Verfahrensinformation

Kriterien für die Bestimmung des räumlichen Anwendungsbereichs von § 1 Abs. 6 VermG


Die Klägerin macht den Verlust von Beteiligungen ihrer Rechtsvorgänger an einer Berliner Bank in Form einer Kommanditgesellschaft auf Aktien (im Folgenden: KGaA) in Höhe von nominal insgesamt 10 Mio. RM in den 1930er Jahren aufgrund nationalsozialistischer Verfolgung geltend. Sie leitet ihre Ansprüche aus Beteiligungen von Personen und Unternehmen aus dem Umfeld eines im Sinne der NS-Rassegesetze jüdischen Bankhauses ab.


Anfang der 1930er Jahre erwarben zwei ausländische Unternehmen Aktien der KGaA im Umfang von nominal jeweils 5 Mio. RM, die sie ab 1933 schrittweise wieder veräußerten.


Die KGaA hatte ihren Sitz in Berlin, wobei sich die Geschäftsadresse zunächst in Berlin-Mitte - im späteren Beitrittsgebiet - befand. Sie unterlag der Ruhensanordnung des Magistrats der Stadt Berlin vom 5. Juni 1945. Im November 1946 wurde einer ihrer Prokuristen gerichtlich als Notvertreter bestellt. Mit der Konzernverordnung vom 10. Mai 1949 wurde sie im Beitrittsgebiet in Volkseigentum überführt. Im Oktober 1949 beantragte sie beim Landgericht Berlin die Feststellung, dass die gesetzlichen Voraussetzungen für die Wertpapierbereinigung gegeben seien. Das Landgericht erließ Anfang November 1949 einen entsprechenden Beschluss. 1950 wurde die Bestellung des Notvertreters aufgehoben. Im Oktober 1953 erfolgte im Handelsregister die Eintragung, dass Frankfurt am Main als Sitz für die Geschäftstätigkeit der Gesellschaft im Währungsgebiet gelte.


Die Klägerin beantragte die Gewährung einer Entschädigung für den verfolgungsbedingten Verlust der Aktien in den 1930er Jahren. Nach erfolglos durchgeführtem Verwaltungsverfahren hat das Verwaltungsgericht die Klage abgewiesen. Der räumliche Anwendungsbereich des Vermögensgesetzes sei nicht eröffnet, da die Aktien nach der Entziehung und vor Inkrafttreten des Vermögensgesetzes aus dem Beitrittsgebiet in den Geltungsbereich des alliierten Rückerstattungsrechts verbracht worden und in dessen Anwendungsbereich gefallen seien. Der Sitz der KGaA sei - wenn auch nicht handelsrechtlich, so doch zumindest - faktisch vor Ablauf der Anmeldefrist in den Geltungsbereich des alliierten Rückerstattungsrechts verlegt worden. Spätestens mit der Bestellung eines Notvertreters habe sie einen Sitz in Berlin (West) gehabt. Es komme nicht darauf an, ob hinsichtlich der entzogenen Beteiligung eine Rückgabe möglich gewesen sei oder jedenfalls Aussicht auf Rückgabe bestanden hätte. Es genüge, dass das Rückerstattungsrecht für die Fallkonstellation überhaupt eine Regelung bereitgestellt habe. Das sei hier der Fall. Darauf, ob bereits die Einbeziehung in die Wertpapierbereinigung allein die Anwendbarkeit des Vermögensgesetzes ausschließe, komme es nicht an.


Mit ihrer vom Bundesverwaltungsgericht zugelassenen Revision verfolgt die Klägerin ihr Ziel weiter. Das Bundesverwaltungsgericht wird im Revisionsverfahren voraussichtlich die Frage zu klären haben, ob eine Beendigung des nach § 1 Abs. 6 Vermögensgesetz erforderlichen räumlichen Bezugs einer Anteilsschädigung zum Beitrittsgebiet durch Sitzverlegung des dort ansässigen Emittenten in den räumlichen Geltungsbereich des alliierten Rückerstattungsrechts eine Verlegung seines satzungsmäßigen Sitzes dorthin voraussetzt.


Pressemitteilung Nr. 94/2025 vom 10.12.2025

Vermögensrechtliche Wiedergutmachung bei Sitzverlegung einer Kapitalgesellschaft

Der verfolgungsbedingte Verlust von Aktienanteilen an einer in Berlin (Ost) ansässigen Bank in der NS-Zeit kann Wiedergutmachungsansprüche in entsprechender Anwendung von § 1 Abs. 6 Vermögensgesetz (VermG) begründen, wenn der Sitz der Bank erst nach Ablauf der rückerstattungsrechtlichen Anmeldefristen nach Berlin (West) oder Westdeutschland verlegt wurde. Das hat das Bundesverwaltungsgericht in Leipzig heute entschieden.


Die Klägerin macht Entschädigungsansprüche wegen des verfolgungsbedingten Verlusts von Aktienbeteiligungen an einer Berliner Bank im Zeitraum von 1933 bis 1937 geltend. Die Bank hatte ihren Sitz im späteren Beitrittsgebiet in Berlin-Mitte. Nach ihrer Beschlagnahme durch die sowjetische Besatzungsmacht wurde einer ihrer Prokuristen in Berlin (West) zum Notvertreter bestellt. Seine Vertretungsbefugnis erstreckte sich nicht auf das Vermögen der Bank im sowjetischen Sektor. Zu einer satzungsgemäßen Sitzverlegung kam es nicht vor Ablauf der Anmeldefristen für rückerstattungsrechtliche Wiedergutmachungsansprüche.


Das Bundesamt für zentrale Dienste und offene Vermögensfragen lehnte die von der Klägerin geltend gemachten Ansprüche für den verfolgungsbedingten Verlust der Anteile ab. Das Verwaltungsgericht hat die Klage abgewiesen. Mit der Bestellung des Notvertreters sei ein Sitz der Bank in Berlin (West), im Geltungsbereich des alliierten Rückerstattungsrechts, begründet worden. Deshalb seien das Vermögensgesetz und das daran anknüpfende NS-Verfolgtenentschädigungsgesetz nicht anwendbar.


Die Revision der Klägerin hatte Erfolg. § 1 Abs. 6 VermG ist entsprechend anzuwenden, wenn im Beitrittsgebiet entzogene Vermögenswerte vor Inkrafttreten des Vermögensgesetzes, aber erst nach Ablauf der rückerstattungsrechtlichen Anmeldefristen nach Berlin (West) oder Westdeutschland verbracht wurden. Aktienanteile sind am Sitz der jeweiligen Gesellschaft belegen. Dieser befand sich bei der geltend gemachten Entziehung der Aktien in Berlin (Ost). Zur Sitzverlegung reichte die Bestellung eines Notvertreters nicht aus. Dazu ist ein konstitutiver Akt, etwa ein Beschluss der satzungsrechtlich zuständigen Organe, erforderlich. Bis zum maßgeblichen Stichtag 30. Juni 1950 waren diese Voraussetzungen nicht erfüllt.


Da das angegriffene Urteil keine Feststellungen zu den sonstigen Anspruchsvoraussetzungen getroffen hat, musste die Sache an das Verwaltungsgericht zurückverwiesen werden.


BVerwG 8 C 6.24 - Urteil vom 10. Dezember 2025

Vorinstanz:

VG Berlin, VG 29 K 230/20 - Urteil vom 14. Dezember 2023 -


Beschluss vom 13.11.2024 -
BVerwG 8 B 8.24ECLI:DE:BVerwG:2024:131124B8B8.24.0

  • Zitiervorschlag

    BVerwG, Beschluss vom 13.11.2024 - 8 B 8.24 - [ECLI:DE:BVerwG:2024:131124B8B8.24.0]

Beschluss

BVerwG 8 B 8.24

  • VG Berlin - 14.12.2023 - AZ: 29 K 230/20

In der Verwaltungsstreitsache hat der 8. Senat des Bundesverwaltungsgerichts am 13. November 2024 durch die Vorsitzende Richterin am Bundesverwaltungsgericht Dr. Held-Daab, die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Hoock und den Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Meister beschlossen:

  1. Die Entscheidung des Verwaltungsgerichts Berlin über die Nichtzulassung der Revision gegen sein Urteil vom 14. Dezember 2023, berichtigt durch Beschluss vom 25. Januar 2024, wird aufgehoben.
  2. Die Revision wird zugelassen.
  3. Die Entscheidung über die Kosten des Beschwerdeverfahrens folgt der Kostenentscheidung in der Hauptsache.
  4. Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwerdeverfahren und für das Revisionsverfahren - insoweit vorläufig - auf jeweils 500 000 € festgesetzt.

Gründe

1 Die zulässige Beschwerde ist begründet. Der Rechtssache kommt die geltend gemachte grundsätzliche Bedeutung zu (§ 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO). Die Beschwerdebegründung führt auf die Frage, ob eine Beendigung des nach § 1 Abs. 6 VermG erforderlichen räumlichen Bezugs einer Anteilsschädigung zum Beitrittsgebiet durch Sitzverlegung des dort ansässigen Emittenten in den räumlichen Geltungsbereich des alliierten Rückerstattungsrechts eine Verlegung seines satzungsmäßigen Sitzes dorthin voraussetzt.

2 Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 47 Abs. 1 und 3 i. V. m. § 52 Abs. 1 und Abs. 4 Nr. 3, § 63 Abs. 1 GKG.

Rechtsbehelfsbelehrung


Das Beschwerdeverfahren wird als Revisionsverfahren unter dem Aktenzeichen BVerwG 8 C 6.24 fortgesetzt. Der Einlegung einer Revision durch den Beschwerdeführer bedarf es nicht.
Die Revision ist innerhalb eines Monats nach Zustellung dieses Beschlusses zu begründen. Die Begründung ist bei dem Bundesverwaltungsgericht in Leipzig einzureichen.
Für die Beteiligten besteht Vertretungszwang; dies gilt auch für die Begründung der Revision. Die Beteiligten müssen sich durch Bevollmächtigte im Sinne von § 67 Abs. 4 Satz 3 bis 6 VwGO, § 5 Nr. 6 Alt. 2 RDGEG vertreten lassen.