 14 f.). Nach der Wertung des Gesetzgebers bietet der aktuelle gewöhnliche Aufenthalt der Eltern nur in diesen Fällen keinen ausreichenden Anknüpfungspunkt für die Bestimmung des zuständigen Jugendhilfeträgers, weshalb nur dann die Rechtsfolge des § 86 Abs. 5 Satz 2 SGB VIII, wonach es bei der bisherigen Zuständigkeit verbleibt, eingreifen soll.
15 Die zur Fallgruppe, dass keinem Elternteil das Sorgerecht zusteht, ergangene Rechtsprechung des Senats zur Auslegung des § 86 Abs. 5 Satz 2 SGB VIII in der bis Ende 2013 anwendbaren Fassung (zuletzt BVerwG, Urteil vom 14. November 2013 - 5 C 34.12 - BVerwGE 148, 242) kann daher nicht auf die aktuelle Fassung der Vorschrift übertragen werden (a. A. VGH München, Urteil vom 10. Februar 2022 - 12 BV 20.21 7 - JAmt 2023, 37). Für die vormalige Gesetzesfassung bleibt sie jedoch weiterhin maßgeblich. Dies ist zum einen aus Gründen der Rechtssicherheit geboten und ergibt sich zum anderen aus dem Umstand, dass sich das Änderungsgesetz vom 29. August 2013 keine Rückwirkung beigemessen hat, sondern erkennbar zukunftsgerichtet ist, weil es erst mit Wirkung zum 1. Januar 2014 in Kraft getreten ist.
16 bb) Die örtliche Zuständigkeit wechselte mit dem Entzug des Sorgerechts der Mutter am 2. Mai 2018 gemäß § 86 Abs. 3 und Abs. 2 Satz 2 SGB VIII auf die Beklagte. Danach richtet sich, wenn die Elternteile verschiedene gewöhnliche Aufenthalte haben und die Personensorge keinem Elternteil zusteht, die (örtliche) Zuständigkeit nach dem gewöhnlichen Aufenthalt des Elternteils, bei dem das Kind oder der Jugendliche vor Beginn der Leistung zuletzt seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte. Hier hatten die Eltern nach den bindenden tatsächlichen Feststellungen des Verwaltungsgerichts bei Beginn und während der Leistung verschiedene gewöhnliche Aufenthalte und die Personensorge stand ab dem 2. Mai 2018 keinem Elternteil zu. Ferner hatte das Kind seinen gewöhnlichen Aufenthalt vor Beginn der Leistung zuletzt bei seinem Vater, der seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Zuständigkeitsbereich der Beklagten hat.
17 c) Die Beteiligten gehen in Übereinstimmung mit dem Verwaltungsgericht davon aus, dass dem Kläger im Zeitraum vom 2. Mai 2018 bis zum 28. Februar 2023 für die im vorliegenden Hilfefall rechtmäßig erbrachten Jugendhilfeleistungen Kosten in Höhe von insgesamt 342 147,67 € entstanden sind, von denen nur das von dem Kläger vereinnahmte Kindergeld in Höhe von 12 137,54 € abzuziehen ist, sodass ein Betrag von 330 010,13 € verbleibt.
18 2. Der Anspruch auf Zahlung von Prozesszinsen folgt aus der entsprechenden Anwendung von § 288 Abs. 1 Satz 2, § 291 BGB. Danach hat der Schuldner eine Geldschuld von dem Eintritt der Rechtshängigkeit an mit fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz zu verzinsen. Das Verwaltungsgericht hat zu Recht dem Grunde nach Prozesszinsen zuerkannt. Sein Ausspruch verstößt allerdings insoweit gegen Bundesrecht, als er in entsprechender Anwendung von § 291 Satz 1 Halbs. 2 BGB Prozesszinsen nach Maßgabe der Fälligkeit der Hauptforderung zuspricht. Dies setzt, wie der Wortlaut der Vorschrift ("erst später fällig") belegt und wovon auch das Verwaltungsgericht ausgegangen ist, voraus, dass die Geldschuld zuvor rechtshängig geworden ist. Rechtshängig wird eine Geldforderung durch Geltendmachung eines bezifferten Geldbetrags im Rahmen einer Leistungsklage (BVerwG, Urteil vom 28. Juni 1995 - 11 C 22.94 - BVerwGE 99, 53 <54 f.>). Die Erhebung einer Feststellungsklage, auf die sich das Verwaltungsgericht stützt, reicht hingegen regelmäßig nicht aus (vgl. BGH, Urteil vom 19. Dezember 1984 - IVb ZR 51/83 - BGHZ 93, 183 <186>; Seichter, in: Herberger/Martinek/Rüßmann/Weth/Würdinger, jurisPK-BGB, § 291 Rn. 9, Stand April 2024). Ein in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts insoweit anerkannter Ausnahmefall (vgl. BVerwG, Urteil vom 22. Februar 2001 - 5 C 34.00 - BVerwGE 114, 61 <62 f.>) liegt nicht vor. Demgemäß sind hier Prozesszinsen ab schriftsätzlicher Geltendmachung einer jeweils bezifferten Hauptforderung im Rahmen der erhobenen Leistungsklage am 6. April 2020 (121 016,34 €), am 12. September 2022 (weitere 185 745,64 €) und am 27. Februar 2023 (weitere 35 385,69 €) unter Anrechnung des für den jeweiligen Leistungszeitraum vereinnahmten Kindergeldes (2. Mai 2018 bis 29. Februar 2020: 4 341,54 €, 1. März 2020 bis 30. September 2022: 6 639 € und 1. Oktober 2022 bis 28. Februar 2023: 1 157 €) zuzusprechen.
19 3. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2, § 155 Abs. 1 Satz 1 und 3, § 188 Satz 2 Halbs. 2 VwGO.