Urteil vom 06.12.2022 -
BVerwG 4 C 7.21ECLI:DE:BVerwG:2022:061222U4C7.21.0
Unzulässige Entscheidung durch Beschluss ohne mündliche Verhandlung im Berufungsverfahren.
Leitsatz:
Im Berufungsverfahren ist eine mündliche Verhandlung grundsätzlich geboten, wenn für die Entscheidung des Berufungsgerichts neue, im erstinstanzlichen Verfahren noch nicht angesprochene Rechtsfragen oder Tatsachen entscheidungserheblich werden.
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Rechtsquellen
GG Art. 103 Abs. 1 VwGO § 101 Abs. 1 Satz 1, § 108 Abs. 2, § 125 Abs. 1 Satz 1, §§ 130a, 138 Nr. 3 BauGB § 1 Abs. 1 und 3, §§ 8, 10, 11 Abs. 2 Satz 1, § 33 Abs. 1 Nr. 3 BGB §§ 133, 157 -
Instanzenzug
VG Gelsenkirchen - 21.02.2019 - AZ: 5 K 4808/16
OVG Münster - 25.11.2020 - AZ: 10 A 1230/19
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Zitiervorschlag
BVerwG, Urteil vom 06.12.2022 - 4 C 7.21 - [ECLI:DE:BVerwG:2022:061222U4C7.21.0]
Urteil
BVerwG 4 C 7.21
- VG Gelsenkirchen - 21.02.2019 - AZ: 5 K 4808/16
- OVG Münster - 25.11.2020 - AZ: 10 A 1230/19
In der Verwaltungsstreitsache hat der 4. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
auf die mündliche Verhandlung vom 6. Dezember 2022
durch die Vorsitzende Richterin am Bundesverwaltungsgericht Schipper und
die Richter am Bundesverwaltungsgericht Brandt, Dr. Decker,
Prof. Dr. Külpmann und die Richterin am Bundesverwaltungsgericht
Dr. Emmenegger
für Recht erkannt:
- Auf die Revision der Klägerin wird der Beschluss des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 25. November 2020 aufgehoben.
- Die Sache wird zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen zurückverwiesen.
- Die Entscheidung über die Kosten bleibt der Schlussentscheidung vorbehalten.
Gründe
I
1 Die Klägerin begehrt einen Bauvorbescheid für die Errichtung eines Lebensmittel-Discountmarktes.
2 Das Vorhabengrundstück (Gemarkung L., Flur ..., Flurstück a) und das Nachbargrundstück (Flurstück b) gehören zum sogenannten Delphi-Gelände (vormals Flurstück c). Beide Grundstücke liegen im Geltungsbereich des Bebauungsplans Nr. 921 "Lindener Straße/Welper Straße" vom 7. März 2019, der insoweit ein Gewerbegebiet festsetzt und Einzelhandelsbetriebe ausschließt. In dem Vorgänger-Bebauungsplan Nr. 206 N vom 30. Juni 2005 ("1. Änderung und Ergänzung des Bebauungsplanes Nr. 206") war ebenfalls ein Gewerbegebiet unter Ausschluss von Einzelhandel festgesetzt.
3
Im Januar 2007 schlossen die Beteiligten vor dem Verwaltungsgericht einen Vergleich. Darin verpflichtete sich die Beklagte unter anderem dazu, der Klägerin einen bauplanungsrechtlichen Vorbescheid für einen Lebensmittel-Discountmarkt auf dem heutigen Flurstück b zu erteilen. In Nummer 4 Buchstabe a der Anlage 5 zum Vergleich wurde vereinbart:
"Hinsichtlich der weiteren Nutzung auf dem Delphi-Gelände (Flurstück c) verpflichtet sich die Firma L. ungeachtet einer verwaltungsgerichtlich festgestellten Unwirksamkeit zur Einhaltung der Festsetzungen des Bebauungsplans 206 N."
4 Den auf der Grundlage des Vergleichs genehmigten Markt auf dem Flurstück b betrieb die Klägerin von 2007 bis 2015.
5 Im März 2016 beantragte sie einen Bauvorbescheid hinsichtlich der Art der baulichen Nutzung (unter Ausklammerung des Rücksichtnahmegebots) für einen Lebensmittel-Discountmarkt mit einer Verkaufsfläche von 1 200 m² auf dem Flurstück a. Die Beklagte lehnte den Antrag unter Verweis auf eine entgegenstehende Veränderungssperre für den Bebauungsplan Nr. 921 ab. Die Klage blieb in erster Instanz aus demselben Grund ohne Erfolg. Im Berufungsverfahren berief sich die Beklagte erstmals auf den Vergleich aus dem Jahr 2007.
6 Das Oberverwaltungsgericht hat die Berufung nach Anhörung der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung durch Beschluss nach § 130a VwGO zurückgewiesen. Die Klage sei mangels Sachbescheidungsinteresses unbegründet. Die Bestimmung in Nummer 4 Buchstabe a der Anlage 5 zum Vergleich stehe einer Verwertung des begehrten Bauvorbescheids entgegen. Die Vergleichsbestimmung sei wirksam, auf Verwirkung könne sich die Klägerin nicht berufen.
7 Hiergegen richtet sich die Revision der Klägerin. Das Oberverwaltungsgericht habe verfahrensfehlerhaft ohne mündliche Verhandlung entschieden und so ihren Anspruch auf rechtliches Gehör und den gesetzlichen Richter verletzt. Die Vergleichsbestimmung sei unwirksam, unter anderem verstoße sie gegen den Grundsatz der Planmäßigkeit und das Gebot effektiven Rechtsschutzes. Ungeachtet dessen könne sich die Beklagte darauf wegen Verwirkung nicht mehr berufen. Da der Bebauungsplan Nr. 921 und der Vorgänger-Bebauungsplan unwirksam seien, müsse der Bauvorbescheid auf der Grundlage des § 34 BauGB erteilt werden.
8 Die Beklagte tritt der Revision entgegen.
II
9 Die Revision ist begründet. Die angegriffene Entscheidung verletzt revisibles Recht. Das Oberverwaltungsgericht hat verfahrensfehlerhaft ohne mündliche Verhandlung durch Beschluss nach § 130a Satz 1 VwGO entschieden und dadurch zugleich den Anspruch der Klägerin auf Gewährung rechtlichen Gehörs verletzt. Dies führt zur Aufhebung des angefochtenen Beschlusses und Zurückverweisung der Sache an die Vorinstanz (§ 144 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 VwGO).
10 1. a) Gemäß § 130a Satz 1 VwGO kann das Oberverwaltungsgericht über die Berufung durch Beschluss entscheiden, wenn es sie einstimmig für begründet oder einstimmig für unbegründet und eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich hält. Die verfahrensmäßigen Anforderungen nach § 130a Satz 2 i. V. m. § 125 Abs. 2 Satz 3 VwGO - Anhörung der Beteiligten, Hinweis auf die Begründetheit oder Unbegründetheit der Berufung, Gelegenheit zur Äußerung (vgl. BVerwG, Beschluss vom 13. August 2015 - 4 B 15.15 - juris Rn. 5 m. w. N.) – hat das Oberverwaltungsgericht beachtet.
11 b) Das Oberverwaltungsgericht hat aber ermessensfehlerhaft von einer mündlichen Verhandlung abgesehen.
12 aa) Die Entscheidung, ob ohne mündliche Verhandlung durch Beschluss befunden wird, steht im Ermessen des Berufungsgerichts. Die Grenzen des Ermessens sind weit gezogen. Das Revisionsgericht kann die Entscheidung lediglich darauf überprüfen, ob das Berufungsgericht von seinem Ermessen fehlerfrei Gebrauch gemacht hat. Ein Absehen von einer mündlichen Verhandlung ist nur zu beanstanden, wenn es auf sachfremden Erwägungen oder einer groben Fehleinschätzung des Berufungsgerichts beruht (stRspr, vgl. BVerwG, Urteil vom 30. Juni 2004 - 6 C 28.03 - BVerwGE 121, 211 <213> m. w. N.).
13 Obwohl § 130a VwGO keine ausdrücklichen Einschränkungen enthält, hat das Berufungsgericht bei der Ermessensausübung zu berücksichtigen, dass sich die Entscheidung aufgrund mündlicher Verhandlung im System des verwaltungsgerichtlichen Rechtsschutzes nach der Ausgestaltung des Prozessrechts als gesetzlicher Regelfall und Kernstück auch des Berufungsverfahrens erweist (§ 101 Abs. 1 Satz 1 i. V. m. § 125 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Bei der Ermessensentscheidung gemäß § 130a Satz 1 VwGO dürfen - auch in Ansehung von Art. 6 Abs. 1 EMRK - die Funktionen der mündlichen Verhandlung und ihre daraus erwachsende Bedeutung für den Rechtsschutz nicht aus dem Blick geraten. Grundsätzlich soll die gerichtliche Entscheidung das Ergebnis eines diskursiven Prozesses zwischen Gericht und Beteiligten im Rahmen einer mündlichen Verhandlung sein. Das Rechtsgespräch erfüllt unter anderem den Zweck, die Ergebnisrichtigkeit der gerichtlichen Entscheidung zu fördern. Das Gebot, die Rechtssache auch im Interesse der Ergebnisrichtigkeit mit den Beteiligten zu erörtern, wird umso stärker, je schwieriger die vom Gericht zu treffende Entscheidung ist. Die Grenzen des Ermessens sind daher erreicht, wenn im vereinfachten Berufungsverfahren ohne mündliche Verhandlung entschieden wird, obwohl die Sache in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht nach den Gesamtumständen des Einzelfalls außergewöhnliche Schwierigkeiten aufweist (vgl. BVerwG, Urteile vom 30. Juni 2004 - 6 C 28.03 - BVerwGE 121, 211 <217> und vom 9. Dezember 2010 - 10 C 13.09 - BVerwGE 138, 289 Rn. 23 f. sowie Beschluss vom 8. Juli 2022 - 9 B 33.21 - juris Rn. 6). Zudem ist eine mündliche Verhandlung im Berufungsverfahren grundsätzlich dann geboten, wenn für die Entscheidung des Berufungsgerichts neue, im erstinstanzlichen Verfahren noch nicht angesprochene Rechtsfragen oder Tatsachen entscheidungserheblich werden. In diesem Fall müssen die Beteiligten die Gelegenheit erhalten, sich zu den neuen entscheidungserheblichen Fragen in einer mündlichen Verhandlung vor dem Berufungsgericht zu äußern. Das gilt für neue Rechtsfragen ebenso wie für neue Tatsachenfragen, weil zu beidem rechtliches Gehör in prozessordnungsgemäßer Form zu gewähren ist. Für die Beurteilung der Entscheidungserheblichkeit muss von der materiell-rechtlichen Rechtsauffassung des Berufungsgerichts ausgegangen werden (vgl. BVerwG, Beschlüsse vom 18. Dezember 2014 - 8 B 47.14 - Buchholz 310 § 130a VwGO Nr. 85 Rn. 7 und vom 13. August 2015 - 4 B 15.15 - juris Rn. 7).
14 bb) Daran gemessen beruhte die Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts, von einer mündlichen Verhandlung abzusehen, auf einer groben Fehleinschätzung. Das Oberverwaltungsgericht hat entscheidungstragend auf den Vergleich aus dem Jahr 2007 abgestellt. Dessen Existenz sowie die hieraus folgenden, zwischen den Beteiligten umstrittenen Rechts- und Tatsachenfragen - insbesondere die sachliche und zeitliche Reichweite der Bestimmung in Nummer 4 Buchstabe a der Anlage 5 zum Vergleich, ihre Wirksamkeit und die Frage der Verwirkung - sind im erstinstanzlichen Verfahren vor dem Verwaltungsgericht nicht thematisiert, geschweige denn in der mündlichen Verhandlung am 21. Februar 2019 erörtert worden.
15 Der Vergleich wurde erst Gegenstand des Verfahrens, nachdem der Berichterstatter im Berufungsverfahren nach Außerkrafttreten der erstinstanzlich entscheidungserheblichen Veränderungssperre angefragt hatte, ob die Beteiligten mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden sind. Zur Begründung führte er aus, dass der Bebauungsplan Nr. 921 wegen fehlerhafter Emissionskontingentierung insgesamt unwirksam sein und die Klägerin daher nach § 34 BauGB einen Anspruch auf den begehrten Bauvorbescheid haben dürfte. Daraufhin legte die Beklagte den Vergleich vor und machte geltend, dass die Klage wegen der in Nummer 4 Buchstabe a der Anlage 5 eingegangenen Bindung der Klägerin an die Festsetzungen des Bebauungsplans Nr. 206 N keinen Erfolg haben könne. Hierzu wechselten die Beteiligten weitere Schriftsätze, in denen sie ihre unterschiedlichen Auffassungen zur Auslegung der Vergleichsbestimmung darlegten.
16 Bei diesem Verfahrensstand hörte das Oberverwaltungsgericht die Beteiligten zu einer Entscheidung durch Beschluss ohne mündliche Verhandlung nach § 130a VwGO an: Der Senat halte die Berufung einstimmig für unbegründet. Der Klägerin dürfte wegen der Vergleichsbestimmung das Sachbescheidungsinteresse für die Bauvoranfrage fehlen. Ihre Vergleichsauslegung überzeuge nicht; insoweit wurde unter anderem auf die schriftsätzlichen Ausführungen der Beklagten verwiesen. Die Klägerin nahm dazu Stellung und vertiefte ihr Vorbringen zur Auslegung des Vergleichs, zur Verwirkung und zur Unwirksamkeit der Vergleichsbestimmung wegen eines Verstoßes gegen - im Einzelnen näher benannte - gesetzliche Verbote; zudem bat sie um Durchführung einer mündlichen Verhandlung. Die Beklagte trat dem entgegen.
17 Demnach waren zu der vom Oberverwaltungsgericht entscheidungstragend zu Grunde gelegten Vergleichsbestimmung zahlreiche Rechts- und Tatsachenfragen aufgeworfen, die erörterungsbedürftig und zuvor nicht Gegenstand einer mündlichen Verhandlung waren. Die Einschätzung des Oberverwaltungsgerichts, hierüber könne nach Aktenlage entschieden werden, war grob fehlerhaft. Hauptstreitpunkt zwischen den Beteiligten war zunächst die Auslegung des Vergleichs. Eine Auslegung, die den Anforderungen der §§ 133, 157 BGB gerecht wird, darf nicht bei den Buchstaben des Vertragstextes stehen bleiben, sondern muss erforschen, wie der maßgebliche Wille der Beteiligten bei objektiver Würdigung zu verstehen ist. Dafür können auch Motive, Hintergrund und Begleitumstände des Vertragsschlusses zu berücksichtigen sein (vgl. BVerwG, Urteile vom 19. Januar 1990 - 4 C 21.89 - BVerwGE 84, 257 <264> und vom 18. Mai 2021 - 4 C 6.19 - NVwZ 2021, 1713 Rn. 21 m. w. N.). Feststellungen dazu lassen sich regelmäßig nicht ohne mündliche Erörterung mit den Vertragsparteien treffen. Gleiches gilt für die Umstände, die zur Beurteilung einer möglichen Verwirkung von Bedeutung sein können. Auf der Grundlage entsprechender Sachverhaltsermittlungen hätten zudem die von der Klägerin aufgeworfenen - angesichts der einmonatigen Stellungnahmefrist teils nur angerissenen - Rechtsfragen einer vertieften Erörterung in einer mündlichen Verhandlung bedurft.
18 Das Fehlen einer Berufungsverhandlung spiegelt sich auch in den Gründen des Beschlusses wider. Sie befassen sich bei der Auslegung des Vergleichs nur mit dem sachlichen Anwendungsbereich. Dagegen werden weder der Zweck des Vergleichs noch die zeitliche Geltung der Vergleichsbestimmung unter Nummer 4 Buchstabe a der Anlage 5 näher betrachtet. Auch zur Unwirksamkeit der Vergleichsbestimmung und zur Verwirkung verhält sich der Beschluss nur kursorisch. Seiner Aufgabe als Tatsacheninstanz ist das Oberverwaltungsgericht damit nicht gerecht geworden. Besonders augenfällig geworden ist dies in der mündlichen Verhandlung vor dem erkennenden Senat, in der sich die Kontroverse der Beteiligten über den Inhalt des Vergleichs fortgesetzt hat.
19 c) Da die Voraussetzungen für ein Absehen von der mündlichen Verhandlung auf der Grundlage des § 130a Satz 1 VwGO nicht vorlagen, verstößt der angefochtene Beschluss gegen § 101 Abs. 1 Satz 1 i. V. m. § 125 Abs. 1 Satz 1 VwGO. Eine unter Verstoß gegen § 101 Abs. 1 Satz 1 VwGO ergangene Entscheidung verletzt zugleich den Anspruch der Beteiligten auf Gewährung rechtlichen Gehörs (§ 108 Abs. 2 VwGO, Art. 103 Abs. 1 GG) und stellt damit einen absoluten Revisionsgrund im Sinne von § 138 Nr. 3 VwGO dar. Die Gehörsverletzung erfasst die Berufungsentscheidung in ihrer Gesamtheit und lässt sich nicht auf einzelne Tatsachenfeststellungen eingrenzen; in solchen Fällen findet § 144 Abs. 4 VwGO keine Anwendung (vgl. BVerwG, Urteile vom 30. Juni 2004 - 6 C 28.03 - BVerwGE 121, 211 <221> m. w. N. und vom 9. Dezember 2010 - 10 C 13.09 - BVerwGE 138, 289 Rn. 26 f.). Ob das Oberverwaltungsgericht zugleich das Recht auf den gesetzlichen Richter verletzt hat und damit auch der absolute Revisionsgrund des § 138 Nr. 1 VwGO vorliegt, weil es bei einer mündlichen Verhandlung in anderer Besetzung hätte entscheiden müssen (vgl. § 109 Abs. 1 JustG NRW), kann dahinstehen (offen gelassen in BVerwG, Urteil vom 21. März 2000 - 9 C 39.99 - BVerwGE 111, 69 <73>; vgl. auch Neumann/Korbmacher, in: Sodan/Ziekow, VwGO, 5. Auflage 2018, § 138 Rn. 38).
20 2. Für die auf der Grundlage einer Berufungsverhandlung zu treffende Entscheidung weist der Senat auf Folgendes hin:
21 Ausgangspunkt ist die nach o. a. Maßstäben vorzunehmende Auslegung des Vergleichs. Maßgeblich ist, ob die Vergleichsbestimmung die Erteilung des begehrten Bauvorbescheids ausschließt.
22 Wenn die Beklagte sich mit der Vergleichsbestimmung unter Nummer 4 Buchstabe a der Anlage 5 gegenüber der Klägerin an die Festsetzungen des Bebauungsplans Nr. 206 N binden und insoweit auf ihr Planungsrecht verzichten wollte, verstieße dies gegen § 1 Abs. 3 Satz 2 Halbs. 2 und Abs. 8 BauGB (vgl. BVerwG, Beschlüsse vom 28. Dezember 2005 - 4 BN 40.05 - Buchholz 406.11 § 1 BauGB Nr. 123 Rn. 5 und vom 2. Januar 2012 - 4 BN 32.11 - ZfBR 2012, 259 Rn. 7 m. w. N.). Eine solche Auslegung erscheint angesichts des Wortlauts der Bestimmung und der Verfasser des Vergleichs fernliegend.
23 Unzulässig wäre auch eine Vergleichsregelung, die den Bauantragsteller und die Gemeinde an die Festsetzungen eines unwirksamen Bebauungsplans bindet und damit bebauungsplanersetzende Wirkung hat. Bebauungsplanersetzende Verträge verstoßen gegen den Grundsatz der Planmäßigkeit nach § 1 Abs. 1 und Abs. 3 Satz 1 BauGB (vgl. OVG Lüneburg, Urteil vom 8. März 2012 - 12 LB 244/10 - ZfBR 2012, 371 <371 f.>; VGH Mannheim, Urteil vom 7. Juli 2017 - 5 S 1867/15 - NVwZ-RR 2017, 793 <795>; Bank, in: Brügelmann, BauGB, Stand Oktober 2022, § 11 Rn. 50a; Krautzberger, in: Ernst/Zinkahn/Bielenberg/Krautzberger, BauGB, Stand August 2022, § 11 Rn. 43; Battis, in: Battis/Krautzberger/Löhr, BauGB, 15. Aufl. 2022 § 1 Rn. 18; Kukk, in: Schrödter, BauGB, 9. Aufl. 2019, § 11 Rn. 38).
24 Eine zwingende Grenze folgt ferner aus dem über § 10 BauGB geltenden gewohnheitsrechtlich anerkannten Rechtssatz, dass die spätere Norm die frühere verdrängt (vgl. BVerwG, Urteil vom 10. August 1990 - 4 C 3.90 - BVerwGE 85, 289 Ls. 1 und Beschluss vom 16. Mai 2017 - 4 B 24.16 - ZfBR 2017, 682 Rn. 4 m. w. N.). Der Vergleichsbestimmung darf daher jedenfalls dann keine Wirkung mehr beigemessen werden, wenn der von ihr in Bezug genommene Bebauungsplan Nr. 206 N durch eine wirksame Neuplanung ersetzt wird. Dagegen ist die Rechtsprechung des Senats zur zeitlichen Beschränkung eines Anerkenntnisses nach § 33 Abs. 1 Nr. 3 BauGB auf den Zeitraum bis zur Bekanntmachung (BVerwG, Urteil vom 12. Dezember 2018 - 4 C 6.17 - BVerwGE 164, 40 Rn. 22 ff.) auf die Vergleichsbestimmung nicht übertragbar. Anders als das Anerkenntnis zielt eine vergleichsweise Regelung nicht stets auf die Überbrückung eines - eher kurzen - Zeitraums bis zur Bekanntmachung eines neuen Bebauungsplans. Es ist daher eine Frage der Auslegung, ob die Wirkung eines Vergleichs mit der Bekanntmachung eines neuen Bebauungsplans auch dann enden soll, wenn sich dieser als unwirksam erweist.
25 Zu prüfen ist, ob die Vergleichsbestimmung als vertraglich vereinbarte Nutzungsbeschränkung bzw. als Verzicht auf die Geltendmachung eines bei Unwirksamkeit des Bebauungsplans Nr. 206 N möglicherweise bestehenden Baurechts verstanden werden kann (vgl. BVerwG, Beschluss vom 2. Dezember 2009 - 4 B 74.09 - ZfBR 2010, 138 Rn. 2). Für diesen Fall wird sich das Oberverwaltungsgericht mit der Zulässigkeit und Angemessenheit einer solchen Vereinbarung im gesamten Regelungskontext des Vergleichs befassen müssen (vgl. § 11 Abs. 2 Satz 1 BauGB und § 59 Abs. 1 VwVfG NW i. V. m. § 138 Abs. 2 BGB). Das gilt insbesondere für die Geltungsdauer der Vergleichsbestimmung in Nummer 4 Buchstabe a der Anlage 5.
26 Maßgeblich ist der festzustellende Vergleichszweck (s. o.): Ging es beim Abschluss des Vergleichs vorrangig darum, die Unsicherheit über die Wirkung des bestehenden Planungsrechts zu bewältigen oder sollte vorrangig der Prozess einer zukünftigen Planung gesichert werden? Im ersten Fall wäre zu prüfen, ob ein dauerhafter Verzicht die Klägerin unangemessen benachteiligt oder die Unsicherheit über das Bestehen eines Baurechts im Vergleich an anderer Stelle zu ihren Gunsten aufgelöst worden ist. Zu erwägen ist auch, ob der Vergleichsbestimmung insoweit nach dem Willen der Vergleichsparteien von vornherein eine zeitliche Begrenzung innewohnt, etwa im Sinne des in § 3 des Vergleichs geregelten fünfjährigen Moratoriums, und was aus dem Begriff "mittelfristig" in der Präambel des Vergleichs folgt. Im zweiten Fall wäre zu überlegen, ob die Aufgabe der Planungsabsichten oder das endgültige Scheitern einer Neuplanung nicht zu einem Wegfall der Geschäftsgrundlage führen.