Beschluss vom 08.11.2021 -
BVerwG 9 A 8.21ECLI:DE:BVerwG:2021:081121B9A8.21.0

  • Zitiervorschlag

    BVerwG, Beschluss vom 08.11.2021 - 9 A 8.21 - [ECLI:DE:BVerwG:2021:081121B9A8.21.0]

Beschluss

BVerwG 9 A 8.21

In der Verwaltungsstreitsache hat der 9. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 8. November 2021
durch den Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Dieterich
als Berichterstatter gemäß § 87a Abs. 1 und 3 VwGO
beschlossen:

Auf Antrag des Beklagten wird das Verfahren ausgesetzt, bis das vom Beklagten angekündigte ergänzende Verwaltungsverfahren zur Behebung des bei der wasserrechtlichen Öffentlichkeitsbeteiligung aufgetretenen Verfahrensfehlers abgeschlossen ist.

Gründe

I

1 Der Beklagte hat mit Schreiben vom 18. August 2021 beantragt, das gegen den Planfeststellungsbeschluss der Bezirksregierung Arnsberg vom 22. Dezember 2020 seit April 2021 bei Gericht anhängige Klageverfahren auszusetzen, um im Rahmen eines ergänzenden Verfahrens die wasserrechtlichen Verfahrensunterlagen zu ergänzen, weil bislang noch keine den Vorgaben der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union und des Bundesverwaltungsgerichts (Urteil vom 30. November 2020 - 9 A 5.20 - NVwZ 2021, 487) genügende wasserrechtliche Untersuchung insbesondere zur Abwasserbehandlung vorliege; zur Einbeziehung dieser Untersuchung in die Planfeststellungsunterlagen sei eine Öffentlichkeitsbeteiligung erforderlich. Der Kläger wendet sich gegen den Aussetzungsantrag und dringt auf eine zeitnahe Entscheidung in der Sache.

II

2 Das Verfahren wird nach § 4 Abs. 1b Satz 3 UmwRG ausgesetzt. Die Tatbestandsvoraussetzungen der Norm, die nicht gegen höherrangiges Recht verstößt (2.), sind erfüllt (1.). Die Aussetzung ist hier im Interesse der Verfahrenskonzentration sachdienlich (3.).

3 1. Die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 4 Abs. 1b Satz 3 UmwRG liegen vor. Die Vorschrift bezieht sich ihrem Wortlaut nach auf die Heilung von Verfahrensfehlern und steht systematisch im Zusammenhang der Rechtsfolgen solcher Fehler bei Entscheidungen über die Zulässigkeit eines Vorhabens nach § 1 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 bis 2b UmwRG. Unter Verfahrensfehlern werden herkömmlich solche Verstöße gegen Rechtsvorschriften gefasst, die den Ablauf des Verwaltungsverfahrens (vgl. § 9 VwVfG) betreffen; hierzu gehören etwa Regelungen über den Beginn des Verfahrens, die Beteiligung anderer Behörden und der Öffentlichkeit sowie sonstige Verfahrensschritte (BVerwG, Beschluss vom 8. Mai 2018 - 9 A 12.17 - DVBl 2018, 1232 Rn. 3). Bei der vom Beklagten beabsichtigten Ergänzung der Planfeststellungsunterlagen um wasserrechtliche Untersuchungen zur Berücksichtigung der Vorgaben des Art. 4 Abs. 1 WRRL und der §§ 27, 44 und 47 WHG handelt es sich nach der ständigen Rechtsprechung des Senats (zuletzt BVerwG, Urteil vom 30. November 2020 - 9 A 5.20 - NVwZ 2021, 487 Rn. 35 ff.) um einen Verfahrensschritt, der einer Öffentlichkeitsbeteiligung bedarf.

4 Entgegen der Auffassung des Klägers führt zu keiner anderen Beurteilung, dass zugleich auch materiell-rechtliche Fehler des Beschlusses geheilt werden können, etwa dadurch, dass zusätzliche Regenrückhaltebecken mit Retentionsbodenfiltern geplant werden, um den Anforderungen der Oberflächengewässerverordnung zu genügen (siehe dazu etwa die Urteile des Senats vom 27. November 2018 - 9 A 8.17 - BVerwGE 163, 380 Rn. 35 ff. und vom 11. Juli 2019 - 9 A 13.18 - BVerwGE 166, 132 Rn. 164 ff.). Die Vorschrift des § 4 Abs. 1b Satz 3 UmwRG enthält kein Verbot, das Verfahren auszusetzen, wenn der Beklagte im Rahmen des ergänzenden Verfahrens zur Nachholung von unterbliebenen Verfahrensschritten auch die Heilung materieller Fehler beabsichtigt (BVerwG, Beschluss vom 8. Mai 2018 - 9 A 12.17 - DVBl 2018, 1232 Rn. 5).

5 2. Die Vorschrift des § 4 Abs. 1b Satz 3 UmwRG verstößt weder gegen Art. 9 der Aarhus-Konvention (AK) oder Art. 6, 11 UVP-RL (a) noch gegen das Effektivitätsprinzip (b) oder das Äquivalenzprinzip (c).

6 a) Art. 9 AK und Art. 11 UVP-RL gewährleisten den Zugang zu einem gerichtlichen Überprüfungsverfahren für behördliche Entscheidungen. Das vom Kläger ferner in Bezug genommene Frühzeitigkeitsprinzip aus Art. 6 Abs. 1 lit. b, Abs. 2, 3, 4 und 7 AK gibt vor, dass die betroffene Öffentlichkeit in sachgerechter, rechtzeitiger und effektiver Weise über ein Vorhaben informiert wird. Die genannten Regelungen werden durch die in § 4 Abs. 1b Satz 3 UmwRG vorgesehene Möglichkeit der Aussetzung zur Fehlerheilung nicht in Frage gestellt, diese modifizieren lediglich das gerichtliche Verfahren.

7 Eine Verfahrensaussetzung ist entgegen der Auffassung des Klägers insbesondere auch im Fall der Notwendigkeit einer Öffentlichkeitsbeteiligung regelmäßig möglich. Nach § 4 Abs. 1, 1b Satz 1 und 2 Nr. 2 UmwRG i.V.m. § 75 Abs. 1a VwVfG führt unter anderem das vollständige Unterbleiben einer erforderlichen Umweltverträglichkeitsprüfung grundsätzlich nicht zur Planaufhebung, sondern lediglich zur Feststellung der Rechtswidrigkeit und Nichtvollziehbarkeit des Plans mit der Folge der Möglichkeit der Durchführung eines ergänzenden Verfahrens (BVerwG, Urteile vom 8. Januar 2014 - 9 A 4.13 - BVerwGE 149, 31 Rn. 27, vom 24. Mai 2018 - 4 C 4.17 - BVerwGE 162, 114 Rn. 35 und vom 27. September 2018 - 7 C 24.16 - UPR 2019, 183 Rn. 26, 38). Diese Vorschriften sind unionsrechtlich und verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden (BVerwG, Urteile vom 20. Dezember 2011 - 9 A 31.10 - BVerwGE 141, 282 Rn. 36 und vom 27. September 2018 - 7 C 24.16 - UPR 2019, 183 Rn. 41).

8 Der Regelung in § 4 Abs. 1b Satz 3 UmwRG lässt sich nicht entnehmen, dass ein Fehler erst gerichtlich beanstandet werden muss, bevor ein Verfahren zur Fehlerheilung durchgeführt werden kann. Das ergänzende Verfahren kann auch zur Heilung von der Behörde selbst festgestellter Defizite eingesetzt werden (BVerwG, Urteil vom 12. März 2008 - 9 A 3.06 - BVerwGE 130, 299 Rn. 31; Beschluss vom 8. Mai 2018 - 9 A 12.17 - DVBl 2018, 1232 Rn. 6 m.w.N.). Die Normtexte der Regelungen in Art. 6 und 9 AK sowie in Art. 11 UVP-RL bieten keinen Anhaltspunkt dafür, dass das Frühzeitigkeitsprinzip und die umfassende Rechtsschutzgewährleistung gebieten, statt der beantragten Aussetzung des gerichtlichen Verfahrens zur Behebung bereits erkannter Verfahrensfehler zunächst eine gerichtliche Entscheidung zur Feststellung dieser Fehler herbeizuführen.

9 Das Argument, das gerichtliche Verfahren werde ohne Aussetzung zur Fehlerheilung beschleunigt, trifft zwar auf das konkrete gerichtliche Verfahren zu; der Gesetzgeber wollte aber mit der Aussetzungsregelung das gesamte Vorhaben in den Blick nehmen. Es soll verhindert werden, dass wegen eines Vorhabens zwei gerichtliche Verfahren durchgeführt werden müssen. Dies wäre jedoch der Fall, wenn die Behörde einen selbst erkannten Fehler nicht im Laufe des Verfahrens heilen könnte.

10 b) Auch effektiver Rechtsschutz nach Art. 19 Abs. 4 GG und eine effektive Durchsetzung des Unionsrechts (Art. 4 Abs. 3 EUV) sind bei einer Verfahrensaussetzung ohne vorherige Feststellung der Rechtswidrigkeit und Nichtvollziehbarkeit des angefochtenen Planfeststellungsbeschlusses gewährleistet. Sollte - was bereits fernliegend ist - die Behörde trotz erkannter Fehler ein Vorhaben aufgrund der sofortigen Vollziehbarkeit der Genehmigung nach § 17e Abs. 2 FStrG durchführen wollen, kann der Kläger ohne Weiteres vorläufigen Rechtsschutz nach § 17e Abs. 4 FStrG erlangen (vgl. entsprechend zur gerichtlichen Feststellung der Rechtswidrigkeit und Nichtvollziehbarkeit: BVerwG, Urteil vom 20. Dezember 2011 - 9 A 31.10 - BVerwGE 141, 282 Rn. 36).

11 Die Verteilung des Prozesskostenrisikos gebietet keine andere Beurteilung. Die grundsätzliche Entscheidung des Gesetzgebers, noch während des verwaltungsgerichtlichen Verfahrens fehlerhafte Verfahrenshandlungen nachholen (§ 45 Abs. 2 VwVfG), Ermessenserwägungen ergänzen (§ 114 Satz 2 VwGO) und zur Heilung von Verfahrensfehlern das gerichtliche Verfahren auf Antrag aussetzen zu können (§ 4 Abs. 1b Satz 3 UmwRG), sowie der das Planfeststellungsrecht prägende Grundsatz der Planerhaltung einschließlich der Möglichkeit zur Fehlerbehebung durch Planergänzung oder ergänzendes Verfahren (§ 75 Abs. 1a Satz 2 VwVfG) bringen es mit sich, dass Planfeststellungsbehörden klägerischen oder gerichtlichen Hinweisen Rechnung tragen und eine zunächst begründete Klage letztlich keinen Erfolg hat. Der Umstand, dass ein Beteiligter so trotz einer zunächst erfolgversprechend erscheinenden Klage bei streitiger Entscheidung die Prozesskosten tragen müsste, zwingt zu keiner einschränkenden Anwendung dieser gesetzgeberischen Regelungen. Der Kläger kann einer erst im Prozess erfolgenden Nachbesserung durch die Abgabe einer Erledigungserklärung Rechnung tragen. Die Abwägung, ob er seine Klage stattdessen, gestützt auf weitere Kritikpunkte, aufrechterhält, erfordert zwar eine Neubewertung seiner Erfolgsaussichten, sie geht damit aber nicht über die klägerseits in jedem Verfahren ohnehin erforderliche Abschätzung des Prozesskostenrisikos hinaus (BVerwG, Beschlüsse vom 10. Oktober 2017 - 9 A 16.16 - NVwZ 2018, 181 Rn. 8 und vom 8. Mai 2018 - 9 A 12.17 - DVBl 2018, 1232 Rn. 8 f.).

12 Auch im Übrigen sind die Prozesskostenrisiken aufgrund der Vorschrift des § 4 Abs. 1b Satz 3 UmwRG nicht unfair verteilt. Ohne eine Aussetzung zur Fehlerheilung würde das voraussichtlich ergehende Feststellungsurteil zur Rechtswidrigkeit und Nichtvollziehbarkeit des Planfeststellungsbeschlusses auch die rechtskräftige Feststellung umfassen, ob der Beschluss über die Beanstandung des Gerichts hinaus an weiteren Fehlern leidet (vgl. BVerwG, Urteil vom 8. Januar 2014 - 9 A 4.13 - BVerwGE 149, 31 Rn. 28; Neumann/Külpmann, in: Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, 9. Aufl. 2018, § 75 Rn. 53). Der Beklagte muss sich also entscheiden zwischen - einerseits - dem voraussichtlichen Unterliegen im Prozess, das ihm aber Rechtssicherheit hinsichtlich eventueller weiterer Fehler vermittelt, und andererseits einer Verfahrensaussetzung, die ihm aber das Risiko nicht abnimmt, dass das Gericht in der späteren Entscheidung weitere beachtliche und nicht geheilte Fehler feststellt.

13 Der Effektivitätsgrundsatz des Unionsrechts verlangt, dass die Einhaltung der unionsrechtlichen Regelungen wirksam überprüft werden kann. Dem wird auch dann Rechnung getragen, wenn nach Klageerhebung der Beklagte ein rechtliches Defizit seiner Entscheidung erkennt und dieses während des laufenden Prozesses ausräumen will. Dagegen gibt der Effektivitätsgrundsatz keinen Anspruch darauf, vor Heilung eines Rechtsverstoßes erst einen Prozess zu gewinnen.

14 c) § 4 Abs. 1b UmwRG verstößt nicht dadurch gegen das unionsrechtliche Äquivalenzprinzip, dass die Vorschrift nur für die unter das Umwelt-Rechtsbehelfsgesetz fallenden UVP-pflichtigen Projekte weitreichende Heilungsmöglichkeiten vorsieht, nicht jedoch entsprechend bei Verfahrensverstößen, die sich nur nach nationalem Recht beurteilen. Denn Letzteres trifft nicht zu. Vielmehr verstärken § 1 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, § 4 Abs. 1 und 1b UmwRG für UVP-pflichtige Projekte als Spezialregelungen zu § 46 VwVfG den Rechtsschutz bei Verfahrensfehlern im Vergleich zu nur nach nationalem Recht zu beurteilenden Genehmigungen, und dies wird durch die Planerhaltungsvorschriften (Heilungsvorschriften) in § 4 Abs. 1b UmwRG wiederum nur teilweise (rück)eingeschränkt. Demgegenüber sind bei nur nach nationalem Recht zu beurteilenden Genehmigungen gemäß § 46 VwVfG Verfahrensfehler in weiterem Umfang bereits unbeachtlich (vgl. § 4 Abs. 1a UmwRG).

15 3. Die Regelung in § 4 Abs. 1b Satz 3 UmwRG stellt die Aussetzung bei Vorliegen der tatbestandlichen Voraussetzungen ins Ermessen des Gerichts, wenn "dies im Sinne der Verfahrenskonzentration sachdienlich ist". Damit bringt der Gesetzgeber zum Ausdruck, dass über den Streitstoff betreffend die Zulässigkeit eines Vorhabens nach § 1 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 bis 2b UmwRG aus Gründen der Prozessökonomie in einem Verfahren konzentriert entschieden werden soll. Nach Einschätzung des Senats dient es der Verfahrensbeschleunigung hier besser, den Streitstoff konzentriert gerichtlich dann zu verhandeln, wenn er vollständig ist, d.h. wenn der Beklagte die von ihm bereits erkannten Mängel bei der Behandlung der wasserrechtlichen Vorgaben behoben hat und die hierzu noch erforderliche Öffentlichkeitsbeteiligung durchgeführt worden ist. Es wäre weniger prozessökonomisch, im jetzt anhängigen gerichtlichen Verfahren den Rügen des Klägers nachzugehen, wenn gleichzeitig nicht ausgeschlossen ist, dass wegen der noch zu behandelnden wasserrechtlichen Fragen und der vorgesehenen Öffentlichkeitsbeteiligung weitere Rügen erneut gerichtlich anhängig gemacht werden. Deshalb steht auch der in § 173 Satz 1 VwGO i.V.m. § 198 GVG zum Ausdruck gebrachte Grundsatz, Gerichtsverfahren in angemessener Zeit mit einer sachlichen Entscheidung abzuschließen, einer Aussetzung vorliegend nicht entgegen.