Pressemitteilung Nr. 43/2025 vom 05.06.2025

Gemeinsame Erklärung der Präsidentinnen und Präsidenten der Verwaltungsgerichtshöfe und Oberverwaltungsgerichte der Länder und des Präsidenten des Bundesverwaltungsgerichts zur geplanten Verlagerung des Rechtswegs in verwaltungsrechtlichen Streitigkeiten auf die Sozialgerichtsbarkeit

Die Präsidentinnen und Präsidenten der Verwaltungsgerichtshöfe und Oberverwaltungsgerichte der Länder und des Bundesverwaltungsgerichts sprechen sich mit Nachdruck gegen die im Koalitionsvertrag "Verantwortung für Deutschland" zwischen CDU, CSU und SPD verlautbarte Absicht aus, die Rechtsgebiete Wohngeld, BAföG, Unterhaltsvorschuss sowie Kinder- und Jugendhilfe nach dem SGB VIII der Zuständigkeit der Sozialgerichtsbarkeit zuzuordnen (Zeilen 473 - 475 des Koalitionsvertrags). Der Rechtsschutz ist weiterhin durch die Verwaltungsgerichtsbarkeit sicherzustellen. Eine Verlagerung der Zuständigkeit auf die Sozialgerichtsbarkeit ist nicht sachgerecht.


Bei den Rechtsgebieten Kinder- und Jugendhilfe, Wohngeld, BAföG und Unterhaltsvorschuss handelt es sich um Kernmaterien der Verwaltungsgerichtsbarkeit. Verwaltungsgerichte gewährleisten in diesen Streitigkeiten seit jeher den erforderlichen effektiven und kurzfristigen Rechtsschutz und werden den Bedürfnissen der Rechtsschutzsuchenden gerecht. Durch diese jahrzehntelange Entscheidungspraxis sind in der Verwaltungsgerichtsbarkeit sowohl ein besonderes Fachwissen als auch die notwendigen Strukturen für eine zügige und angemessene Bearbeitung der Verfahren vorhanden. Hingegen gibt es keine sachliche Begründung für die geplante Zuweisung der genannten Rechtsgebiete zu den Sozialgerichten.


Eine derartige Verlagerung würde ohne Mehrwert bewährte Strukturen zerschlagen und zur Preisgabe der vorhandenen Expertise führen. Außerdem hätte eine Zuständigkeitsverlagerung - worauf bereits der Bund Deutscher Verwaltungsrichter und Verwaltungsrichterinnen in seiner Stellungnahme vom 11. April 2025 hingewiesen hat - erhebliche personelle und finanzielle Folgen, weil sowohl bei Behörden als auch bei Gerichten ein großer bürokratischer Umstellungs- und Einarbeitungsaufwand anfallen würde. Das Fachwissen müsste in der Sozialgerichtsbarkeit vollständig neu aufgebaut werden. Das im Koalitionsvertrag formulierte Ziel, (gerichtliche) Verfahrensdauern generell erheblich zu verkürzen (vgl. Zeilen 2039 - 2040 des Koalitionsvertrags), würde durch die geplante Rechtswegzuweisung konterkariert. Nach den aktuellsten verfügbaren Zahlen des Statistischen Bundesamts (für 2023) dauert ein nicht asylrechtliches Klageverfahren vor den Verwaltungsgerichten im Durchschnitt 14,8 Monate und ein nicht asylrechtliches Berufungs- bzw. Berufungszulassungsverfahren vor den Oberverwaltungsgerichten im Durchschnitt 13,8 Monate. Klageverfahren vor den Sozialgerichten dauern dagegen im Durchschnitt 17,9 Monate und Berufungsverfahren vor den Landessozialgerichten 19,1 Monate. Auch den berechtigten Interessen der Bürgerinnen und Bürgern an einem einfacheren Zugang zu diesen Leistungen wäre nicht gedient.


Die Rechtsgebiete Kinder- und Jugendhilfe, Wohngeld, BAföG und Unterhaltsvorschuss unterscheiden sich zudem strukturell und hinsichtlich der Zielrichtung von den typischerweise von den Sozialgerichten bearbeiteten Angelegenheiten der - beitragsfinanzierten - Sozialversicherung. Von der nunmehr beabsichtigten Zuständigkeitsübertragung wären nicht nur individuelle Leistungsansprüche betroffen, sondern auch die Eingriffsverwaltung, für die klassischerweise die Verwaltungsgerichtsbarkeit zuständig ist. Dies gilt etwa für die Inobhutnahme von Kindern und Jugendlichen zum Schutz vor Gefährdung nach § 42 SGB VIII, bei der es sich um eine Gefahrenabwehrmaßnahme handelt, die strukturell Maßnahmen auf dem Gebiet des allgemeinen Polizei- und Ordnungsrechts vergleichbar ist. Die vorläufige Inobhutnahme, Altersfeststellung und Verteilung unbegleiteter ausländischer Minderjähriger (§§ 42a bis 42f SGB VIII) hat eine enge Verbindung zum Ausländerrecht. Allein die Verwaltungsgerichtsbarkeit verfügt über die notwendige Expertise und Verfahrenspraxis bei Streitigkeiten der klassischen Leistungs- und Eingriffsverwaltung, um die es sich bei den genannten Materien gerade handelt.


Für die in der Stellungnahme des Deutschen Sozialgerichtstags e. V. vom 5. Mai 2025 aufgestellte Behauptung, der Gesetzgeber habe sich im Jahr 2005 "dafür entschieden, die Zuständigkeit für das gesamte Sozialrecht den Sozialgerichten zuzuweisen", gibt es keine Grundlage. Die damit offenbar angesprochene Verlagerung der Zuständigkeit für die Sozialhilfe und das Asylbewerberleistungsrecht zu den Sozialgerichten zum Beginn des Jahres 2005 war bereits damals eine systemwidrige Fehlentscheidung. Der Gesetzgeber täte gut daran, den damaligen Systembruch bei den nun in Rede stehenden ebenfalls steuerfinanzierten Sozialleistungen nicht zu wiederholen.