Beschluss vom 08.06.2020 -
BVerwG 1 B 19.20ECLI:DE:BVerwG:2020:080620B1B19.20.0
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Zitiervorschlag
BVerwG, Beschluss vom 08.06.2020 - 1 B 19.20 - [ECLI:DE:BVerwG:2020:080620B1B19.20.0]
Beschluss
BVerwG 1 B 19.20
- VG Ansbach - 06.12.2018 - AZ: VG AN 17 K 18.50438
- VGH München - 12.02.2020 - AZ: VGH 14 B 19.50010
In der Verwaltungsstreitsache hat der 1. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 8. Juni 2020
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Berlit und die Richterinnen am Bundesverwaltungsgericht Dr. Rudolph und
Dr. Wittkopp
beschlossen:
- Die Beschwerde der Beklagten gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Urteil des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs vom 12. Februar 2020 wird zurückgewiesen.
- Die Beklagte trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
Gründe
1 Die Beschwerde, mit der eine grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache (§ 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) geltend gemacht wird, bleibt ohne Erfolg.
2 Eine Rechtssache hat grundsätzliche Bedeutung im Sinne des § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO, wenn sie eine abstrakte, in dem zu entscheidenden Fall erhebliche Frage des revisiblen Rechts mit einer über den Einzelfall hinausgehenden allgemeinen Bedeutung aufwirft, die im Interesse der Einheitlichkeit der Rechtsprechung oder im Interesse der Rechtsfortbildung in einem Revisionsverfahren geklärt werden muss. Diese Voraussetzungen sind nicht erfüllt, wenn sich die aufgeworfene Frage im Revisionsverfahren nicht stellen würde, wenn sie bereits geklärt ist bzw. aufgrund des Gesetzeswortlauts mithilfe der üblichen Regeln sachgerechter Auslegung und auf der Grundlage der einschlägigen Rechtsprechung ohne Durchführung eines Revisionsverfahrens beantwortet werden kann oder wenn sie einer abstrakten Klärung nicht zugänglich ist (BVerwG, Beschlüsse vom 1. April 2014 - 1 B 1.14 - juris und vom 14. Februar 2018 - 1 B 1.18 - juris Rn. 3).
3
Daran gemessen ist die Revision nicht zur Klärung der von der Beschwerde aufgeworfenen Rechtsfrage zuzulassen,
"unter welchen Voraussetzungen sich das föderale Bund-Ländersystem und der Nichtvollzug durch den Staat bei offenem Kirchenasyl auf die Auslegung des Begriffes 'Flüchtig sein' in Art. 29 Abs. 2 Satz 2 Alt. 2 Dublin III-VO bzw. auf den Rechtsbegriff Staat im Rahmen der Kausalität auswirkt".
4 Das Berufungsgericht hat ein "Flüchtigsein" der Kläger im Einklang mit der Rechtsprechung anderer Oberverwaltungsgerichte verneint. Zur Begründung hat es ausgeführt, der Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) habe mit Urteil vom 19. März 2019 - C-163/17 - geklärt, dass ein Antragsteller flüchtig im Sinne von Art. 29 Abs. 2 Satz 2 Alt. 2 Dublin III-VO sei, wenn er sich den für die Überstellung zuständigen nationalen Behörden entziehe, um die Überstellung zu vereiteln. Dies könne angenommen werden, wenn die Überstellung nicht durchgeführt werden könne, weil ein Asylantragsteller die ihm zugewiesene Wohnung verlassen habe, ohne die zuständigen nationalen Behörden über seine Abwesenheit zu informieren, sofern er über die ihm obliegenden Pflichten unterrichtet worden sei. Nach dieser Entscheidung müsse die Flucht kausal für die Nichtdurchführbarkeit der Überstellung sein. Daran fehle es, wenn im offenen Kirchenasyl den Behörden die Adresse des Asylbewerbers bekannt sei. Der Staat sei durch das Kirchenasyl weder rechtlich noch tatsächlich daran gehindert, die Überstellung durchzuführen.
5 In Bezug auf die Klärung des Begriffs des "Flüchtigseins" durch das herangezogene Urteil des EuGH und das Verständnis dieser Entscheidung, die das Berufungsgericht seiner Rechtsanwendung zugrunde gelegt hat, als solches wirft die Beschwerde grundsätzlicher Klärung bedürftige Rechtsfragen nicht auf. Sie hält der Sache nach lediglich für klärungsbedürftig, ob sich daran, dass die rechtliche Möglichkeit einer Überstellung durch "den Staat" einem "Flüchtigsein" des Asylbewerbers im offenen Kirchenasyl entgegensteht, dadurch etwas ändert, dass in einem föderativ strukturierten Mitgliedstaat die behördlichen Zuständigkeiten für die Durchführung des Asyl- bzw. Dublin-Verfahrens einerseits und für die Durchführung der Überstellung andererseits auseinanderfallen und der erstgenannten Behörde bzw. dem Bund als ihrem Rechtsträger nur eingeschränkte Weisungsbefugnisse gegenüber den letztgenannten, den Ländern zuzurechnenden Behörden zustehen. Damit wird ein grundsätzlicher Klärungsbedarf indes nicht aufgezeigt.
6 Es liegt auf der Hand und bedarf keiner Klärung in einem Revisionsverfahren, dass die Besonderheiten der deutschen Verwaltungsorganisation im Bereich des Dublin-Verfahrens die Auslegung des unionsrechtlichen Rechtsbegriffs "flüchtig" i.S.v. Art. 29 Abs. 2 Satz 2 Dublin III-VO nicht beeinflussen können. In der Rechtsprechung des EuGH ist geklärt, dass es im vorliegenden Zusammenhang auf die für die Durchführung der Überstellung zuständigen Behörden ankommt; ihnen muss sich der Antragsteller gezielt entziehen, um die Überstellung (durch sie) zu vereiteln (vgl. EuGH, Urteil vom 19. März 2019 - C-163/17 [ECLI:EU:C:2019:218] - Rn. 70). Verzichten diese (Landes)Behörden auf eine Überstellung von Personen im Kirchenasyl, obwohl sie an einer Überstellung rechtlich nicht gehindert wären, ist die Überstellung rechtlich nicht unmöglich. Das gilt auch dann, wenn das für die Durchführung des Dublin-Verfahrens zuständige Bundesamt eine zwangsweise Durchsetzung der Überstellung aus dem Kirchenasyl befürwortet (was mit der Beschwerde im Übrigen nicht einmal ausdrücklich vorgetragen wird) und dies lediglich nicht durchsetzen kann.
7 Mit Art. 29 Dublin III-VO, der den Zuständigkeitsübergang auf den ersuchten Mitgliedstaat nach Ablauf bestimmter Fristen regelt, sollen die Interessen des Asylbewerbers und des zuständigen Mitgliedstaats an einer raschen endgültigen Zuständigkeitsbestimmung einerseits und das Interesse des ersuchenden Mitgliedstaats an einem hinreichenden Zeitraum für die praktische Durchführung der - rechtlich und tatsächlich möglichen - Überstellung andererseits austariert werden. Der ersuchende Mitgliedstaat wird dabei nur als solcher in den Blick genommen; auf seine aus einem föderalen Staatsaufbau folgende Verwaltungsbinnenorganisation kommt es aus der Sicht der - einheitlich auszulegenden - unionsrechtlichen Regelungen nicht an. Das Verhalten der für die Durchführung der Überstellung zuständigen Landesbehörden fällt deshalb in diesem Zusammenhang offensichtlich nicht in die Verantwortungssphäre des Asylbewerbers oder des zuständigen Mitgliedstaats, sondern in die der staatlich verfassten öffentlichen Gewalt in der Bundesrepublik Deutschland insgesamt und ist damit auch der Beklagten zuzurechnen.
8 Von einer weiteren Begründung wird abgesehen (§ 133 Abs. 5 Satz 2 Halbs. 2 VwGO).
9 Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO. Gerichtskosten werden gemäß § 83b AsylG nicht erhoben. Der Gegenstandswert ergibt sich aus § 30 Abs. 1 Satz 1 RVG. Gründe für eine Abweichung gemäß § 30 Abs. 2 RVG liegen nicht vor.