Verfahrensinformation
Anforderungen an die Kausalität zwischen Krankheit und mangelnder Sicherung des Lebensunterhalts
Die Kläger, zwei miteinander verheiratete serbische Staatsangehörige, halten sich seit dem Jahr 1995 im Bundesgebiet auf. Die Klägerin des Verfahrens BVerwG 1 C 17.24 begehrt die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach Abschnitt 5 des Kapitels 2 des Aufenthaltsgesetzes für einen zurückliegenden Zeitraum. Gemeinsam mit ihrem Ehemann sucht sie zudem in dem Verfahren BVerwG 1 C 16.24 um die Erteilung von Niederlassungserlaubnissen nach.
Mit den in den Revisionsverfahren angegriffenen Urteilen hat das Oberverwaltungsgericht den Beklagten verpflichtet, der Klägerin rückwirkend eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25b Abs. 4 i.V.m. Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 bis 5 AufenthG zu erteilen und über den Antrag der Klägerin auf Erteilung einer Niederlassungserlaubnis nach § 26 Abs. 4 Satz 1 und 2 AufenthG neu zu entscheiden, eine Verpflichtung des Beklagten, dem Kläger eine Niederlassungserlaubnis zu erteilen, hingegen abgelehnt.
Gegenstand der gegen diese Urteile eingelegten Revisionen sind unter anderem die Anforderungen an das in § 25b Abs. 3 und § 9 Abs. 2 Satz 3 AufenthG verankerte Kausalitätskriterium. Danach ist unter anderem von dem Erfordernis der Lebensunterhaltssicherung abzusehen, wenn der Ausländer dieses wegen einer körperlichen, geistigen oder seelischen Krankheit oder Behinderung nicht erfüllen kann. Das Bundesverwaltungsgericht wird zu klären haben, ob in der Vergangenheit liegende weitere (Mit-)Ursachen für die mangelnde Lebensunterhaltssicherung die Anwendung der Ausnahmeregelung auszuschließen vermögen oder es, wie es das Oberverwaltungsgericht entschieden hat, hinreichend ist, dass der Ausländer die Voraussetzung der Lebensunterhaltssicherung im maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt wegen einer körperlichen, geistigen oder seelischen Krankheit oder Behinderung nicht erfüllen kann.
Pressemitteilung Nr. 67/2025 vom 25.09.2025
Keine Einbeziehung weiterer Ursachen bei der Beurteilung der Unmöglichkeit der überwiegenden Lebensunterhaltssicherung wegen Krankheit
Ist von der Voraussetzung der überwiegenden Sicherung des Lebensunterhalts für die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25b AufenthG wegen einer Erkrankung des Ausländers abzusehen, kommt es nicht darauf an, dass er den Lebensunterhalt auch aus anderen Gründen nicht sichern kann. Dies hat das Bundesverwaltungsgericht in Leipzig heute entschieden.
Die Klägerin, eine serbische Staatsangehörige, ist vollständig und dauerhaft erwerbsgemindert. Ihren Antrag auf Verlängerung ihrer humanitären Aufenthaltserlaubnis nach § 25b Abs. 4 i. V. m. Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 bis 5 AufenthG für einen Zeitraum in der Vergangenheit hat der Beklagte abgelehnt. Das Verwaltungsgericht hat die Klage abgewiesen, da die mangelnde überwiegende Sicherung des Lebensunterhalts nicht maßgeblich auf die Erkrankung der Klägerin zurückzuführen sei. Das Oberverwaltungsgericht hat den Beklagten verpflichtet, der Klägerin eine Aufenthaltserlaubnis auf der genannten Grundlage zu erteilen. Der 1. Revisionssenat des Bundesverwaltungsgerichts hat der hiergegen eingelegten Revision des Beklagten stattgegeben.
Allerdings hat das Oberverwaltungsgericht im Einklang mit § 25b Abs. 4 Satz 2 i. V. m. Abs. 3 AufenthG festgestellt, dass von der Voraussetzung der überwiegenden Sicherung des Lebensunterhalts durch Erwerbstätigkeit im Sinne des § 25b Abs. 4 Satz 1 i. V. m. Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AufenthG abzusehen ist, wenn der Ausländer sie wegen einer körperlichen, geistigen oder seelischen Krankheit oder Behinderung oder aus Altersgründen nicht erfüllen kann. Die Kausalität im Sinne des § 25b Abs. 3 AufenthG ist nicht im Rahmen einer Gesamtbetrachtung unter Einbeziehung weiterer Ursachen einer gegenwärtigen oder früheren Unfähigkeit zur Sicherung des Lebensunterhalts zu bestimmen; entscheidend ist allein, ob die Krankheit, Behinderung oder Altersgründe bezogen auf den maßgeblichen Erteilungszeitraum ursächlich dafür sind, dass der Ausländer seinen Lebensunterhalt nicht überwiegend durch Erwerbstätigkeit sichern kann. Dieses durch Wortlaut und Zweck des § 25b Abs. 3 AufenthG geprägte Normverständnis steht im Einklang mit der Auslegung, die die in weiten Teilen wortgleichen Bestimmungen des § 10 Abs. 6 Satz 1 StAG und des § 9 Abs. 2 Satz 6 AufenthG in der höchst- und obergerichtlichen Rechtsprechung erfahren haben.
Unter Verstoß gegen § 25b Abs. 4 Satz 1 i. V. m. Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AufenthG ist das Oberverwaltungsgericht indessen davon ausgegangen, dass sich der Beklagte an der vormaligen Annahme des Besitzes von Grundkenntnissen der Rechts- und Gesellschaftsordnung und der Lebensverhältnisse im Bundesgebiet in Bezug auf die Klägerin festhalten lassen muss. Da das Bundesverwaltungsgericht als Revisionsgericht an der Feststellung des Vorliegens dieser Regelintegrationsvoraussetzung oder eines Absehens hiervon gehindert ist, hat es das angefochtene Urteil aufgehoben und die Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das Oberverwaltungsgericht zurückverwiesen.
BVerwG 1 C 17.24 - Urteil vom 25. September 2025
Vorinstanzen:
VG Oldenburg, VG 11 A 1056/19 - Urteil vom 05. Juni 2023 -
OVG Lüneburg, OVG 13 LC 166/23 - Urteil vom 30. Mai 2024 -
Urteil vom 25.09.2025 -
BVerwG 1 C 17.24ECLI:DE:BVerwG:2025:250925U1C17.24.0
Kausalität von Krankheit, Alter oder Behinderung für mangelnde Sicherung des Lebensunterhalts
Leitsatz:
Ein Absehen von den Voraussetzungen des § 25b Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 und 4 AufenthG erfordert gemäß § 25b Abs. 3 AufenthG, dass Krankheit, Behinderung oder Altersgründe kausal dafür sind, dass der Ausländer nicht in der Lage ist, den Lebensunterhalt überwiegend durch Erwerbstätigkeit zu sichern. Eine solche Kausalität greift unabhängig davon Platz, ob der Ausländer auch aus anderen Gründen an der Ausübung einer Erwerbstätigkeit gehindert ist oder war.
-
Rechtsquellen
AufenthG § 5 Abs. 1 Nr. 1 und 4, Abs. 3 Satz 2, § 25b Abs. 1, 3 und 4, § 48 Abs. 3 Satz 1 -
Instanzenzug
VG Oldenburg - 05.06.2023 - AZ: 11 A 1056/19
OVG Lüneburg - 30.05.2024 - AZ: 13 LC 166/23
-
Zitiervorschlag
BVerwG, Urteil vom 25.09.2025 - 1 C 17.24 - [ECLI:DE:BVerwG:2025:250925U1C17.24.0]
Urteil
BVerwG 1 C 17.24
- VG Oldenburg - 05.06.2023 - AZ: 11 A 1056/19
- OVG Lüneburg - 30.05.2024 - AZ: 13 LC 166/23
In der Verwaltungsstreitsache hat der 1. Senat des Bundesverwaltungsgerichts auf die mündliche Verhandlung vom 25. September 2025 durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Keller, die Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Fleuß, Dollinger und Böhmann und die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Fenzl für Recht erkannt:
- Das Revisionsverfahren wird eingestellt, soweit die Klägerin die Revision zurückgenommen hat.
- Auf die Revision des Beklagten wird das Urteil des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts vom 30. Mai 2024 aufgehoben.
- Die Sache wird zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das Niedersächsische Oberverwaltungsgericht zurückverwiesen.
- Die Entscheidung über die Kosten bleibt der Schlussentscheidung vorbehalten.
Gründe
I
1 Die Klägerin begehrt die Verpflichtung des Beklagten zur Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis für einen zurückliegenden Zeitraum.
2 Die im März 1974 geborene Klägerin ist serbische Staatsangehörige und gehört dem Volk der Roma an. Aus der Ehe mit einem Landsmann sind fünf zwischenzeitlich volljährige Kinder hervorgegangen.
3 Die Klägerin reiste Mitte der Neunziger Jahre in das Bundesgebiet ein. Ein Asyl- und ein Asylfolgeantrag blieben ohne Erfolg. Im Januar 2009 erteilte der Beklagte ihr auf der Grundlage des § 104a AufenthG eine Aufenthaltserlaubnis auf Probe, die zuletzt bis Ende 2015 verlängert wurde.
4 Im November 2015 beantragte die Klägerin bei dem Beklagten die Erteilung einer Niederlassungserlaubnis, hilfsweise die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25b AufenthG, weiter hilfsweise die Verlängerung ihrer bisherigen Aufenthaltserlaubnis. Im September 2016 hat der Beklagte der Klägerin eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25b Abs. 4 AufenthG, befristet bis zum 26. September 2017, erteilt. Mit Wirkung vom März 2019 wurde bei der Klägerin eine Pflegebedürftigkeit mit dem Pflegegrad 3 festgestellt. Mit Bescheid vom 18. April 2019 hat der Beklagte den Antrag der Klägerin auf Verlängerung ihrer Aufenthaltserlaubnis und auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis auf anderer Rechtsgrundlage abgelehnt. In der Folge ist ihr Aufenthalt geduldet worden. Im April 2022 sind die Klägerin und ihr Ehemann auf ihren Antrag hin als Pflegepersonen mit den Rechten und Pflichten aus § 1630 Abs. 3 BGB für drei in den Jahren 2008, 2014 und 2016 geborene Enkelkinder und einen im Jahr 2017 geborenen Neffen, der die deutsche Staatsangehörigkeit besitzt, bestellt worden. Ende Februar 2023 hat der Beklagte den Bescheid vom 18. April 2019 rückwirkend zum 14. April 2022 zurückgenommen und der Klägerin am 1. März 2023, rückwirkend zum 14. April 2022, eine bis zum 13. April 2025 gültige Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 Satz 1 AufenthG erteilt.
5 Das Verwaltungsgericht hat das parallel betriebene Klageverfahren eingestellt, soweit die Klägerin und der Beklagte den Rechtsstreit übereinstimmend für erledigt erklärt haben, und den Beklagten unter Abweisung der Klage im Übrigen verpflichtet, über den Antrag der Klägerin auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 AufenthG betreffend den Zeitraum vom 27. September 2017 bis zum 13. April 2022 unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu entscheiden, und den Bescheid des Beklagten vom 18. April 2019 aufgehoben, soweit er dem entgegensteht. Die Klägerin habe zwar keinen Anspruch auf Verlängerung ihrer Aufenthaltserlaubnis nach § 25b Abs. 4 AufenthG, sie erfülle indes die Voraussetzungen für die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 AufenthG i. V. m. Art. 6 GG und Art. 8 EMRK. Der Beklagte habe sein diesbezügliches Erteilungsermessen bislang nicht betätigt.
6 Auf die Berufung der Klägerin hat das Oberverwaltungsgericht das Urteil des Verwaltungsgerichts geändert, den Beklagten verpflichtet, ihr rückwirkend ab dem 1. März 2019 bis zum 13. April 2022 eine Aufenthaltserlaubnis zu erteilen, und die Berufung im Übrigen zurückgewiesen. Die Klägerin erfülle die Voraussetzungen für die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25b Abs. 4 i. V. m. Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 bis 5 AufenthG für den Zeitraum vom 1. März 2019 bis zum 13. April 2022. Für den Zeitraum vom 27. September 2017 bis zum 28. Februar 2019 habe das Verwaltungsgericht die Klage insoweit zutreffend abgewiesen und den Beklagten für diesen Zeitraum lediglich zur Neubescheidung des hilfsweise gestellten Antrags auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 AufenthG verpflichtet.
7 Mit seiner durch das Oberverwaltungsgericht zugelassenen Revision rügt der Beklagte eine Verletzung von § 25b Abs. 4 AufenthG und § 5 Abs. 1 Nr. 4 AufenthG.
8 Die Klägerin, die ihre gleichfalls erhobene Revision am 16. Oktober 2024 zurückgenommen hat, verteidigt das Urteil des Oberverwaltungsgerichts.
9 Die Vertreterin des Bundesinteresses beteiligt sich an dem Revisionsverfahren und unterstützt die Rechtsauffassung des Beklagten.
II
10 1. Soweit die Klägerin ihre Revision zurückgenommen hat, war das Revisionsverfahren gemäß § 141 Satz 1 i. V. m. § 125 Abs. 1 Satz 1 i. V. m. § 92 Abs. 3 Satz 1 VwGO einzustellen.
11 2. Die zulässige Revision des Beklagten ist begründet und führt zur Zurückverweisung. Das angegriffene Urteil beruht auf der Verletzung von Bundesrecht (§ 137 Abs. 1 Nr. 1 VwGO). Das Oberverwaltungsgericht hat seine Entscheidung, den Beklagten zu verpflichten, der Klägerin rückwirkend ab dem 1. März 2019 bis zum 13. April 2022 eine Aufenthaltserlaubnis zu erteilen, auf Gründe gestützt, die mit § 25b Abs. 4 Satz 1 i. V. m. Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 Alt. 2 AufenthG und mit § 5 Abs. 1 Nr. 4 AufenthG nicht vereinbar sind (a)). Die Entscheidung stellt sich auch nicht aus anderen Gründen als richtig dar (b)). In Ermangelung hinreichender tatrichterlicher Feststellungen ist dem Senat eine abschließende Entscheidung in der Sache (§ 144 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 VwGO) nicht möglich; der Rechtsstreit ist daher an das Oberverwaltungsgericht zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung zurückzuverweisen (§ 144 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 VwGO).
12 a) Gemäß § 25b Abs. 4 Satz 1 AufenthG soll dem Ehegatten, der mit einem Begünstigten nach § 25b Abs. 1 AufenthG in familiärer Lebensgemeinschaft lebt, unter den Voraussetzungen des § 25b Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 bis 5 AufenthG eine Aufenthaltserlaubnis erteilt werden. Nach § 25b Abs. 4 Satz 2 AufenthG findet § 25b Abs. 2, 3 und 5 AufenthG Anwendung.
13 aa) Ob die Klägerin die besonderen Erteilungsvoraussetzungen nicht nur des § 25b Abs. 4 Satz 1 AufenthG, sondern auch des § 25b Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 bis 5 AufenthG in dem in tatsächlicher Hinsicht maßgeblichen Zeitpunkt der am 30. Mai 2024 durchgeführten Berufungsverhandlung erfüllt hat, entzieht sich einer abschließenden Beurteilung im Revisionsverfahren. Die Erfüllung der Voraussetzungen des § 25b Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 bis 5 AufenthG ist in der Regel sowohl notwendig als auch hinreichend für die Annahme einer nachhaltigen Integration des Ehegatten eines Ausländers im Sinne des § 25b Abs. 1 Satz 1 AufenthG.
14 (1) In dem streitgegenständlichen Erteilungszeitraum vom 1. März 2019 bis zum 13. April 2022 erfüllte die Klägerin die Regelerteilungsvoraussetzung des § 25b Abs. 4 Satz 1 i. V. m. Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AufenthG nicht ((a)); von dieser Voraussetzung war indes zu ihren Gunsten nach § 25b Abs. 4 Satz 2 i. V. m. Abs. 3 AufenthG abzusehen ((b)).
15 (a) Gemäß § 25b Abs. 4 Satz 1 i. V. m. Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AufenthG setzt die Erteilung der Aufenthaltserlaubnis regelmäßig voraus, dass der Ausländer seinen Lebensunterhalt überwiegend durch Erwerbstätigkeit sichert oder bei der Betrachtung der bisherigen Schul-, Ausbildungs-, Einkommens- sowie der familiären Lebenssituation zu erwarten ist, dass er seinen Lebensunterhalt im Sinne von § 2 Abs. 3 AufenthG sichern wird, wobei der Bezug von Wohngeld unschädlich ist.
16 Revisionsgerichtlich nicht zu beanstanden ist die Feststellung des Oberverwaltungsgerichts, dass weder die Klägerin noch ihr Ehemann in dem streitgegenständlichen Erteilungszeitraum den Lebensunterhalt der Bedarfsgemeinschaft (vgl. insoweit BT-Drs. 18/4097 S. 43 und 45) überwiegend durch Erwerbstätigkeit sicherzustellen vermochten und bei der Betrachtung ihrer familiären Lebenssituation und ihrer Erwerbsbiographie auch nicht zu erwarten war, dass sie hierzu in der Lage sein würden. Ausweislich der tatsächlichen Feststellungen war die Klägerin selbst nie erwerbstätig und hat auch ihr Ehemann den Lebensunterhalt der Bedarfsgemeinschaft in dem betreffenden Erteilungszeitraum nicht durch Erwerbseinkommen gesichert.
17 (b) Im Einklang mit Bundesrecht ist das Oberverwaltungsgericht indes davon ausgegangen, dass hier von dem Regelintegrationskriterium des § 25b Abs. 4 Satz 1 i. V. m. Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AufenthG abzusehen war.
18 Gemäß § 25b Abs. 4 Satz 2 i. V. m. Abs. 3 AufenthG wird von der Voraussetzung der überwiegenden Sicherung des Lebensunterhalts durch Erwerbstätigkeit im Sinne des § 25b Abs. 4 Satz 1 i. V. m. Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AufenthG abgesehen, wenn der Ausländer sie wegen einer körperlichen, geistigen oder seelischen Krankheit oder Behinderung oder aus Altersgründen nicht erfüllen kann.
19 (aa) Der Begriff der Krankheit erfasst jeden regelwidrigen Körper- oder Geisteszustand, der ärztlicher Behandlung bedarf und/oder Arbeitsunfähigkeit zur Folge hat (BSG, Urteil vom 15. März 2018 - B 3 KR 18/17 R - BSGE 125, 189 Rn. 27 m. w. N.).
20 Eine Krankheit der Klägerin im Sinne der genannten Norm liegt hier vor. Das Oberverwaltungsgericht hat in revisionsgerichtlich nicht zu beanstandender Weise bindend (§ 137 Abs. 2 VwGO) festgestellt, dass die Klägerin im maßgeblichen Erteilungszeitraum unter anderem an einer depressiven Episode mit Antriebsstörung und Harninkontinenz sowie "kognitiven Einschränkungen des Kurzzeitgedächtnisses mit Vergesslichkeit und Merkfähigkeitsstörungen" gelitten hat.
21 (bb) Im Sinne des Rechts der gesetzlichen Rentenversicherung sind gemäß § 43 Abs. 2 Satz 2 SGB VI voll erwerbsgemindert Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens drei Stunden täglich erwerbstätig zu sein. Nach § 43 Abs. 2 Satz 3 SGB VI sind voll erwerbsgemindert auch 1. Versicherte nach § 1 Satz 1 Nr. 2 SGB VI, die wegen Art oder Schwere der Behinderung nicht auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt tätig sein können, und 2. Versicherte, die bereits vor Erfüllung der allgemeinen Wartezeit voll erwerbsgemindert waren, in der Zeit einer nicht erfolgreichen Eingliederung in den allgemeinen Arbeitsmarkt.
22 Nach den Feststellungen des Oberverwaltungsgerichts ist die Klägerin seit dem 1. März 2019 vollständig und dauerhaft erwerbsgemindert.
23 (cc) Das Oberverwaltungsgericht ist im Einklang mit § 25b Abs. 4 Satz 2 i. V. m. Abs. 3 AufenthG zudem davon ausgegangen, dass die krankheitsbedingte vollständige Erwerbsminderung der Klägerin auch kausal für die fehlende Sicherung des Lebensunterhalts gewesen ist.
24 Entgegen der Rechtsauffassung des Verwaltungsgerichts und des Beklagten ist die Kausalität nicht gleichsam im Rahmen einer Gesamtbetrachtung unter Einbeziehung weiterer Ursachen einer gegenwärtigen oder früheren Unfähigkeit zur Sicherung des Lebensunterhalts zu bestimmen. Sie greift vielmehr unabhängig davon Platz, ob der Ausländer den Lebensunterhalt auch aus anderen Gründen nicht sicherzustellen vermag; entscheidend ist allein, dass Krankheit, Behinderung oder Altersgründe kausal dafür sind, dass der Ausländer nicht in der Lage ist, den Lebensunterhalt überwiegend durch Erwerbstätigkeit zu sichern (vgl. bereits BVerwG, Urteil vom 28. Oktober 2008 - 1 C 34.07 - juris Rn. 15).
25 Für die Beurteilung der Kausalität von Krankheit, Behinderung oder Altersgründen für die Unmöglichkeit der Sicherung des Lebensunterhalts durch Erwerbstätigkeit ist auf die Verhältnisse im Zeitpunkt der Entscheidung über den Antrag, in einem Gerichtsverfahren auf den Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung oder Entscheidung des Tatsachengerichts abzustellen (vgl. auch BVerwG, Urteil vom 5. Juni 2014 - 10 C 2.14 - BVerwGE 149, 387 Rn. 12). Dies folgt bereits aus dem Wortlaut des § 25b Abs. 3 AufenthG selbst, der im Präsens abgefasst ist und somit auf eine gegenwärtige Kausalität abstellt (vgl. zudem BT-Drs. 18/4097 S. 45). Im Falle der Entscheidung über eine rückwirkende Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis ist auf den betreffenden Erteilungszeitraum abzustellen.
26 Dem Wortlaut des § 25b Abs. 3 AufenthG ist kein Vorbehalt des Inhalts zu entnehmen, dass die in ihm aufgeführten Absehensgründe alleinige Ursache der mangelnden Sicherung des Unterhalts sein müssen und dass eine Mitursächlichkeit einer körperlichen, geistigen oder seelischen Krankheit oder Behinderung oder des Alters nicht genügt. Um im Rahmen von § 25b Abs. 3 AufenthG sonstigen Ursachen die Wirkung beizumessen, die Kausalität einer Krankheit oder Behinderung oder des Alters für die Unfähigkeit zur überwiegenden Sicherung des Lebensunterhalts durch Erwerbstätigkeit zu verdrängen, bedürfte es einer eindeutigen gesetzlichen Anordnung, an der es in der Norm fehlt.
27 In außensystematischer Hinsicht entspricht das vorstehende grammatische Normverständnis der Auslegung, die die in weiten Teilen wortgleichen Bestimmungen des § 10 Abs. 6 Satz 1 StAG (vgl. BVerwG, Urteil vom 5. Juni 2014 - 10 C 2.14 - BVerwGE 149, 387 LS und Rn. 12 ff.; nachfolgend auch VGH Mannheim, Beschluss vom 17. April 2019 - 12 S 1501/18 - juris Rn. 6; OVG Lüneburg, Beschluss vom 22. Oktober 2019 - 13 LA 490/18 - juris Rn. 6; OVG Münster, Beschluss vom 1. Juli 2024 - 19 E 296/24 - juris Rn. 12) und des § 9 Abs. 2 Satz 6 AufenthG (vgl. OVG Münster, Urteil vom 15. Oktober 2014 - 17 A 1150/13 - juris Rn. 67; OVG Magdeburg, Beschluss vom 20. Januar 2021 - 2 L 102/19 - juris Rn. 45 f.; a. A. OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 13. April 2021 - OVG 3 M 30/21 - juris Rn. 3) in der höchst- beziehungsweise obergerichtlichen Rechtsprechung erfahren haben.
28 Ebenso wenig streitet die teleologische Auslegung des § 25b Abs. 3 AufenthG für ein Verständnis der Norm dahingehend, dass anderweitige Ursachen für eine mangelnde Sicherung des Lebensunterhalts die Beachtlichkeit einer aktuellen krankheits-, behinderungs- oder altersbedingten Erwerbsunfähigkeit ausschließen könnten. § 25b Abs. 3 AufenthG wie auch § 9 Abs. 2 Satz 6 AufenthG und § 10 Abs. 6 Satz 1 StAG liegt der in Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG wurzelnde Gedanke zugrunde, dass auch behinderten Ausländern eine Aufenthaltsverfestigung möglich sein muss (vgl. BT-Drs. 15/420 S. 72). Die Norm zielt darauf, einer Benachteiligung zur überwiegenden Lebensunterhaltssicherung unfähiger Ausländer im Rahmen der Verfestigung des Aufenthaltsstatus entgegenzuwirken (BVerwG, Urteile vom 28. Oktober 2008 - 1 C 34.07 - juris Rn. 16 und vom 28. April 2015 - 1 C 21.14 - BVerwGE 152, 76 Rn. 17; VGH München, Beschluss vom 14. Mai 2009 - 19 ZB 09.785 - juris Rn. 16; OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 13. Dezember 2011 - OVG 12 B 24.11 - juris Rn. 22). Dieser Schutz liefe ins Leere, wenn weitere gegebenenfalls von dem Ausländer zu vertretende Ursachen für ein gegenwärtiges oder früheres Unvermögen der überwiegenden Sicherung des Lebensunterhalts durch Erwerbstätigkeit zur Folge hätten, dass eine gegenwärtig bestehende behinderungs-, krankheits- oder altersbedingte Erwerbsminderung im Rahmen von § 25b Abs. 3 AufenthG unbeachtlich wäre. § 25b Abs. 3 AufenthG schließt es aus, die mangelnde überwiegende Sicherung des Lebensunterhalts durch eigene Erwerbstätigkeit als Ausdruck von Integrationsdefiziten zu würdigen, wenn der Betroffene hierzu aufgrund seines körperlichen, geistigen oder altersbedingten Zustands objektiv nicht in der Lage ist. Durch den Eintritt der Erwerbsminderung wegen Krankheit, Behinderung oder Alters wird eine neue, von etwaigen früheren Gründen unabhängige Kausalität begründet, die neben einen etwaigen Ursachenzusammenhang zwischen weiteren Gründen und der fehlenden Lebensunterhaltssicherung tritt. § 25b Abs. 3 AufenthG ist nicht dazu zu dienen bestimmt, die Erwerbsbiographie des Ausländers und eine fehlende Sicherung des Lebensunterhalts in zurückliegenden Zeiträumen zu sanktionieren; vielmehr nimmt es der Gesetzgeber in den grundrechtlich begrenzten Fällen des § 25b Abs. 3 AufenthG hin, dass auch der Aufenthalt wirtschaftlich bislang nicht integrierter Ausländer legalisiert wird.
29 (2) Die zu § 25b Abs. 4 Satz 1 i. V. m. Abs. 1 Satz 2 Nr. 4 AufenthG getroffene Feststellung des Oberverwaltungsgerichts, die Klägerin habe den Nachweis erbracht, in dem streitgegenständlichen Zeitraum vom 1. März 2019 bis zum 13. April 2022 hinreichende mündliche Deutschkenntnisse im Sinne des Niveaus A 2 des Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmens für Sprachen besessen zu haben, ist revisionsgerichtlich nicht zu beanstanden.
30 Eine nachhaltige Integration in die Lebensverhältnisse der Bundesrepublik Deutschland im Sinne des § 25b Abs. 4 Satz 1 i. V. m. Abs. 1 Satz 1 AufenthG setzt gemäß § 25b Abs. 4 Satz 1 i. V. m. Abs. 1 Satz 2 Nr. 4 AufenthG voraus, dass der Ausländer über hinreichende mündliche Deutschkenntnisse verfügt. Gemäß § 2 Abs. 10 AufenthG entsprechen hinreichende mündliche Deutschkenntnisse dem Niveau A 2 des Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmens für Sprachen (BT-Drs. 18/4097 S. 42 f.). Ob ihrer Bedeutung für eine gelungene Integration ist das Vorhandensein hinreichender, zumindest mündlicher Kenntnisse der deutschen Sprache grundsätzlich eine unverzichtbare Basisvoraussetzung für die Zuerkennung eines Aufenthaltsrechts aus § 25b Abs. 4 Satz 1 i. V. m. Abs. 1 Satz 1 AufenthG.
31 Ausweislich der Feststellungen des Oberverwaltungsgerichts verfügte die Klägerin im streitgegenständlichen Zeitraum über hinreichende mündliche Deutschkenntnisse im Sinne des Niveaus A 2 des Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmens für Sprachen. Von deren Vorliegen sei der Beklagte in dem Bescheid vom 27. September 2016 ausgegangen, indem er den Nachweis derselben dadurch als erbracht angesehen habe, dass die Klägerin am 13. September 2016 in der Lage gewesen sei, in der Ausländerbehörde ein Gespräch ohne Zuhilfenahme eines Dolmetschers zu führen. In dem von dem Berufungsgericht in Bezug genommenen Aktenvermerk wird hierzu ausgeführt: "Sie hat noch kein offizielles A2, da damals durchgefallen. Hier ist wohl noch die Alphabetisierung erforderlich. Frau E. würde ja auch gerne etwas [S]chulisches machen, muss aber angeblich immer auf die Kinder von S. I. aufpassen. Das gesprochene Deutsch ist gefühlt gut, teils sogar verständlicher als das des S. E." (1 C 16.24 BA 2 Bl. 838). Diesen Feststellungen ist der Beklagte im Revisionsverfahren 1 C 17.24 nicht entgegengetreten.
32 (3) Im Einklang mit § 25b Abs. 4 Satz 1 i. V. m. Abs. 1 Satz 2 Nr. 5 AufenthG hat das Oberverwaltungsgericht festgestellt, dass die Klägerin vor der am 14. April 2022 erfolgten familiengerichtlichen Bestellung zur Pflegerin für ihre Enkel und ihren Neffen rechtlich für diese nicht verantwortlich und daher auch nicht gehalten war, deren tatsächlichen Schulbesuch nachzuweisen.
33 (4) Unter Verstoß gegen § 25b Abs. 4 Satz 1 i. V. m. Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AufenthG ist das Oberverwaltungsgericht indes davon ausgegangen, dass sich der Beklagte an der vormaligen Bejahung des Erfordernisses des Besitzes von Grundkenntnissen der Rechts- und Gesellschaftsordnung und der Lebensverhältnisse im Bundesgebiet in Bezug auf die Klägerin festhalten lassen muss.
34 Gemäß § 25b Abs. 4 Satz 1 i. V. m. Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AufenthG setzt die Erteilung der Aufenthaltserlaubnis regelmäßig voraus, dass der Ausländer sich zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung der Bundesrepublik Deutschland bekennt und über Grundkenntnisse der Rechts- und Gesellschaftsordnung und der Lebensverhältnisse im Bundesgebiet verfügt.
35 (a) Ausweislich der Feststellungen des Oberverwaltungsgerichts hat sich die Klägerin im Sinne von § 25b Abs. 4 Satz 1 i. V. m. Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 Alt. 1 AufenthG mit Erklärung vom 13. September 2016 zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung bekannt, ohne von diesem Bekenntnis in der Folge erkennbar wiederabgerückt zu sein.
36 (b) Ob die Klägerin im maßgeblichen Erteilungszeitraum vom 1. März 2019 bis zum 13. April 2022 im Sinne des § 25b Abs. 4 Satz 1 i. V. m. Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 Alt. 2 AufenthG über Grundkenntnisse der Rechts- und Gesellschaftsordnung und der Lebensverhältnisse im Bundesgebiet verfügte, entzieht sich hingegen einer Klärung im vorliegenden Revisionsverfahren.
37 Beanstandungsfrei stellt das Oberverwaltungsgericht insoweit fest, dass sich der Ausländerakte kein Nachweis über eine erfolgreiche Teilnahme der Klägerin an einem Integrationskurs im Sinne des § 25b Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 Alt. 2 AufenthG entnehmen lässt, der Beklagte der Klägerin jedoch mit Bescheid vom 27. September 2016 bereits eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25b Abs. 4 i. V. m. Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 bis 5 AufenthG erteilt hat. In diesem Bescheid führte der Beklagte in Bezug auf die Klägerin unter anderem aus, diese erfülle die Tatbestandsvoraussetzungen des § 25b Abs. 4 AufenthG.
38 Unter Verstoß gegen § 8 Abs. 1 und § 25b Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 Alt. 2 AufenthG hat das Oberverwaltungsgericht hieraus gefolgert, der Beklagte sehe das Erfordernis der Grundkenntnisse der Rechts- und Gesellschaftsordnung und der Lebensverhältnisse im Bundesgebiet als erfüllt an, und angenommen, der Beklagte müsse sich an der in dem Bescheid vom 27. September 2016 getroffenen Feststellung des Vorliegens dieser Erteilungsvoraussetzung festhalten lassen. Diese Annahme gründet bezogen auf den streitgegenständlichen Beurteilungszeitraum auf einer zu schmalen Tatsachengrundlage.
39 In dem streitgegenständlichen Bescheid vom 18. April 2019 und nach dem sonstigen Akteninhalt verhielt sich der Beklagte zu dieser Voraussetzung - anders als zu den Sprachkenntnissen - nicht. Dies musste er auch nicht, da er die Ablehnung der Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis tragend auf das Fehlen der Voraussetzung des § 25b Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 und 4 AufenthG stützte. Das Vorliegen von Grundkenntnissen der Rechts- und Gesellschaftsordnung und der Lebensverhältnisse im Bundesgebiet im Zeitpunkt der Berufungsverhandlung betreffende Feststellungen traf er nicht.
40 Entgegen der Annahme des Oberverwaltungsgerichts muss sich der Beklagte auch nicht an der mit Bescheid vom 27. September 2016 erfolgten einmaligen Erteilung der Aufenthaltserlaubnis nach § 25b AufenthG festhalten lassen. Übergeht die Ausländerbehörde bei einer vorangegangenen Ersterteilung oder Verlängerung einer Aufenthaltserlaubnis die Prüfung einer Voraussetzung der Anspruchsgrundlage oder nimmt sie deren Vorliegen auf fehlerhafter Grundlage an, so ist sie im Lichte von § 8 Abs. 1 AufenthG an die Bejahung dieser Voraussetzung im Rahmen einer Entscheidung über einen Verlängerungsantrag nicht gebunden, sondern kann das Nichtvorliegen dieser Voraussetzung der Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis entgegenhalten, sofern dies allgemein nach den Vorschriften möglich ist, die für die Erteilung der beantragten verlängerten Aufenthaltserlaubnis gelten. Einem Anspruch auf Fehlerwiederholung versagt die Rechtsordnung die Anerkennung. Nichts anderes gebietet der allgemeine Gleichbehandlungsgrundsatz des Art. 3 Abs. 1 GG (BVerwG, Urteil vom 17. Juli 2009 - 5 C 25.08 - BVerwGE 134, 206 Rn. 24 m. w. N.). Abweichendes gilt, wenn besondere Umstände des Einzelfalls bewirken, dass der Ausländer auf die Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis vertrauen durfte und ein entsprechendes schutzwürdiges Vertrauen auch entwickelt hat (vgl. BVerfG, Beschluss vom 26. September 1978 - 1 BvR 525/77 - BVerfGE 49, 168 <185 f.>).
41 Solche besonderen Umstände des Einzelfalls sind vorliegend weder festgestellt noch anderweitig erkennbar oder substantiiert dargetan. Darlegungen dazu, dass die Klägerin, die weder einen Schulabschluss erworben noch erfolgreich eine Berufsausbildung absolviert hat, den Test "Leben in Deutschland" bestanden hätte, enthält auch das klägerische Vorbringen nicht. Ebenso wenig hat die Klägerin dargetan, auf andere geeignete Weise nachgewiesen zu haben, über die erforderlichen Grundkenntnisse zu verfügen. Selbiges geht auch nicht aus den beigezogenen Verwaltungsvorgängen hervor. Ein etwaiges Vertrauen ihrerseits auf die neuerliche Bejahung des Regelintegrationskriteriums nach § 25b Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 Alt. 2 AufenthG wäre daher nicht schutzwürdig.
42 § 25b Abs. 3 AufenthG gestattet auch nicht ein Absehen von dieser besonderen Regelerteilungsvoraussetzung, da nach jener Privilegierung nur von den Voraussetzungen des § 25b Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 und 4 AufenthG abgesehen wird. Für eine analoge Anwendung der Vorschrift auf § 25b Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AufenthG fehlt es an einer planwidrigen Regelungslücke, da ein entsprechender Änderungsantrag im parlamentarischen Verfahren keine Unterstützung erfahren hat (vgl. zum Ganzen OVG Lüneburg, Beschluss vom 13. Juli 2018 - 13 ME 373/17 - juris Rn. 11).
43 (5) Liegen die Anforderungen des § 25b Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 bis 5 AufenthG vor, so indiziert dies eine nachhaltige Integration des Ausländers. Dies gilt auch dann, wenn zwar einzelne Anforderungen des § 25b Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 bis 5 AufenthG nicht erfüllt werden, indes die Annahme einer Integration des Ausländers durch Erfüllung anderer gleichgewichtiger Merkmale gerechtfertigt erscheint. Die Formulierung "setzt regelmäßig voraus" lässt es zu, dass besondere Integrationsleistungen von vergleichbarem Gewicht ebenfalls zur Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25b AufenthG führen können, auch wenn die Voraussetzungen des § 25b Abs. 1 Satz 2 AufenthG im Einzelfall nicht vollständig erfüllt sind. In einem solchen Fall ist eine Gesamtschau der Umstände des Einzelfalls vorzunehmen (BT-Drs. 18/4097 S. 42).
44 Dass die Klägerin ein etwaiges Integrationsdefizit in Bezug auf Grundkenntnisse der Rechts- und Gesellschaftsordnung und der Lebensverhältnisse im Bundesgebiet durch eine Übererfüllung anderer Integrationskriterien kompensiert hätte, ist weder festgestellt noch geltend gemacht noch anderweitig ersichtlich.
45 (6) Dem Oberverwaltungsgericht ist daher Gelegenheit zu geben, Feststellungen zu dem Vorliegen von Grundkenntnissen der Rechts- und Gesellschaftsordnung und der Lebensverhältnisse im Bundesgebiet in der Person der Klägerin im maßgeblichen Erteilungszeitraum zu treffen.
46 bb) Das Oberverwaltungsgericht ist im Einklang mit der höchstrichterlichen Rechtsprechung davon ausgegangen, dass die Regelerteilungsvoraussetzungen des § 5 Abs. 1 AufenthG mit Ausnahme der in § 25b Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AufenthG im Vergleich zu § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG speziell geregelten lediglich überwiegenden Sicherung des Lebensunterhalts auch bei der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25b AufenthG Anwendung finden (BVerwG, Urteil vom 18. Dezember 2019 - 1 C 34.18 - BVerwGE 167, 211 Rn. 58).
47 (1) Revisionsgerichtlich nicht zu beanstanden ist die Feststellung des Oberverwaltungsgerichts, die Klägerin habe die Regelerteilungsvoraussetzungen des § 5 Abs. 1 Nr. 1a bis 3 AufenthG erfüllt.
48 (2) Nur zeitweise erfüllte die Klägerin in dem streitgegenständlichen Zeitraum vom 1. März 2019 bis zum 13. April 2022 hingegen die Regelerteilungsvoraussetzung des § 5 Abs. 1 Nr. 4 i. V. m. § 3 Abs. 1 AufenthG.
49 (a) Gemäß § 5 Abs. 1 Nr. 4 AufenthG i. V. m. § 3 Abs. 1 Satz 1 AufenthG dürfen sich Ausländer, sofern sie von der Passpflicht nicht durch Rechtsverordnung befreit sind, nur im Bundesgebiet aufhalten, wenn sie einen anerkannten und gültigen Pass oder Passersatz besitzen. Für den Aufenthalt im Bundesgebiet erfüllen sie gemäß § 3 Abs. 1 Satz 2 AufenthG die Passpflicht auch durch den Besitz eines Ausweisersatzes im Sinne des § 48 Abs. 2 AufenthG. § 5 Abs. 1 Nr. 4 AufenthG trägt der Funktion des Passes als amtliches Ausweisdokument, durch den die Rückreiselegitimation seines Inhabers und die damit einhergehende Rücknahmegarantie des ausstellenden Staates dokumentiert wird, Rechnung.
50 Ausweislich der Feststellungen des Oberverwaltungsgerichts war die Klägerin im Zeitraum vom 28. Dezember 2020 bis zum 20. Dezember 2021 nicht im Besitz eines gültigen und anerkannten Passes.
51 (b) Bei den in § 5 Abs. 1 AufenthG normierten Anforderungen handelt es sich nicht um zwingende, sondern um Regelerteilungsvoraussetzungen. Die Wörter "in der Regel" nehmen Regelfälle in Bezug, die sich nicht durch besondere Umstände von einer Vielzahl gleichliegender Fälle unterscheiden. Demgegenüber ist die Ausnahme von der Regel durch einen Geschehensablauf geprägt, der das sonst ausschlaggebende Gewicht des gesetzlichen Regelerteilungsgrundes beseitigt. Die Regelerteilungsvoraussetzungen müssen daher regelmäßig erfüllt sein, es sei denn, verfassungs-, unions‐ oder völkerrechtliche Gewährleistungen oder atypische Umstände des Einzelfalls beseitigen das sonst ausschlaggebende Gewicht der gesetzlichen Regel. Die Abgrenzung ist anhand einer wertenden Betrachtung aller Umstände des Einzelfalls bezogen auf den maßgeblichen Beurteilungszeitpunkt vorzunehmen. Im Falle eines verwaltungsgerichtlichen Verfahrens ist insoweit auf den Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung in der Tatsacheninstanz oder - in Ermangelung einer solchen - denjenigen der letzten Entscheidung des Tatsachengerichts abzuheben; im Falle eines zurückliegenden Erteilungszeitraums ist auf diesen abzustellen. Die Abgrenzung unterliegt keinem Einschätzungsspielraum der Ausländerbehörde, sondern ist gerichtlich uneingeschränkt überprüfbar. Je höher das Gewicht ist, das der Gesetzgeber der Erteilungsvoraussetzung beimisst, desto bedeutsamer müssen diejenigen Umstände sein, derer es bedarf, um das Gewicht der gesetzgeberischen Entscheidung zurücktreten zu lassen. Liegt eine beachtliche Ausnahme von der Regel vor, so darf dem Ausländer die fehlende Erfüllung der Regelerteilungsvoraussetzung nicht entgegengehalten werden.
52 Die Behörde hat nicht die Freiheit, nach Ermessen von der Erfüllung von Regelerteilungsvoraussetzungen zu dispensieren, wenn eine Ausnahme von der Regel nicht feststellbar ist. Stellt der Herkunftsstaat keine unzumutbaren Bedingungen an die Ausstellung eines Passes, so ist grundsätzlich kein Raum für eine Ausnahme von der Regelerteilungsvoraussetzung des § 5 Abs. 1 Nr. 4 AufenthG. Maßgeblich ist somit, ob der Ausländer einen Pass in zumutbarer Weise erlangen kann. Besitzt der Ausländer keinen gültigen Pass oder Passersatz, so ist er gemäß § 48 Abs. 3 Satz 1 AufenthG verpflichtet, an der Beschaffung des Identitätspapiers mitzuwirken und selbstständig und unaufgefordert sämtliche notwendigen Maßnahmen zu ergreifen, um einem Ausreisehindernis der Passlosigkeit vorzubeugen oder dieses zeitnah zu beseitigen. Unterlässt er dies, so steht dies der Annahme einer Ausnahme von der Regel entgegen. Auch ein längerer Voraufenthalt im Bundesgebiet, die - ohnehin als eigene Regelerteilungsvoraussetzung in § 5 Abs. 1 Nr. 1a AufenthG geregelte - Klärung der Identität oder der Besitz anderweitiger Identitätsdokumente vermögen grundsätzlich keine abweichende Betrachtung zu rechtfertigen. Mit Blick auf die Vielzahl der bestehenden bilateralen Rückübernahmeabkommen mit Herkunftsstaaten können diese schon keinen Ausnahmefall begründen. Ebenso wenig ist es für die Annahme des Regelfalls wie auch für das Vorliegen eines Ausnahmefalls als ausreichend anzusehen, dass zum Zeitpunkt der Titelerteilung keine Anhaltspunkte zutage getreten sind, dass der Pass nicht verlängert werden wird. Eine Ausnahme von der Regelerteilungsvoraussetzung ist in Anbetracht der grundlegenden Bedeutung der Erfüllung der Passpflicht für die Ermöglichung einer Rückführung vielmehr nur für den Fall anzunehmen, dass dem Ausländer die Beantragung eines Passes objektiv unmöglich oder subjektiv unzumutbar ist. Unterlässt es der Ausländer hingegen, seiner Mitwirkungspflicht nachzukommen (vgl. § 48 Abs. 3 Satz 1 AufenthG), so scheidet die Annahme eines Ausnahmefalls aus.
53 Das Oberverwaltungsgericht ist zu dem Ergebnis gelangt, dass in Bezug auf die Klägerin aufgrund ihres durch Art. 6 GG geschützten Familienlebens eine Ausnahme von der Erfüllung der Regelerteilungsvoraussetzung des § 5 Abs. 1 Nr. 4 i. V. m. § 3 AufenthG anzunehmen war, und zur Begründung auf die zwischen der Klägerin und dem schwerkranken, hilfe- und pflegebedürftigen Kläger bestehende eheliche Lebensgemeinschaft, die geklärte Identität der Klägerin, deren langjähriger Besitz einer Aufenthaltserlaubnis, die mangelnde Planung ihrer Rückführung und die angesichts der Gesamtlänge ihres Aufenthalts im Bundesgebiet relativ kurze Zeit der Passlosigkeit abgehoben. Die geklärte Identität der Klägerin, deren langjähriger Besitz einer Aufenthaltserlaubnis, die mangelnde Planung ihrer Rückführung und die relativ betrachtet kurze Zeit ihrer Passlosigkeit sind indes keine atypischen Umstände, die für sich betrachtet oder in einer Gesamtschau, auch unter Einbeziehung des weiteren Aspekts der Führung einer ehelichen Lebensgemeinschaft, die Annahme einer Ausnahme von der Regel rechtfertigen könnten. Die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis ist in einem solchen Fall vielmehr so lange zurückzustellen und der rechtmäßige Aufenthalt des Ausländers ist so lange auf der Grundlage des § 81 Abs. 4 Satz 1 AufenthG als fortbestehend zu behandeln, bis dieser seiner Mitwirkungspflicht erfolgreich nachgekommen ist. Unterbleibt eine Mitwirkung bei der Passbeschaffung hingegen oder erfolgt diese - wie im Fall der Klägerin - erst zu einem späteren Zeitpunkt, obwohl nicht erkennbar ist, dass diese dem Ausländer in dem zurückliegenden Zeitraum unmöglich oder unzumutbar war, so ist dessen etwaiges Vertrauen darauf, dass der Zeitraum der Passlosigkeit später durch eine rückwirkende Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis überdeckt werde, nicht schutzwürdig.
54 Soweit das Oberverwaltungsgericht die Annahme einer Ausnahme von der Regel auch mit den verfassungsrechtlichen Gewährleistungen aus Art. 6 GG begründet, rechtfertigt dies in Ermangelung spezifischer tatsächlicher Feststellungen in Bezug auf eine Unmöglichkeit oder Unzumutbarkeit der Passbeantragung keine abweichende Betrachtung. So ist nicht erkennbar, dass der Umstand, dass die Klägerin eine familiäre Lebensgemeinschaft mit ihrem pflegebedürftigen Ehemann führte und zudem in die Betreuung ihrer Enkelkinder und ihres Neffen eingebunden war, sie daran gehindert hätte, sich fristgerecht um die Verlängerung ihres Nationalpasses zu bemühen.
55 (3) Liegt eine Ausnahme von der Regel des § 5 Abs. 1 Nr. 4 AufenthG nicht vor, so kann gemäß § 5 Abs. 3 Satz 2 AufenthG in den Fällen der Erteilung und Verlängerung eines Aufenthaltstitels nach § 25b AufenthG von der Anwendung von § 5 Abs. 1 und 2 AufenthG abgesehen werden.
56 § 5 Abs. 3 Satz 2 AufenthG gebietet eine umfassende Abwägung der widerstreitenden öffentlichen und privaten Interessen und eine Entscheidung darüber, ob im Hinblick auf die Gewichtigkeit der einschlägigen öffentlichen und privaten Interessen sowie der gesetzgeberischen Intention, Kettenduldungen möglichst zu vermeiden, auf eine allgemeine Erteilungsvoraussetzung nach § 5 Abs. 1 und 2 AufenthG verzichtet werden kann. Hierbei ist es ein legitimes Anliegen, die Verfestigung eines Aufenthalts in der Bundesrepublik Deutschland durch Erteilung einer humanitären Aufenthaltserlaubnis jedenfalls in solchen Fällen zu verhindern, in denen der Ausländer seinen Mitwirkungspflichten nicht in der gebotenen Weise nachkommt (BVerwG, Beschlüsse vom 7. Mai 2013 - 1 B 2.13 - Buchholz 402.242 § 5 AufenthG Nr. 12 Rn. 4 und vom 3. Dezember 2014 - 1 B 19.14 - juris Rn. 7). Im Rahmen der Klärung der Frage, ob die Erteilung einer humanitären Aufenthaltserlaubnis in Absehung von dem Vorliegen der betreffenden allgemeinen Erteilungsvoraussetzung mit der Gesamtsystematik des Aufenthaltsgesetzes in Einklang steht, sind dem Gewicht der in § 5 Abs. 1 und 2 AufenthG geregelten Voraussetzungen von grundlegendem staatlichen Interesse die privaten Belange des Einzelfalls unter Einbeziehung verfassungs-, konventions- und unionsrechtlicher Vorgaben insbesondere auch zum Schutz der Familie und des Privatlebens (BVerwG, Urteil vom 14. Mai 2013 - 1 C 17.12 - BVerwGE 146, 281 Rn. 31), wie auch weitere Umstände (vgl. insoweit OVG Lüneburg, Beschluss vom 6. September 2016 - 8 LA 47/16 - juris Rn. 3) gegenüberzustellen.
57 Ihr diesbezügliches Absehensermessen hat die Ausländerbehörde des Beklagten nicht ausgeübt. Für die dem Bundesverwaltungsgericht im revisionsgerichtlichen Verfahren allein mögliche Annahme einer Ermessensreduzierung auf Null erweisen sich die auf den streitgegenständlichen Erteilungszeitraum vom 1. März 2019 bis zum 13. April 2022 zu beziehenden tatsächlichen Feststellungen des Oberverwaltungsgerichts als unzureichend. Feststellungen dazu, dass die Klägerin den Nationalpass - wie von dem Beklagten behauptet - allein aus Nachlässigkeit nicht verlängert habe, oder zu der Frage, ob ihr die Passbeantragung über einen Zeitraum von mehr als elf Monaten unmöglich oder unzumutbar war, sind seitens des Oberverwaltungsgerichts nicht getroffen worden. Diesem ist daher Gelegenheit zu geben, die erforderlichen tatsächlichen Feststellungen nachzuholen.
58 b) Das Berufungsurteil stellt sich auch nicht aus anderen Gründen als richtig dar (§ 144 Abs. 4 VwGO). Ob der Klägerin bezogen auf den streitgegenständlichen Zeitraum vom 1. März 2019 bis zum 13. April 2022 eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 AufenthG erteilt werden kann, entzieht sich einer abschließenden revisionsgerichtlichen Klärung.
59 aa) § 25 Abs. 5 AufenthG gelangt hier neben § 25b Abs. 1 AufenthG zur Anwendung.
60 In der Rechtsprechung - gerade auch des Berufungsgerichts (vgl. nur OVG Lüneburg, Urteil vom 8. Februar 2018 - 13 LB 43/17 - juris Rn. 83 ff. und Beschluss vom 11. Mai 2023 - 13 LA 43/23 - juris Rn. 22 f.) – wird die Auffassung vertreten, im Lichte der mit der Schaffung von § 25b Abs. 1 AufenthG verbundenen gesetzgeberischen Zielsetzung, nachhaltig in die Lebensverhältnisse der Bundesrepublik Deutschland integrierten Ausländern stichtagsunabhängig ein Aufenthaltsrecht zu gewähren, sei es grundsätzlich nicht zulässig, einem Ausländer, der dem Anwendungsbereich des § 25b Abs. 1 AufenthG unterfalle, aber die in diesen Bestimmungen formulierten Voraussetzungen für eine aufenthaltsrechtsbegründende Integration in die hiesigen Lebensverhältnisse nicht erfülle, unter Rückgriff auf das in Art. 8 EMRK allgemein verbürgte Recht auf Achtung des Privatlebens gleichwohl ein Aufenthaltsrecht zu gewähren, und praktisch ausgeschlossen, ihn als derart in die hiesigen Lebensverhältnisse integriert anzusehen, dass ihm als sogenannten faktischem Inländer ein Verlassen des Bundesgebiets nach § 25 Abs. 5 AufenthG in Verbindung mit Art. 8 EMRK rechtlich unmöglich sei.
61 Einer näheren Würdigung dieser Auffassung bedarf es vorliegend nicht, da das Verwaltungs- wie auch das Oberverwaltungsgericht die Zuerkennung eines Anspruchs auf ermessensfehlerfreie Neubescheidung des Antrags auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 AufenthG im Kern nicht auf die Integration der Klägerin, sondern auf deren eheliche Lebensgemeinschaft mit dem - nach den Feststellungen des Verwaltungsgerichts, die sich das Oberverwaltungsgericht zu eigen gemacht hat - in die Lebensverhältnisse der Bundesrepublik Deutschland integrierten Kläger und die emotionale Bindung ihrer Enkel an die Klägerin und ihren Ehemann gestützt hat. In einer solchen Konstellation ist der Anwendungsbereich des § 25 Abs. 5 AufenthG neben demjenigen des § 25b Abs. 1 AufenthG jedenfalls eröffnet.
62 bb) Zwar erfüllte die Klägerin im maßgeblichen Zeitpunkt der Berufungsverhandlung die besonderen Erteilungsvoraussetzungen ((1)). Ob indes seinerzeit der Aufenthaltsgewährung die allgemeinen Erteilungsvoraussetzungen entgegenstanden, entzieht sich einer abschließenden Klärung im revisionsgerichtlichen Verfahren ((2)).
63 (1) Die Klägerin erfüllte die besonderen Erteilungsvoraussetzungen des § 25 Abs. 5 AufenthG.
64 Die Klägerin war im maßgeblichen Zeitraum vom 1. März 2019 bis zum 13. April 2022 vollziehbar ausreisepflichtig. Ihre Ausreise war der Klägerin in dem vorbezeichneten Zeitraum rechtlich unmöglich. Ausweislich der tatsächlichen Feststellungen des Verwaltungsgerichts, die sich das Oberverwaltungsgericht ausdrücklich zu eigen gemacht hat, war ihr die Ausreise nach Serbien aus familiären Gründen unzumutbar, da ihr eine langfristige Trennung von ihrem sich seinerzeit rechtmäßig im Bundesgebiet aufhaltenden Ehemann nicht zuzumuten gewesen sei und beide ihre Enkel und ihren Neffen bereits in dem vorgenannten Zeitraum betreut hätten, diese eine emotionale Bindung zu ihnen aufgebaut hätten und sie deren Hauptbezugspersonen gewesen seien. Anhaltspunkte dafür, dass das Ausreisehindernis in absehbarer Zeit in Wegfall geraten würde oder dass die Klägerin die rechtliche Unmöglichkeit ihrer Ausreise verschuldet hätte, sind weder festgestellt noch dargetan noch anderweitig erkennbar.
65 (2) Die Klägerin erfüllte die allgemeinen Erteilungsvoraussetzungen des § 5 Abs. 1 Nr. 1a, 2 und 3 AufenthG ((a)). Für eine abschließende Entscheidung über das Vorliegen der Regelerteilungsvoraussetzung des § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG fehlt es an hinreichenden tatsächlichen Feststellungen ((b)). Der Erteilung der Aufenthaltserlaubnis steht indes § 5 Abs. 1 Nr. 4 AufenthG entgegen ((c)). Die Ausländerbehörde des Beklagten hat es unterlassen, insoweit von ihrem Absehensermessen nach § 5 Abs. 3 Satz 2 AufenthG Gebrauch zu machen ((d)).
66 (a) Zwischen den Beteiligten ist nicht streitig, dass die Klägerin die Regelerteilungsvoraussetzungen des § 5 Abs. 1 Nr. 1a, 2 und 3 AufenthG in dem vorgenannten Zeitraum erfüllte.
67 (b) Demgegenüber vermochte die Klägerin in dem streitgegenständlichen Erteilungszeitraum vom 1. März 2019 bis zum 13. April 2022 den Lebensunterhalt im Sinne von § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG nicht sicherzustellen. Auch bei diesem Erfordernis handelt es sich um eine (Regel-)Erteilungsvoraussetzung von grundlegendem staatlichen Interesse (BT-Drs. 15/420 S. 70).
68 (aa) Die Prüfung, ob diese Voraussetzung erfüllt ist, erfolgt durch eine Prognoseentscheidung, im Rahmen derer darüber zu befinden ist, ob der Ausländer seinen Lebensunterhalt einschließlich ausreichendem Krankenversicherungsschutz für die Dauer des beabsichtigten Aufenthalts ohne Inanspruchnahme öffentlicher Mittel bestreiten kann. Erforderlich ist bei der Prognose eine Abschätzung aufgrund rückschauender Betrachtung, ob ohne unvorhergesehene Ereignisse in Zukunft gewährleistet erscheint, dass der Lebensunterhalt ohne Inanspruchnahme öffentlicher Mittel aufgebracht werden kann (BVerwG, Urteil vom 18. April 2013 - 10 C 10.12 - BVerwGE 146, 198 Rn. 13).
69 Im Einklang mit den tatsächlichen Feststellungen des Oberverwaltungsgerichts ist zwischen den Beteiligten unstreitig, dass die Klägerin und ihr Ehemann den Lebensunterhalt ihrer Bedarfsgemeinschaft in dem vorgenannten Zeitraum nicht sicherzustellen vermochten.
70 (bb) Ob eine Ausnahme von der Regelerteilungsvoraussetzung des § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG in Bezug auf die Klägerin anzunehmen war, entzieht sich einer abschließenden Beurteilung im revisionsgerichtlichen Verfahren.
71 Steht einem Nachzugsbegehren der Schutz der öffentlichen Kassen entgegen, so bedarf es im Rahmen des § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG einer Abwägung dieses öffentlichen Interesses mit den gegenläufigen privaten Belangen des Ausländers und muss die Entscheidung insbesondere den Grundsätzen der Verhältnismäßigkeit und des Übermaßverbots entsprechen. Ein solcher Ausnahmefall liegt - wie vorstehend unter a) bb) (2) (b) ausgeführt - bei besonderen, atypischen Umständen vor, die so bedeutsam sind, dass sie das sonst ausschlaggebende Gewicht der gesetzlichen Regelung beseitigen, aber auch dann, wenn entweder aus Gründen höherrangigen Rechts wie etwa Art. 6 GG oder Art. 8 EMRK die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis geboten ist (BVerwG, Urteile vom 26. August 2008 - 1 C 32.07 - BVerwGE 131, 370 Rn. 27 und vom 13. Juni 2013 - 10 C 16.12 - Buchholz 402.242 § 5 AufenthG Nr. 14 Rn. 21 und 30).
72 Einschränkungen des Gesundheitszustands von Ausländern sind grundsätzlich nicht als atypische Umstände zu qualifizieren, die eine Ausnahme von der Regelerteilungsvoraussetzung des § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG zu rechtfertigen vermögen. Kann ein Ausländer wegen seines Alters oder einer dauerhaften Erkrankung einer Erwerbstätigkeit nicht nachgehen, so ist dies eine Tatsache, die nicht derart außerhalb der Lebenserfahrung liegt, dass der mit § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG verfolgte Zweck, eine Inanspruchnahme der Sozialkassen durch den Aufenthalt von Ausländern im Bundesgebiet zu verhindern, es gerechtfertigt erscheinen ließe, die gesetzliche Regel zurücktreten zu lassen; ob der Ausländer die fehlende Unterhaltssicherung zu vertreten hat, ist dabei grundsätzlich unerheblich. Die Annahme eines Ausnahmefalls erfordert auch in einer solchen Konstellation das Hinzutreten weiterer Umstände.
73 Dass zugunsten der Klägerin und ihres Ehemannes mit Wirkung vom 1. März 2019 beziehungsweise vom 1. Mai 2019 eine Pflegebedürftigkeit mit dem Pflegegrad 3 festgestellt wurde und beide als vollständig erwerbsgemindert anzusehen waren, rechtfertigt es angesichts der überragenden Bedeutung des Ziels der Vermeidung einer Inanspruchnahme der Sozialkassen bei isolierter Betrachtung nicht, eine Ausnahme von der gesetzlichen Regel anzunehmen.
74 Ebenso wenig veranlasst allein die Beziehung eines Ausländers zu seinen minderjährigen Enkelkindern und anderen minderjährigen Verwandten, mögen diese auch die deutsche Staatsangehörigkeit besitzen, im Lichte von Art. 6 GG in jeder Fallgestaltung zur Annahme einer Ausnahme von dem Regelerfordernis der Lebensunterhaltssicherung; stattdessen bedarf es des Hinzutretens weiterer Umstände, die bei einer wertenden Gesamtschau das ausschlaggebende Gewicht der gesetzlichen Regelung in § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG beseitigen (vgl. zum Ganzen auch BVerwG, Urteil vom 13. Juni 2013 - 10 C 16.12 - Buchholz 402.242 § 5 AufenthG Nr. 14 Rn. 30). In diesem Zusammenhang ist zudem zu beachten, dass deutsche Familienangehörige bei der Prüfung der Sicherung des Lebensunterhalts der Bedarfsgemeinschaft außer Betracht bleiben (BVerwG, Urteil vom 16. August 2011 - 1 C 12.10 - Buchholz 402.242 § 28 AufenthG Nr. 2 Rn. 18 f.).
75 Ob es die krankheitsbedingte Erwerbsminderung der trotz langjährigen Aufenthalts wirtschaftlich nicht integrierten Klägerin und ihres Ehemannes bei gleichzeitiger faktischer Übernahme jedenfalls eines Teils der Betreuung ihrer Enkelkinder und ihres deutschen Neffen rechtfertigt - zu Pflegepersonen waren beide im streitgegenständlichen Zeitraum noch nicht bestellt –, im Rahmen einer Gesamtbetrachtung von der Sicherung des Lebensunterhalts als einer Erteilungsvoraussetzung von grundlegendem staatlichen Interesse abzusehen, entzieht sich in Ermangelung hinreichender tatsächlicher Feststellungen des Oberverwaltungsgerichts insbesondere auch zu der Intensität des seinerzeitigen Betreuungsverhältnisses einer abschließenden Klärung im revisionsgerichtlichen Verfahren.
76 (c) Ebenso wenig erfüllte die Klägerin in dem streitgegenständlichen Zeitraum durchgängig die Regelerteilungsvoraussetzung des § 5 Abs. 1 Nr. 4 AufenthG.
77 (aa) Ausweislich der tatsächlichen Feststellungen des Oberverwaltungsgerichts befand sich die Klägerin in dem Zeitraum vom 28. Dezember 2020 bis zum 2o. Dezember 2021 nicht im Besitz eines gültigen und anerkannten Nationalpasses.
78 (bb) Das Oberverwaltungsgericht hat der Sache nach eine Ausnahme von der Regelerteilungsvoraussetzung des § 5 Abs. 1 Nr. 4 AufenthG angenommen, soweit es ausführt, die Erteilung der Aufenthaltserlaubnis (nach § 25b AufenthG) sei "unter Absehen von der Regelerteilungsvoraussetzung des § 5 Abs. 1 Nr. 4 i. V. m. § 3 AufenthG für den Zeitraum vom 28. Dezember 2020 bis zum 20. Dezember 2021" aufgrund ihres durch Art. 6 GG geschützten Familienlebens geboten. Indes tragen die festgestellten Tatsachen nicht den im Rahmen der Gesamtabwägung vorgenommenen Schluss.
79 Das Oberverwaltungsgericht hat für seine Annahme einer Ausnahme von der gesetzlichen Regel als ausschlaggebend erachtet, dass die Klägerin mit ihrem schwerkranken und mit einem anerkannten Pflegegrad 3 hilfe- beziehungsweise pflegebedürftigen Ehemann in häuslicher Gemeinschaft zusammengelebt habe, der im maßgeblichen Zeitraum über eine Aufenthaltserlaubnis verfügt habe, sie im März 2019 selbst als pflegebedürftig mit einem Pflegegrad 3 anerkannt worden sei, die Pflegeaufgaben von im Bundesgebiet aufhältigen Verwandten wahrgenommen worden seien, ihre Identität geklärt gewesen sei, sie bis zum 27. Dezember 2020 im Besitz eines gültigen Passes gewesen sei, die Zeit der Passlosigkeit in Relation zu ihrem nahezu 30 Jahre währenden Aufenthalt vernachlässigbar erscheine, sie sich selbst von 2009 bis zum 26. September 2017 im Besitz einer Aufenthaltserlaubnis befunden habe und ihre Abschiebung im maßgeblichen Zeitraum nicht in Aussicht genommen worden sei. Diese von dem Berufungsgericht festgestellten Umstände lassen nicht deutlich werden, dass sie das ausschlaggebende Gewicht der gesetzlichen Regelung zu beseitigen vermochten. Insbesondere ist nicht zu erkennen, weshalb es der Klägerin wegen ihrer Pflegebedürftigkeit oder der Pflegebedürftigkeit des Klägers oder der Betreuung ihrer Enkel und ihres Neffen nicht möglich gewesen sein soll, rechtzeitig um die Verlängerung ihres Nationalpasses nachzusuchen. Dass sie zuvor und hiernach im Besitz eines solchen gewesen ist, ihre Identität geklärt ist, sie sich über mehrere Jahre im Besitz einer Aufenthaltserlaubnis befunden hat und eine Abschiebung seinerzeit nicht in Aussicht genommen war, lässt eine Atypik nicht erkennen. Ebenso wenig gebietet es Art. 6 GG, eine Ausnahme von der Regel des § 5 Abs. 1 Nr. 4 AufenthG anzunehmen. Auf die vorstehenden Ausführungen unter a) bb) (2) (b) wird insoweit ergänzend Bezug genommen.
80 (d) Auch wenn sich die individuellen Umstände nicht als atypisch oder als im Rahmen höherrangigen Rechts zwingend darstellen und die Annahme einer Ausnahme jedenfalls von der Regel des § 5 Abs. 1 Nr. 4 AufenthG daher ausscheidet, kann in den von § 5 Abs. 3 Satz 1 AufenthG nicht erfassten Fällen der Erteilung eines Aufenthaltstitels nach Abschnitt 5 des Kapitels 2 des Aufenthaltsgesetzes gemäß § 5 Abs. 3 Satz 2 AufenthG von der Anwendung von § 5 Abs. 1 und 2 AufenthG abgesehen werden.
81 Ihr diesbezügliches Absehensermessen hat die Ausländerbehörde des Beklagten nicht ausgeübt. Sie hat in dem angegriffenen Bescheid vom 18. April 2019 vielmehr allein die Prognose getroffen, dass nicht davon auszugehen sei, die Klägerin und ihr Ehemann würden den Lebensunterhalt der Bedarfsgemeinschaft in Zukunft ohne die Inanspruchnahme von öffentlichen Leistungen sichern. Soweit sie im Zusammenhang mit der Verneinung der besonderen Erteilungsvoraussetzung der Unmöglichkeit der Ausreise ausführt, der Klägerin und ihrem Ehemann sei es zuzumuten, Bemühungen um eine Sicherung des Lebensunterhalts in ihrem Heimatland zu entfalten, kann dies nicht als eine ordnungsgemäße Ausübung des Absehensermessens im Sinne von § 5 Abs. 3 Satz 2 AufenthG ausgelegt werden. Dies ist seitens des Verwaltungsgerichts und des Oberverwaltungsgerichts in Bezug auf § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG festgestellt worden, ohne dass dies revisionsgerichtlich zu beanstanden wäre. Hinsichtlich § 5 Abs. 1 Nr. 4 AufenthG fehlt es an entsprechenden Feststellungen.