Beschluss vom 14.08.2025 -
BVerwG 11 VR 7.25ECLI:DE:BVerwG:2025:140825B11VR7.25.0
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Zitiervorschlag
BVerwG, Beschluss vom 14.08.2025 - 11 VR 7.25 - [ECLI:DE:BVerwG:2025:140825B11VR7.25.0]
Beschluss
BVerwG 11 VR 7.25
In der Verwaltungsstreitsache hat der 11. Senat des Bundesverwaltungsgerichts am 14. August 2025 durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Külpmann, den Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Decker und die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Dr. Wiedmann beschlossen:
Das Bundesverwaltungsgericht ist für die Entscheidung des Rechtsstreits sachlich zuständig.
Gründe
1 Die Antragstellerin begehrt im Wege der einstweiligen Anordnung eine Ausnahme von einer gemeindlichen Lärmschutzverordnung. Sie möchte Vorarbeiten für Energieleitungen nach § 43 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EnWG (Offshore-Anbindungsleitung) durchführen.
2 Die Vorabentscheidung über die sachliche Zuständigkeit ergeht auf der Grundlage des § 83 Satz 1 VwGO i. V. m. § 17a Abs. 3 Satz 2 GVG.
3 Das Bundesverwaltungsgericht ist gemäß § 123 Abs. 2 Satz 1 i. V. m. § 50 Abs. 1 Nr. 6 VwGO, § 43e Abs. 4 Satz 1 und § 43 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EnWG für die Entscheidung über den Eilantrag zuständig.
4 Nach § 50 Abs. 1 Nr. 6 VwGO entscheidet das Bundesverwaltungsgericht im ersten und letzten Rechtszug unter anderem über sämtliche Streitigkeiten, die Planfeststellungsverfahren für Vorhaben betreffen, die in § 43e Abs. 4 EnWG bezeichnet sind. § 43e Abs. 4 Satz 1 EnWG benennt unter anderem Energieleitungen, die nach § 43 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EnWG planfestgestellt werden. Dies sind Hochspannungsleitungen, die zur Netzanbindung von Windenergieanlagen auf See im Sinne des § 3 Nr. 49 des Erneuerbare-Energien-Gesetzes im Küstenmeer als Seekabel und landeinwärts als Freileitung oder Erdkabel bis zu dem technisch und wirtschaftlich günstigsten Verknüpfungspunkt des nächsten Übertragungs- oder Verteilernetzes verlegt werden sollen, mit Ausnahme von Nebeneinrichtungen zu Offshore-Anbindungsleitungen. Die Leitungsvorhaben der Antragstellerin dienen einer solchen Netzanbindung.
5 Der Rechtsstreit betrifft auch das Planfeststellungsverfahren für die Vorhaben. § 50 Abs. 1 Nr. 6 VwGO hat den Zweck, die Verwirklichung von Infrastrukturvorhaben zu beschleunigen und divergierende Entscheidungen zu vermeiden. Die dort verwendete Formulierung "über sämtliche Streitigkeiten, die Planfeststellungsverfahren [...] für Vorhaben betreffen" ist weit zu verstehen. Nur dieses weite Verständnis verhindert die Aufspaltung gerichtlicher Zuständigkeiten und die damit verbundenen Verzögerungen und rechtlichen Divergenzen (vgl. BVerwG, Urteil vom 10. Juli 2025 - 7 A 3.25 - juris Rn. 10 und Beschluss vom 12. Juni 2007 - 7 VR 1.07 - NVwZ 2007, 1095 Rn. 8, vgl. auch: BT-Drs. 19/24039 S. 33: "sämtliche Streitigkeiten, die Genehmigungsverfahren für Offshore-Anbindungsleitungen nach dem EnWG ... betreffen"). Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts betrifft eine Streitigkeit das Planfeststellungsverfahren, wenn sie Teil der genehmigungsrechtlichen Bewältigung des Vorhabens ist (vgl. BVerwG, Beschlüsse vom 9. Oktober 2012 - 7 VR 10.12 - NVwZ 2013, 78 Rn. 5, vom 9. Mai 2019 - 4 VR 1.19 - NVwZ 2019, 1357 Rn. 13 und vom 24. Januar 2024 - 11 A 8.23 - NVwZ-RR 2024, 262 Rn. 4). Das ist etwa dann der Fall, wenn um Maßnahmen gestritten wird, die zeitlich und sachlich der späteren Planfeststellung oder Plangenehmigung vorausgehen, indem sie der Vorbereitung eines solchen Verfahrens dienen oder einen Ausschnitt der Probleme darstellen, die in einem laufenden Planfeststellungsverfahren zu lösen sind (vgl. BVerwG, Beschlüsse vom 12. Juni 2007 - 7 VR 1.07 - NVwZ 2007, 1095 Rn. 8 und vom 9. Oktober 2012 - 7 VR 10.12 - NVwZ 2013, 78 Rn. 5 m. w. N.). Daher entscheidet das Bundesverwaltungsgericht erstinstanzlich etwa über Duldungsanordnungen für Vorarbeiten gemäß § 44 Abs. 2 Satz 2 EnWG (vgl. BVerwG, Beschlüsse vom 17. Februar 2020 - 4 VR 1.20 - EnWZ 2020, 181 Rn. 6, vom 4. Dezember 2020 - 4 VR 4.20 - juris Rn. 6 und vom 24. Januar 2024 - 11 A 8.23 - NVwZ-RR 2024, 262 Rn. 4).
6 Bedarf es für die Durchführung notwendiger Vorarbeiten im Sinne von § 44 EnWG für ein in § 50 Abs. 1 Nr. 6 VwGO genanntes Vorhaben weiterer Zulassungen jenseits energieleitungsrechtlicher Rechtsgrundlagen, dann dienen diese Zulassungen ebenfalls der Vorbereitung eines energieleitungsrechtlichen Planfeststellungsbeschlusses und sind damit Teil der genehmigungsrechtlichen Bewältigung (vgl. BVerwG, Urteil vom 10. Juli 2025 - 7 A 3.25 - juris Rn. 10). Beantragt ein Vorhabenträger - wie hier - eine solche Zulassung unter Berufung auf die Durchführung von Vorarbeiten im Sinne des § 44 EnWG für ein in § 50 Abs. 1 Nr. 6 VwGO genanntes Vorhaben, ist der erforderliche unmittelbare Bezug zu einem konkreten Planfeststellungsverfahren hinreichend klar und eindeutig bestimmt.
Beschluss vom 19.08.2025 -
BVerwG 11 VR 7.25ECLI:DE:BVerwG:2025:190825B11VR7.25.0
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Zitiervorschlag
BVerwG, Beschluss vom 19.08.2025 - 11 VR 7.25 - [ECLI:DE:BVerwG:2025:190825B11VR7.25.0]
Beschluss
BVerwG 11 VR 7.25
In der Verwaltungsstreitsache hat der 11. Senat des Bundesverwaltungsgerichts am 19. August 2025 durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Külpmann, den Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Decker und die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Dr. Wiedmann beschlossen:
- Die Antragsgegnerin wird im Wege einstweiliger Anordnung verpflichtet, der Antragstellerin bis spätestens zum 29. August 2025 die beantragte Ausnahme gemäß § 10 Abs. 1 LanLVO für die Durchführung der in dem Antrag vom 20. Juni 2025 bezeichneten geotechnischen Untersuchungen im Zeitraum vom 1. September 2025 bis zum 30. September 2025 zu erteilen.
- Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Verfahrens.
- Der Wert des Streitgegenstandes wird auf 10 000 € festgesetzt.
Gründe
I
1 Die Antragstellerin begehrt im Wege der einstweiligen Anordnung eine Ausnahme von einer gemeindlichen Lärmschutzverordnung. Sie möchte Vorarbeiten für Energieleitungen nach § 43 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EnWG (Offshore-Anbindungsleitungen) durchführen.
2 Die Antragstellerin ist Vorhabenträgerin der Offshore-Anbindungsleitungen NOR-9-5 und NOR-x-1 im westlichen Langeoog-Korridor C6a, die Windenergieanlagen an das deutsche Stromnetz anbinden sollen. Für den Korridor wurde im Mai 2024 durch das Amt für regionale Landesentwicklung Weser-Ems der Verzicht auf eine Raumverträglichkeitsprüfung bestätigt. Der Netzanschluss besteht aus einem Offshore-Konverter in der Nordsee und Onshore-Netzverknüpfungspunkten an Land in Kusenhorst und Rommerskirchen. Konverter und Netzverknüpfungspunkte sollen durch ein See- und Landkabelsystem verbunden werden. Die Insel Langeoog soll unterirdisch im Horizontalspülbohrverfahren unterquert werden. Zur Durchführung des für die Offshore-Anbindungsleitung erforderlichen Planfeststellungsverfahrens und zur Vorbereitung der Vergabe und Bauausführung will die Antragstellerin im Abschnitt Küstenmeer (12-Seemeilen-Zone) im Bereich der vorgesehenen Querung der Insel Langeoog unter anderem geotechnische Untersuchungen durchführen (vgl. § 44 EnWG).
3 Die Antragsgegnerin, die Inselgemeinde Langeoog - ein Kurort und staatlich anerkanntes Nordseeheilbad –, hat - auf der Grundlage von § 2 NLärmSchG und § 10 NKomVG (vgl. Nds. GVBl. 2012, S. 562 ff. und Nds. GVBl. 2010, S. 576 ff.) – eine Verordnung zur Bekämpfung des Lärms erlassen (vgl. Amtsblatt für den Landkreis Wittmund vom 30. September 2013, S. 77 ff., vom 31. Januar 2017 S. 5 f., und vom 31. März 2022, S. 29, im Folgenden: LanLVO). Danach ist die Ausübung lärmender Bau- und Baunebenarbeiten in der Zeit vom 1. Juni bis zum 30. September eines jeden Jahres ganztägig unter Bußgeldbewehrung verboten (vgl. § 4 Abs. 1 LanLVO i. V. m. § 11 LanLVO), hiervon kann allerdings eine Ausnahme zugelassen werden (vgl. § 10 Abs. 1 LanLVO).
4 Die Antragstellerin hat am 20. Juni 2025 - gemeinsam mit einer im Korridor C6a parallel planenden Vorhabenträgerin - eine solche Ausnahme zur Durchführung von (unter anderem) geotechnischen Untersuchungen in Form von Kernbohrungen und einer Drucksondierung im Zeitraum vom 1. Juli bis zum 30. September 2025 für die zu errichtenden Offshore-Netzanbindungssysteme beantragt. Pro Kernbohrung wurde zunächst eine Dauer von drei bis fünf Tagen veranschlagt. Der Antrag war unter Vorbehalt der Erteilung der Befreiung von den Verboten des Gesetzes über den Nationalpark "Niedersächsisches Wattenmeer" nach § 17 NWattNPG gestellt.
5 Für die Vorhaben der Antragstellerin sollen Kernbohrungen an einem Punkt am Nordstrand, an einem Punkt in der Inselmitte und an einem Punkt im südlichen Bereich der Insel durchgeführt werden. Dazu übernimmt die Antragstellerin - aus Gründen effizienter Bündelung - im südlichen Bereich der Insel an einem weiteren Punkt Kernbohrungen für das Vorhaben der parallel planenden Vorhabenträgerin. Für die Untersuchungen veranschlagt sie zuletzt fünf Tage pro Woche an jedem Punkt, also fünfzehn Tage für die eigenen Vorhaben, fünf Tage für das parallele Vorhaben und damit zwanzig Tage insgesamt. Zudem ist für die Dauer eines halben oder eines ganzen Tages am Nordstrand eine Drucksondierung vorgesehen. Nördlich der Insel sind ferner an sechs Punkten Untersuchungen per Schiff mittels Kleinrammbohrung geplant. Seit dem 30. Juni 2025 verfügt die Antragstellerin für die geotechnischen Untersuchungen über eine vom 16. Juli 2025 bis zum 30. September 2025 befristete Befreiung nach § 17 NWattNPG i. V. m. § 67 Abs. 1 Nr. 1 und § 34 Abs. 3 Nr. 1 BNatSchG.
6 Mit Bescheid vom 17. Juli 2025 hat die Antragsgegnerin den Antrag der Antragstellerin abgelehnt. Wegen der Einzelheiten wird auf den Inhalt des Bescheides verwiesen (vgl. entsprechend § 117 Abs. 3 Satz 2 VwGO).
7 Die Antragstellerin hat Verpflichtungsklage zum Bundesverwaltungsgericht erhoben und den Erlass einer einstweiligen Anordnung beantragt. Sie begehrt, die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, bis spätestens zum 29. August 2025 die beantragte Ausnahme für die geotechnischen Untersuchungen im Zeitraum vom 1. September 2025 bis zum 30. September 2025 zu erteilen.
8 Die Antragsgegnerin tritt dem Eilantrag entgegen.
II
9 Das Bundesverwaltungsgericht ist nach dem gemäß § 17a Abs. 3 Satz 2 GVG ergangenen Beschluss vom 14. August 2025 für die Entscheidung über den Eilantrag zuständig.
10 Der Eilantrag hat Erfolg.
11 Das Bundesverwaltungsgericht kann auf Antrag eine einstweilige Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis erlassen, wenn diese Regelung nötig erscheint, um wesentliche Nachteile abzuwenden oder drohende Gewalt zu verhindern oder aus anderen Gründen (§ 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO). Dafür muss der Antragsteller einen Anordnungsgrund und einen Anordnungsanspruch glaubhaft machen (§ 123 Abs. 1 und 3 VwGO i. V. m. § 920 Abs. 1 und 2, § 294 ZPO).
12 1. Die Antragstellerin hat einen Anordnungsanspruch glaubhaft gemacht. Sie hat voraussichtlich einen Anspruch auf Erteilung der beantragten Ausnahme nach § 10 Abs. 1 LanLVO von dem Verbot des § 4 Abs. 1 LanLVO.
13
a) § 4 Abs. 1 LanLVO (Störungen durch Baumaßnahmen) regelt:
"(1) Zum Schutz vor schädlichen Umwelteinwirkungen ist die Ausübung lärmender Bau- und Baunebenarbeiten sowie die Anfuhr bzw. Abfuhr von Baumaterialien, Bauschutt, Aushub u. ä. in der Zeit vom 01. Juni bis zum 30. September eines jeden Jahres ganztägig sowie während der Ruhezeiten des übrigen Jahres verboten. Dies gilt insbesondere für lärmintensive Tätigkeiten wie u.a. Hämmern, Stemmen, Sägen, Bohren, Trennschleifen sowie für den Gebrauch von u.a. elektrisch und benzinbetriebenen Geräten wie z. B. Mischmaschinen, Schredder, Kreissägen, Kompressoren, Hobelmaschinen, Fräsen sowie Bagger, Rüttler."
14
§ 10 Abs. 1 und 2 Satz 1 LanLVO (Ausnahmen) bestimmt:
"(1) Die Inselgemeinde Langeoog kann auf Antrag Ausnahmen von den Regelungen der §§ 4 bis 9 dieser Verordnung zulassen, sofern die Interessen der Antragstellerin oder des Antragstellers die durch die Verordnung geschützten öffentlichen und privaten Interessen, insbesondere die Belange des Kurortes, im Einzelfall überwiegen oder ein öffentliches Interesse für eine Ausnahmeerteilung gegeben ist.
(2) Ausnahmen können jederzeit mit Nebenbestimmungen oder einem Widerrufsvorbehalt versehen werden."
15 Die beabsichtigten geotechnischen Untersuchungen unterfallen dem nach § 11 LanLVO bußgeldbewehrten Verbot des § 4 Abs. 1 LanLVO (vgl. auch § 2 Nr. 2 Buchst. a LanLVO). Das Kernbohrgerät verursacht in unmittelbarer Nähe Schallemissionen von 80 bis 85 dB(A). Bohr-Unimog oder Bohr-Raupe, die am Strand eingesetzt werden, erzeugen bei laufendem Motor und Bohrbetrieb Schallemissionen von 80 bis 88 dB(A). Die Drucksondierungen verursachen in unmittelbarer Nähe Schallemissionen von 70 bis 75 dB(A). Als Beispiel für ein Transportmittel an Land ist ein Drucksondier-LKW mit zuschaltbarem Raupenantrieb und einem Gewicht von etwa 18 Tonnen vorgesehen, von dem ebenfalls Lärmemissionen ausgehen.
16 b) Die tatbestandlichen Voraussetzungen jedenfalls des § 10 Abs. 1 Alt. 2 LanLVO liegen vor; es ist ein öffentliches Interesse für eine Ausnahmeerteilung gegeben. Dies verkennt der ablehnende Bescheid der Antragsgegnerin.
17 Nach § 1 Abs. 3 WindSeeG, § 43 Abs. 3a Satz 1 i. V. m. Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EnWG liegen die Errichtung und der Betrieb von Offshore-Anbindungsleitungen von Gesetzes wegen im überragenden öffentlichen Interesse und dienen der öffentlichen Sicherheit. Bis die Stromversorgung im Bundesgebiet nahezu treibhausgasneutral ist, soll der beschleunigte Ausbau unter anderem dieser Hochspannungsleitungen als vorrangiger Belang in die jeweils durchzuführende Schutzgüterabwägung eingebracht werden (vgl. § 43 Abs. 3a Satz 2 EnWG). Damit verbunden ist nach dem Willen des Gesetzgebers eine materiell-rechtliche Aufwertung des allgemeinen Beschleunigungsgebots. Das "höchstrangige" Gemeinwohlinteresse an einem beschleunigten Ausbau von Hochspannungsleitungen kann somit nur noch in Ausnahmefällen überwunden werden, d. h. der Abwägungsprozess ist insoweit voreingestellt (vgl. BT-Drs. 20/9187 S. 157). Vorarbeiten im Sinne des § 44 EnWG haben an dieser Priorisierung des beschleunigten Ausbaus teil, so dass für sie ein öffentliches Interesse im Sinne von § 10 Abs. 1 Alt. 2 LanLVO besteht.
18 Der ablehnende Bescheid der Antragsgegnerin ist im Übrigen rechtswidrig, weil er auf sachwidrige Erwägungen gestützt ist. Diese sind weder geeignet, das Überwiegen der durch die Lärmschutzverordnung geschützten öffentlichen und privaten Interessen gegenüber den Interessen an den Vorarbeiten darzulegen (vgl. § 10 Abs. 1 Alt. 1 LanLVO), noch können sie die von der Norm verlangte Ermessensentscheidung tragen.
19 Die Antragsgegnerin hat zu Unrecht ihre Entscheidung darauf gestützt, dass sie schon im Jahr 2021 die Einrichtung von künftigen Korridoren für Offshore-Anbindungsleitungen im niedersächsischen Küstenmeer abgelehnt hat. Ihre ablehnende Haltung zu solchen Vorhaben weist keinen Bezug zum Lärmschutz auf und stellt für die zu treffende Entscheidung über eine Ausnahme nach § 10 Abs. 1 Alt. 1 LanLVO eine sachfremde Erwägung dar. Auch die Erwägungen, dass die Verlegung der Offshore-Anbindungsleitung unter der Insel hindurch ihrer Auffassung nach wegen des überragenden öffentlichen Interesses des Trinkwasserschutzes, des Wasserschutzgebietes, des Nationalparks Wattenmeer und des UNESCO-Weltnaturerbes rechtswidrig sei, betreffen nicht den Lärmschutz und sind folglich nicht tragfähig. Gleiches gilt für die Ausführungen in der Antragserwiderung zum Trinkwasserschutz, dem Wasserschutzgebiet, dem Natur-, Vogel- und Landschaftsschutz, den Küsten- und Meeresbiotopen, dem Belang der Sedimentgewinnung, den Boden- und Kulturdenkmälern sowie archäologischen Funden, dem Tourismus, dem Baurecht und dem Raumordnungsrecht. Ferner trägt auch der Verweis der Antragsgegnerin auf das auf der Insel allgemein geltende Kraftfahrzeugverbot und die Vorgaben zu Achslasten nicht. Denn Gegenstand des Rechtsschutzbegehrens ist nicht die Erteilung einer Ausnahmegenehmigung nach § 46 Abs. 1 Satz 1 Nr. 11 StVO (vgl. Anlage 2 zu § 41 Abs. 1 Vorschriftszeichen Nr. 260 und Nr. 263), die nach dem Gesetz nicht in die Zuständigkeit der Antragsgegnerin fällt (vgl. § 47 Abs. 2 Nr. 7 StVO und § 2 Abs. 1 Nr. 1 und Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 ZustVO-Verkehr, vgl. Nds. GVBl. 2014 S. 249) und über deren Notwendigkeit und Voraussetzungen gegebenenfalls in einem gesonderten Verwaltungsverfahren zu entscheiden wäre.
20 c) Der Anspruch der Antragstellerin auf fehlerfreie Ausübung des Ermessens verdichtet sich voraussichtlich zu einem Anspruch auf Erteilung der beantragten Ausnahme.
21 Es besteht ein überragendes öffentliches Interesse an den Vorhaben und damit ein vorrangiges Interesse an deren beschleunigtem Ausbau bzw. den Vorarbeiten hierzu, welche das Ermessen der Antragsgegnerin schon in Richtung einer Erteilung der Ausnahme steuern. Dazu ist das wirtschaftliche Interesse der Antragstellerin zu berücksichtigen. Die Antragstellerin hat die zeitlichen Restriktionen aufgezeigt, denen sie bei der Durchführung der geotechnischen Untersuchungen unterliegt. Diese sind abhängig von stabilen Wetterbedingungen und erfordern wegen des Transports der Geräte per Schiff für den Untersuchungspunkt am Nordstrand eine gute Erreichbarkeit zur See. Diese Voraussetzungen sind nur in den Sommermonaten gegeben. Ein Beginn der geotechnischen Untersuchungen vor Mitte Juli war der Antragstellerin aus Gründen des Brutvogelschutzes nicht möglich. Bereits am 15. September 2025 beginnt an der Nordsee die bis zum 31. März 2026 dauernde Sturmflutsaison. Stürme und Sturmfluten können die Vorarbeiten für das Vorhaben erheblich behindern und verzögern. Dafür müsste die Antragstellerin Vorkehrungen treffen und Mehraufwand betreiben. Schließlich ist die der Antragstellerin für die geotechnischen Untersuchungen am 30. Juni 2025 erteilte Befreiung von den Verboten des Gesetzes über den Nationalpark "Niedersächsisches Wattenmeer" nach § 17 NWattNPG bis zum 30. September 2025 befristet. Daher müsste die Antragstellerin im Fall der Nichterteilung der Ausnahme im beantragten Zeitfenster für den Zeitraum ab dem 1. Oktober 2025 erneut eine Befreiung erwirken und so einen weiteren Zeitverlust hinnehmen.
22 All dem steht kein Belang der Antragsgegnerin gegenüber, welcher die Ablehnung der Ausnahme rechtfertigen könnte. Zwar gilt der Kurort der Antragsgegnerin als ein besonders schutzbedürftiges Gebiet nach § 2 Abs. 2 Satz 2 NLärmSchG. Dass eine Höchstspannungsleitung ein Gebiet berührt, das Erholungszwecken dient, ist indes nicht ungewöhnlich (vgl. BVerwG, Urteile vom 20. Juni 2024 - 11 A 1.23 - juris Rn. 32 f. und vom 26. März 2025 - 11 A 12.24 - juris Rn. 60).
23 Der Lärmschutzbelang erhält auch allein dadurch, dass das Erholungsgebiet den Status eines Kurortes hat, nicht das erforderliche Gegengewicht. Die konkrete Beeinträchtigung des Lärmschutzbelangs ist zudem gering. Die geotechnischen Untersuchungen an Land beschränken sich für die Kernbohrungen an den vier Untersuchungspunkten auf zwanzig Tage, fünfzehn für die eigenen Vorhaben der Antragstellerin, verteilt auf drei Wochen, und fünf Tage für das Vorhaben der parallel planenden Vorhabenträgerin, zuzüglich eines halben oder ganzen Tages für die Drucksondierung. Die Kleinrammbohrungen per Schiff finden unter Wasser statt und fallen nicht ins Gewicht. Auf die Geringfügigkeit des Eingriffs in zeitlicher Hinsicht hat auch keinen Einfluss, dass die im Korridor C6a parallel planende Vorhabenträgerin ebenfalls an zwei Punkten am Nordstrand (für zwei Wochen jeweils von Montag bis Donnerstag) für das eigene Vorhaben Untersuchungen durchführt. Die Intensität des Lärms ist begrenzt. Die Lärmemissionen nehmen mit der Entfernung ab. So liegen die Lärmemissionen des eingesetzten Bohrgeräts in 50 m Entfernung typischerweise unter 60 dB(A), in 100 m Entfernung bei etwa 45 dB(A). Da sich an den Untersuchungspunkten keine Wohnbebauung befindet, können die Inselbewohner und die Kurgäste dem Lärm ausweichen. Die Geräuschbeeinträchtigungen in Bezug auf das von der Antragsgegnerin hervorgehobene beliebte Ausflugslokal sind angesichts der Entfernungen zu den Untersuchungspunkten zu vernachlässigen.
24 d) Das Ermessen ist auch in einer Weise auf Null reduziert, dass nur die Erteilung der beantragten Ausnahme in Betracht kommt. Zwar sieht § 10 Abs. 2 Satz 1 LanLVO unter anderem die Möglichkeit von Nebenbestimmungen zum Lärmschutz vor. Die Durchführung der geotechnischen Untersuchungen ist aber in hohem Maße wetterabhängig. Diese Wetterabhängigkeit gebietet es insbesondere, Phasen guten Wetters flexibel - unabhängig von festen Ruhezeiten - auszunutzen. Auch die Antragsgegnerin hat in ihrem umfangreichen Vorbringen nicht aufgezeigt, ob und gegebenenfalls welche Nebenbestimmungen zum Lärmschutz aus ihrer Sicht erforderlich oder sachgerecht sein könnten. Die von ihr angesprochenen Lärmschutzwände auf der Insel Norderney betreffen allein Horizontalbohrungen für die Unterquerung der Insel, aber nicht die beabsichtigten niederschwelligen Vorarbeiten.
25 2. Die Antragstellerin hat auch einen Anordnungsgrund glaubhaft gemacht. Ein Zuwarten bis zur Entscheidung im Hauptsacheverfahren ist der Antragstellerin unzumutbar, da der Zeitraum für die beantragte Ausnahme vor einer möglichen Entscheidung des Senats über die Klage liegt.
26 3. Zwar nimmt der Ausspruch des Senats nach § 123 VwGO die Hauptsache vorweg. Dies ist indes aus Gründen des effektiven Rechtsschutzes angesichts der Bedeutung des beschleunigten Ausbaus von Offshore-Anbindungsleitungen und den hierfür sonst drohenden Nachteilen geboten. Diese können anders als durch die zeitnahe Erteilung der Ausnahme nicht abgewendet und durch eine Entscheidung des Senats über die Klage nachträglich nicht beseitigt werden (vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 19. Oktober 1977 - 2 BvR 42/76 - BVerfGE 46, 166 <179> und vom 25. Oktober 1988 - 2 BvR 745/88 - BVerfGE 79, 69 <74 f.> sowie BVerwG, Beschlüsse vom 21. März 1997 - 11 VR 3.97 - juris Rn. 13, vom 21. Januar 1999 - 11 VR 8.98 - NVwZ 1999, 650 und vom 27. Januar 2023 - 6 VR 2.22 - NVwZ 2023, 835 Rn. 19).
27 Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO i. V. m. § 155 Abs. 1 Satz 2 VwGO. Die Entscheidung über den Wert des Streitgegenstands folgt aus § 52 Abs. 2, § 53 Abs. 2 Nr. 1 GKG. Sie orientiert sich an Nr. 34.2.6 ("gegen Vorbereitungsarbeiten") des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit in der Fassung der am 21. Februar 2025 beschlossenen Änderungen (im Folgenden: Streitwertkatalog 2025). Von der regelhaften Halbierung dieses Werts in dem Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes nach Nr. 1.5 des Streitwertkatalogs 2025 wurde abgesehen, weil es die Hauptsache vorwegnimmt.
Beschluss vom 09.09.2025 -
BVerwG 11 VR 9.25ECLI:DE:BVerwG:2025:090925B11VR9.25.0
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Zitiervorschlag
BVerwG, Beschluss vom 09.09.2025 - 11 VR 9.25 - [ECLI:DE:BVerwG:2025:090925B11VR9.25.0]
Beschluss
BVerwG 11 VR 9.25
In der Verwaltungsstreitsache hat der 11. Senat des Bundesverwaltungsgerichts am 9. September 2025 durch die Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Decker und Dr. Hammer sowie die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Dr. Wiedmann beschlossen:
- Der Antrag auf Abänderung der einstweiligen Anordnung des Bundesverwaltungsgerichts vom 19. August 2025 - 11 VR 7.25 - wird abgelehnt.
- Die Antragstellerin trägt die Kosten des Abänderungsverfahrens.
- Der Wert des Streitgegenstandes wird auf 10 000 € festgesetzt.
Gründe
I
1 Mit Beschluss vom 19. August 2025 - 11 VR 7.25 - hat der Senat die Antragstellerin im Wege einstweiliger Anordnung verpflichtet, der Antragsgegnerin bis spätestens zum 29. August 2025 die beantragte Ausnahme nach § 10 Abs. 1 LanLVO von dem Verbot des § 4 Abs. 1 LanLVO für die Durchführung der in dem Antrag vom 20. Juni 2025 bezeichneten geotechnischen Untersuchungen im Zeitraum vom 1. September 2025 bis zum 30. September 2025 zu erteilen. Wegen der Einzelheiten wird entsprechend § 117 Abs. 3 Satz 2 VwGO auf den Inhalt des Beschlusses verwiesen.
2 Die Antragstellerin begehrt nunmehr sinngemäß, diesen Beschluss im Wege des Abänderungsverfahrens aufzuheben und den von der Antragsgegnerin gestellten Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung aufgrund einer geänderten Sachlage abzulehnen.
II
3 Der Antrag, den auf der Grundlage des § 123 Abs. 1 Satz 2 und Abs. 3 VwGO ergangenen Beschluss zu ändern, hat keinen Erfolg.
4 Er ist zwar in entsprechender Anwendung von § 80 Abs. 7 Satz 2 VwGO statthaft. Danach kann das Gericht, das eine einstweilige Anordnung nach § 123 VwGO erlassen hat, wenn es auch Gericht der Hauptsache ist, bei einer Änderung der Sach- oder Rechtslage auf Antrag seine Entscheidung aufheben oder abändern (vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 30. Dezember 1997 - 1 BvR 2264/97 - NJW 1998, 1218 und vom 23. Oktober 2007 - 2 BvR 542/07 - NVwZ 2008, 417 <417 f.>; BVerwG, Beschluss vom 21. März 2023 - 1 W-VR 4.23 - BayVBl 2023, 681 Rn. 10; VGH Mannheim, Beschluss vom 12. Mai 1995 - 1 S 1310.95 - DVBl 1995, 929; OVG Lüneburg, Beschluss vom 3. Juli 2019 - 12 MC 93/19 - NJW 2019, 2951 Rn. 9 m. w. N.; Happ, in: Eyermann, VwGO, 16. Aufl. 2022, § 123 Rn. 77 m. w. N.; Kopp, in: Kopp/Schenke, VwGO, 30. Aufl. 2024, § 123 Rn. 35 m. w. N.; Kuhla, in: Posser/Wolff/Decker, BeckOK VwGO, 74. Aufl. 2025, § 123 Rn. 182 m. w. N.; Schoch, in: Schoch/Schneider, VwGO, Stand Februar 2025, § 123 Rn. 174 ff. m. w. N. und Sperlich, in: Dombert/Külpmann, Vorläufiger Rechtsschutz im Verwaltungsstreitverfahren, 8. Aufl. 2025, S. 357 f. m. w. N.). Das Bundesverwaltungsgericht ist für die anhängige Hauptsache, hier das Verfahren 11 A 12.25 , zuständig (vgl. BVerwG, Beschluss vom 14. August 2025 - 11 VR 7.25 - juris Rn. 3 ff.).
5 Der Antrag ist jedoch unbegründet.
6 Die Antragstellerin stützt ihren Abänderungsantrag allein darauf, dass das mit der Baugrunduntersuchung beauftragte Subunternehmen der Antragsgegnerin das örtliche Speditionsunternehmen am 26. August 2025 gebeten habe, die straßenverkehrsrechtliche Ausnahmegenehmigung, die zum Transport von Geräten und Stoffen für die geotechnischen Untersuchungen außerhalb des Nordstrandes der Insel erforderlich ist, mit einer Geltungsdauer bis zum 31. Oktober 2025 zu beantragen. Daraus folgert die Antragstellerin, dass tatsächlich nicht im Zeitraum bis zum 30. September 2025, sondern bis zum 31. Oktober 2025 gebohrt werden solle, womit die begehrte Ausnahme nach § 10 Abs. 1 LanLVO von dem Verbot des § 4 Abs. 1 LanLVO entbehrlich sei.
7 Die Erteilung einer straßenverkehrsrechtlichen Ausnahmegenehmigung war indes nicht Gegenstand des von der Antragsgegnerin initiierten Verfahrens über den Erlass einer einstweiligen Anordnung (vgl. BVerwG, Beschluss vom 19. August 2025 - 11 VR 7.25 - juris Rn. 19 m. w. N.). Für den stattgebenden Beschluss des Senats war die mögliche Ausgestaltung der straßenverkehrsrechtlichen Ausnahmegenehmigung daher nicht entscheidungserheblich.
8 Im Übrigen ist das Vorbringen nicht geeignet, den Zeitplan der Antragsgegnerin und die Ausnahmebedürftigkeit nach § 10 Abs. 1 LanLVO in Zweifel zu ziehen. Die intendierte Erteilung einer straßenverkehrsrechtlichen Ausnahmegenehmigung mit einer Geltungsdauer bis zum 31. Oktober 2025 ändert nichts an den zeitlichen Restriktionen, denen die Antragsgegnerin bei der Durchführung der geotechnischen Untersuchungen unterliegt, insbesondere der für die geotechnischen Untersuchungen lediglich bis zum 30. September 2025 befristet erteilten Befreiung von den Verboten des Gesetzes über den Nationalpark "Niedersächsisches Wattenmeer" nach § 17 NWattNPG (vgl. BVerwG, Beschluss vom 19. August 2025 - 11 VR 7.25 - juris Rn. 21 i. V. m. Rn. 5). Die Antragsgegnerin hat zudem glaubhaft gemacht, dass sie an einem Abschluss der geotechnischen Untersuchungen innerhalb des beantragten Zeitraums festhält und mit den Arbeiten bereits begonnen hat.
9 Vor diesem Hintergrund besteht auch kein Anlass, den Beschluss in entsprechender Anwendung des § 80 Abs. 7 Satz 1 VwGO von Amts wegen zu ändern.
10 Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Die Entscheidung über den Wert des Streitgegenstands folgt aus § 52 Abs. 1, § 53 Abs. 2 Nr. 1 GKG. Sie orientiert sich an Nr. 34.2.6 ("gegen Vorbereitungsarbeiten") des Streitwertkatalogs 2025 für die Verwaltungsgerichtsbarkeit. Von der regelhaften Halbierung dieses Werts in dem Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes nach Nr. 1.5 des Streitwertkatalogs 2025 wurde abgesehen, weil der vorangegangene Beschluss des Senats die Hauptsache vorwegnimmt.