Urteil vom 13.03.2025 -
BVerwG 2 C 11.24ECLI:DE:BVerwG:2025:130325U2C11.24.0
Zur Inanspruchnahme der gerichtlichen Gestaltungsbefugnis nach § 21 Satz 2 AGVwGO BW
Leitsätze:
1. Die Einleitungsverfügung der Disziplinarbehörde hat auch dann rechtlich Bestand, wenn ein Teil der Tatvorwürfe nicht wirksam in das Verfahren einbezogen worden ist.
2. Von der in § 21 Satz 2 AGVwGO BW eingeräumten Gestaltungsbefungnis darf das Gericht nur ausnahmsweise beim Vorliegen besonderer Umstände Gebrauch machen.
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Rechtsquellen
AGVwGO BW § 21 BDG § 60 Abs. 2 -
Instanzenzug
VG Karlsruhe - 11.02.2021 - AZ: DL 17 K 3644/19
VGH Mannheim - 17.05.2023 - AZ: DL 16 S 1134/22
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Zitiervorschlag
BVerwG, Urteil vom 13.03.2025 - 2 C 11.24 - [ECLI:DE:BVerwG:2025:130325U2C11.24.0]
Urteil
BVerwG 2 C 11.24
- VG Karlsruhe - 11.02.2021 - AZ: DL 17 K 3644/19
- VGH Mannheim - 17.05.2023 - AZ: DL 16 S 1134/22
In der Verwaltungsstreitsache hat der 2. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
auf die mündliche Verhandlung vom 13. März 2025
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Kenntner, die Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. von der Weiden und Dr. Hartung, die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Schübel-Pfister und
den Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Scheffczyk
für Recht erkannt:
- Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg vom 17. Mai 2023 wird zurückgewiesen.
- Der Kläger trägt die Kosten des Revisionsverfahrens.
Gründe
I
1 Der Kläger wendet sich gegen seine Entfernung aus dem Beamtenverhältnis durch Disziplinarverfügung des Dienstherrn. Der Rechtsstreit betrifft Umfang und Voraussetzungen der den Gerichten bei diesbezüglichen Klagen eingeräumten Disziplinarbefugnis.
2 Der Kläger steht im Amt eines Polizeihauptmeisters (Besoldungsgruppe A 9 LBesO BW) im Dienst des beklagten Landes. Nachdem die Staatsanwaltschaft ein strafrechtliches Ermittlungsverfahren gegen ihn führte, leitete das Polizeipräsidium im Dezember 2016 ein sachgleiches Disziplinarverfahren ein und setzte es für die Dauer des Strafverfahrens aus. In der Einleitungsverfügung warf es dem Kläger vor, er habe polizeiinterne Informationen unbefugt an Personen aus dem Türsteher- und Zuhältermilieu weitergegeben und im Gegenzug Geld sowie sexuelle Dienstleistungen von Prostituierten erhalten. Zudem habe er telefonische und andere Kontakte zu Personen aus dem "Milieu" unterhalten. Außerdem solle er unter einer Alias-Identität einen Facebook-Account betreiben, in dessen Freundesliste sich eine Vielzahl von jungen osteuropäischen Frauen befinde.
3 Die Staatsanwaltschaft stellte das wegen des Verdachts der Bestechlichkeit, der Verletzung von Dienstgeheimnissen, des Verbreitens pornografischer Bild- und Videodateien sowie der sexuellen Nötigung geführte strafrechtliche Ermittlungsverfahren ein. Vom Vorwurf des Verbreitens pornografischer Schriften in drei weiteren Fällen wurde der Kläger nach zwischenzeitlichem Erlass eines Strafbefehls durch Urteil des Amtsgerichts freigesprochen. Daraufhin nahm der Beklagte das Disziplinarverfahren im Januar 2019 wieder auf.
4 Mit Verfügung vom 30. April 2019 entfernte der Beklagte den Kläger wegen der Handlungen, die Gegenstand der strafrechtlichen Ermittlungen waren, und weiterer Verhaltensweisen aus dem Beamtenverhältnis. Zur Begründung führte er aus, das vom Kläger begangene Dienstvergehen sei jedenfalls bei einer Gesamtschau der einzelnen vorsätzlich begangenen Dienstpflichtverletzungen sehr schwerwiegend; zudem sei er bereits einschlägig vorbelastet. Im Einzelnen wurden neun Vorwürfe aufgezählt.
5 Das Verwaltungsgericht hat die gegen die Disziplinarverfügung erhobene Klage abgewiesen. Bereits der Verkauf und die Weitergabe von amtlich bekannt gewordenen Informationen wie auch die Versendung pornografischer Bilddateien, die den Kläger in Uniform zeigten, rechtfertigten seine Entlassung aus dem Beamtenverhältnis. Auf das Vorliegen weiterer Dienstpflichtverletzungen komme es daher nicht an.
6 Hiergegen hat der Kläger die vom Verwaltungsgerichtshof zugelassene Berufung eingelegt und beantragt, das Urteil des Verwaltungsgerichts zu ändern, die Disziplinarverfügung aufzuheben und das Disziplinarverfahren einzustellen, hilfsweise auf eine mildere Disziplinarmaßnahme als die Entfernung aus dem Beamtenverhältnis zu erkennen. Im Vorfeld der mündlichen Verhandlung wies der Berichterstatter darauf hin, dass wegen des Erfordernisses einer förmlichen Einbeziehung der Vorwürfe in das Disziplinarverfahren derzeit offen sei, ob die über den Gegenstand des strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens hinausgehenden Sachverhalte Berücksichtigung hätten finden dürfen. Der Verwaltungsgerichtshof führte sodann an drei Tagen eine mündliche Verhandlung durch, bei der zu allen dem Kläger vorgeworfenen Punkten Beweis erhoben wurde.
7 Mit Urteil vom 17. Mai 2023 hat der Verwaltungsgerichtshof das Urteil des Verwaltungsgerichts geändert und die Disziplinarverfügung aufgehoben; im Übrigen hat er die Berufung zurückgewiesen. Zur Begründung hat das Gericht ausgeführt, die Disziplinarverfügung sei verfahrensfehlerhaft, soweit sie Verhaltensweisen des Klägers betreffe, die nicht Gegenstand der Strafverfahren gewesen seien. Materiell sei die Disziplinarverfügung daher nur auf der Grundlage der übrigen, wirksam in das behördliche Disziplinarverfahren einbezogenen Sachverhalte zu prüfen. Der Kläger habe danach die ihm obliegenden Dienstpflichten schuldhaft verletzt. Mit dem auf seinem Fake-Account "V. S." unterhaltenen privaten Kontakt mit einer Prostituierten, dem Nachrichtenaustausch mit einem verdeckten Ermittler über eine Beschäftigung in einer Bar, der Kontaktpflege und dem privaten Näheverhältnis zu einem Türsteher und Zuhälter im Bereich eines Straßenstrichs sowie dem Führen weiterer Personen der Rocker- und Türsteherszene auf seinem privaten Facebook-Account habe er gegen die Pflicht zu achtungs- und vertrauenswürdigem Verhalten verstoßen. Dieses als mittelschwer einzustufende Dienstvergehen rechtfertige allerdings noch nicht die in der Disziplinarverfügung ausgesprochene Höchstmaßnahme der Entfernung aus dem Beamtenverhältnis. Von der ihm durch das Landesrecht eingeräumten Möglichkeit, die Verfügung zu ändern und auf eine mildere Maßnahme zu erkennen, mache der Senat keinen Gebrauch. Wegen der nicht wirksam in das Disziplinarverfahren einbezogenen Vorwürfe sehe der Senat ausnahmsweise von einer - allein in Betracht kommenden - Zurückstufung des Klägers ab. Nach entsprechender Ausdehnung des Disziplinarverfahrens komme insbesondere den Vorwürfen 1 und 2 derart erhebliches disziplinarisches Gewicht zu, dass sie in einer Gesamtschau mit den erwiesenen Pflichtverletzungen weiterhin die Entfernung des Klägers aus dem Beamtenverhältnis rechtfertigen könnten. Mit einer milderen Disziplinarmaßnahme könne daher keine Beschleunigung des Verfahrens erreicht werden. Vielmehr erscheine es sachgerecht, durch die isolierte Aufhebung der Verfügung entsprechend dem Grundsatz der Einheit des Dienstvergehens eine Gesamtwürdigung der in engem zeitlichen und teilweise auch inhaltlichen Zusammenhang stehenden Vorwürfe zu ermöglichen.
8 Hiergegen wendet sich der Kläger mit der vom Senat zugelassenen Revision. Er macht insbesondere geltend, die fehlerhafte Behandlung der auch nach Auffassung des Berufungsgerichts nicht wirksam in das Verfahren einbezogenen Vorwürfe müsse zur Einstellung des Disziplinarverfahrens führen. Insoweit leide auch das Berufungsurteil an Fehlern, weil das Berufungsgericht eine tatsächliche und rechtliche Würdigung der über die verfahrensgegenständlichen Sachverhalte hinausgehenden Beweiserhebung vorgenommen und dementsprechend Sachverhalte gewürdigt habe, die nicht zum Gegenstand des Verfahrens gehörten. Im Übrigen habe das Berufungsgericht auf eine mildere Disziplinarmaßnahme erkennen müssen; eine isolierte Aufhebung der Disziplinarverfügung sei nicht sachgerecht. Sie stelle wegen der überschießenden Hinweise des Gerichts für die weitere Verfahrensgestaltung des Beklagten nur auf den ersten Blick einen Erfolg für den Kläger dar.
9
Der Kläger beantragt,
die Urteile des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg vom 17. Mai 2023 und des Verwaltungsgerichts Karlsruhe vom 11. Februar 2021 sowie die Disziplinarverfügung des Polizeipräsidiums Karlsruhe vom 30. April 2019 aufzuheben und das Disziplinarverfahren einzustellen,
hilfsweise
die Urteile des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg vom 17. Mai 2023 und des Verwaltungsgerichts Karlsruhe vom 11. Februar 2021 sowie die Disziplinarverfügung des Polizeipräsidiums Karlsruhe vom 30. April 2019 aufzuheben und auf eine mildere Maßnahme als die Entfernung aus dem Beamtenverhältnis zu erkennen,
höchst hilfsweise
das Urteil des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg vom 17. Mai 2023 aufzuheben und die Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an den Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg zurückzuverweisen.
10
Der Beklagte verteidigt das angefochtene Berufungsurteil und beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
11 Die Vertreterin des Bundesinteresses beteiligt sich an dem Verfahren. Sie weist in Abstimmung mit dem Bundesministerium des Innern und für Heimat darauf hin, dass die den Gerichten im maßgeblichen Landesrecht sowie im Bundesdisziplinargesetz in der seit dem 1. April 2024 geltenden Fassung eingeräumte Entscheidungsbefugnis der Beschleunigung diene. Lägen Rechtsmängel vor, die auch durch das gerichtliche Verfahren nicht beseitigt werden könnten, sei die Disziplinarverfügung daher aufzuheben.
II
12 Die zulässige Revision des Klägers ist unbegründet. Das Berufungsgericht hat im Ergebnis zu Recht die angefochtene Disziplinarverfügung aufgehoben und die Berufung im Übrigen - hinsichtlich der weitergehenden Anträge des Klägers auf Verfahrenseinstellung sowie hilfsweise auf Verhängung einer milderen Maßnahme als die Entfernung aus dem Dienst - zurückgewiesen (§ 144 Abs. 4 VwGO).
13 1. Die angegriffene Berufungsentscheidung unterliegt einer umfassenden revisionsgerichtlichen Überprüfung, da der Kläger durch sie in mehrfacher Hinsicht beschwert ist.
14 a) Eine formelle Beschwer folgt aus der Zurückweisung der Berufung im Übrigen. Diese betrifft sowohl den auf Einstellung des Disziplinarverfahrens gerichteten zweiten Teil des Hauptantrags als auch den auf § 21 Satz 2 des Gesetzes zur Ausführung der Verwaltungsgerichtsordnung (AGVwGO BW) vom 14. Oktober 2008 (GBl. S. 343 <356>) gestützten Hilfsantrag, auf eine mildere Disziplinarmaßnahme als die Entfernung aus dem Beamtenverhältnis zu erkennen.
15 b) Eine materielle Beschwer ergibt sich darüber hinaus aus dem Umstand, dass das Berufungsgericht - insoweit dem Hauptantrag folgend - die Abschlussverfügung nach § 21 Satz 1 AGVwGO BW aufgehoben hat. Zwar hat der Kläger damit sein primäres Klageziel, die ihn belastende Disziplinarverfügung aus der Welt zu schaffen, zunächst erreicht. Das Disziplinarverfahren ist hierdurch indes nicht beendet, vielmehr hat die Behörde eine neue Abschlussentscheidung zu treffen (vgl. LT-Drs. 14/2996 S. 147). Hierbei hat sie zu berücksichtigen, dass das Berufungsgericht im Zuge des kassatorischen Ausspruchs zugleich die ausdrückliche Entscheidung getroffen hat, von einer "reformatorischen" Milderung der Verfügung nach § 21 Satz 2 AGVwGO BW abzusehen. Die in diesem Zusammenhang stehenden Ausführungen zum Erwiesensein eines Dienstvergehens binden den Beklagten.
16 Die Notwendigkeit der Prüfung, ob ein Dienstvergehen erwiesen ist, folgt dem speziellen Normprogramm der genannten Vorschrift. Das dem Gericht in § 21 Satz 2 AGVwGO BW auf der Rechtsfolgenseite eingeräumte Ermessen, die Verfügung aufrechtzuerhalten oder zu Gunsten des Beamten zu ändern, setzt tatbestandlich jeweils das Erwiesensein eines Dienstvergehens voraus; andernfalls kommt nur eine isolierte Aufhebung der rechtswidrigen Disziplinarverfügung nach Satz 1 in Betracht. Um zu der Ermessensentscheidung nach § 21 Satz 2 AGVwGO BW gelangen zu können, muss das Gericht daher zunächst prüfen, ob ein Dienstvergehen vorliegt. Von diesem Erfordernis einer vorgelagerten richterlichen Überzeugungsbildung ist auch das Berufungsgericht zutreffend ausgegangen.
17 Die Ausführungen in den Urteilsgründen zum Erwiesensein des Dienstvergehens beschweren den Kläger materiell, da sie als Element des Streitgegenstands an der Rechtskraft der Gerichtsentscheidung teilnehmen und materielle Bindungswirkung für das künftige Disziplinarverfahren entfalten. Wegen der Besonderheiten des Disziplinarrechts ist die Bindungswirkung disziplinargerichtlicher Urteile weit zu verstehen. Entscheidet das Gericht aufgrund einer Disziplinarklage des Dienstherrn durch Disziplinarurteil, so erwächst neben dem Tenor auch die Feststellung, dass der Beamte durch ein bestimmtes Verhalten ein Dienstvergehen begangen hat, in Rechtskraft (vgl. BVerwG, Urteil vom 22. September 2016 - 2 C 17.15 - BVerwGE 156, 159 Rn. 8 ff. m. w. N.). Bei behördlich verhängten Disziplinarmaßnahmen, über die das Gericht - innerhalb der durch die Disziplinarverfügung gezogenen Grenzen des Streitgegenstands - nach Maßgabe des § 21 Satz 2 AGVwGO BW zu befinden hat, kann nichts anderes gelten. Auch hier nehmen die gerichtlichen Ausführungen zum Erwiesensein des Dienstvergehens an der materiellen Rechtskraft teil, ohne dass es darauf ankommt, ob das Gericht von seiner Abänderungsbefugnis Gebrauch macht. Dafür spricht neben Sinn und Zweck dieses gerichtlichen Gestaltungsrechts auch ein Vergleich mit der umgekehrten Konstellation - Bewertung einzelner Vorwürfe als unbegründet –, in der die Behörde einem "Wiederholungsverbot" unterliegt. Insoweit besteht eine Parallele zum Bestimmungsurteil nach § 113 Abs. 2 Satz 2 VwGO, bei dem die vom Gericht geäußerte Rechtsauffassung ebenfalls an der Rechtskraft der Entscheidung teilnimmt (vgl. BVerwG, Urteil vom 3. Juni 2010 - 9 C 4.09 - BVerwGE 137, 105 Rn. 16). Die gerichtlich als erwiesen angesehenen Vorwürfe sind von der Behörde bei ihrer erneuten Disziplinarverfügung als feststehend zugrunde zu legen und dürfen nicht mehr in Frage gestellt werden.
18 Die Urteilsgründe können allerdings nur insoweit in Rechtskraft erwachsen, als es um Vorwürfe geht, die von der Behörde wirksam in das Disziplinarverfahren einbezogen wurden und Gegenstand der gerichtlichen Überprüfung waren. Äußert sich das Gericht dagegen − wie hier − zu aus seiner Sicht nicht wirksam einbezogenen Handlungen, so nehmen die betreffenden Ausführungen nicht an der Bindungswirkung für ein späteres Disziplinarverfahren teil. Sie müssen als "nicht geschrieben" gelten und dürfen im weiteren Verfahrensgang nicht berücksichtigt werden. Dies gilt für die für den betroffenen Beamten nachteiligen Darlegungen zu Dienstpflichtverletzungen wie auch für die ihn begünstigenden Ausführungen, dass hinsichtlich eines bestimmten Vorwurfs keine Verletzung vorliegt (UA S. 30). Insoweit gilt nichts anderes, als wenn ein Gericht verfahrensfehlerhaft Ausführungen zur Begründetheit eines Rechtsbehelfs macht, obwohl es bereits dessen Zulässigkeit verneint (vgl. dazu BVerwG, Urteil vom 13. Juli 2023 - 2 C 7.22 - BVerwGE 179, 328 Rn. 26 f.).
19 2. Das Berufungsgericht hat die Disziplinarverfügung im Ergebnis zu Recht gemäß § 21 Satz 1 AGVwGO BW aufgehoben.
20 a) Die Aufhebung erfolgte allerdings mit einer zum Teil unzutreffenden Begründung. Das Gericht war der Auffassung, dass in Bezug auf drei wirksam einbezogene und als erwiesen anzusehende Vorwürfe (Alias-Account bei Facebook, Nachrichtenaustausch mit dem verdeckten Ermittler und Kontakte zum Rotlichtmilieu) ein Dienstvergehen vorliege, das allerdings noch nicht die Höchstmaßnahme der Entfernung aus dem Beamtenverhältnis rechtfertige. Diese Annahme war hinsichtlich ihrer Prämisse nicht in vollem Umfang zutreffend. Zwar hat der Kläger hinsichtlich der beiden erstgenannten Tatvorwürfe keine durchgreifenden Rügen erhoben. Hinsichtlich des Vorwurfs, der Kläger unterhalte ein "privates Näheverhältnis" zu dem Zeugen R., fehlte es aber entgegen der Annahme des Verwaltungsgerichtshofs bereits an einer hinreichend bestimmten Einleitungsverfügung des Dienstherrn, sodass diesbezüglich auch von Seiten des Gerichts kein Dienstvergehen festgestellt werden durfte.
21 aa) Nach § 11 Abs. 1 LDG BW ist der Beamte über die Einleitung des Disziplinarverfahrens zu unterrichten, sobald dies ohne Gefährdung der Aufklärung des Sachverhalts möglich ist. Gemäß Absatz 2 der Vorschrift ist ihm hierbei zu eröffnen, welches Dienstvergehen ihm zur Last gelegt wird. Die Einleitungsverfügung muss Art, Umfang, Zeit und Ort der dem Beamten vorgeworfenen Handlungen so konkret beschreiben, dass es diesem möglich ist, sich zur Sache zu äußern und ggf. entlastende Umstände vorzutragen (vgl. BVerwG, Beschluss vom 20. August 2018 - 2 B 6.18 - juris Rn. 17; Stehle, in: von Alberti u. a., Disziplinarrecht Baden-Württemberg, 1. Aufl. 2021, § 11 LDG Rn. 3). Dies dient auch dem Schutz des betroffenen Beamten im Disziplinarverfahren (vgl. BVerwG, Beschluss vom 18. November 2008 - 2 B 63.08 - NVwZ 2009, 399 Rn. 11 und Urteil vom 14. Dezember 2017 - 2 C 12.17 - NVwZ-RR 2018, 493 Rn. 16).
22 Dieser zentralen Schutzfunktion wird die Einleitungsverfügung vom 12. Dezember 2016 nicht gerecht. Darin heißt es lediglich, der Kläger solle polizeiinterne Informationen unbefugt an Personen aus dem Türsteher- und Zuhältermilieu weitergegeben und im Gegenzug Geld sowie sexuelle Dienstleistungen von Prostituierten erhalten haben. Diese Geschehnisse werden zeitlich, örtlich und thematisch nicht spezifiziert; die Person M. R. wird bereits - anders als zwei andere Personen - nicht namentlich genannt. Insoweit ist nur allgemein davon die Rede, der Kläger solle Kontakte zu "verschiedenen als Türsteher tätigen Personen, über die teilweise erhebliche polizeiliche Vorerkenntnisse vorliegen, unterhalten". Da die Art der Vorerkenntnisse nicht präzisiert wird, waren dem Kläger auch unter diesem Gesichtspunkt keine Rückschlüsse auf die gegen ihn erhobenen Vorwürfe möglich. Dies genügt den aus dem Rechtsstaatsprinzip abgeleiteten Bestimmtheitsanforderungen nicht.
23 bb) Der Vorwurf des "privaten Näheverhältnisses" in der vom Berufungsgericht zugrunde gelegten Form (vgl. UA S. 34 f.) ist auch nicht in der Disziplinarverfügung vom 30. April 2019 enthalten. Darin wird unter Punkt 3.10 ("Kontakte ins Rocker- und Türsteher-Milieu") lediglich ein einziges konkretes Ereignis genannt, nämlich der für zwei Stunden unveränderte Standort des Pkw des Klägers am 19. August 2016 im Nahbereich einer "Terminwohnung" von Prostituierten und einer Gaststätte mit Bezug zur Hooliganszene. Sodann werden - unter Bezugnahme auf den Facebook-Account des Klägers und die Kontaktdaten seines Smartphones - elf Personen aus dem Türsteher- und Rockermilieu mit Namen, Geburtsdaten und Tätigkeitsschwerpunkten katalogartig aufgezählt, darunter auch der spätere Zeuge M. R. Die Art seiner Kontakte zum Kläger bzw. konkrete Anhaltspunkte für das angenommene private Näheverhältnis lassen sich aus der behördlichen Verfügung dagegen nicht entnehmen. Da der in der Disziplinarverfügung niedergelegte Vorwurf des Dienstvergehens nach der Grundkonzeption des Disziplinarrechts in Baden-Württemberg den Streitgegenstand festlegt, darf das Gericht aus dem dargestellten Sachverhalt keine andere als die dem Beamten in der Einleitungsverfügung zur Last gelegte Pflichtverletzung herleiten und zur Grundlage des Urteils machen (vgl. LT-Drs. 14/2996 S. 148).
24 cc) Unabhängig von der insoweit unzureichenden Einleitungsverfügung bestehen auch rechtliche Bedenken hinsichtlich der Einstufung des vorgeworfenen "privaten Näheverhältnisses" als Dienstpflichtverletzung. Nach der Rechtsprechung des Senats liegt in der bloßen Aufrechterhaltung privater Kontakte oder partnerschaftlicher Beziehungen für sich genommen kein Dienstvergehen (BVerwG, Urteil vom 17. November 2017 - 2 C 25.17 - BVerwGE 160, 370 Rn. 89; vgl. auch BVerwG, Beschluss vom 30. Januar 2025 - 1 WB 7.24 - zu bloßen Kontakten in sozialen Medien). Eine andere Beurteilung könnte daher nur mit Blick auf den konkreten Amtsbezug der Kontakte angezeigt sein, etwa bei einem "Anschein der Vernetzung" mit einem Zuhälter gerade im Aufgaben- und Zuständigkeitsbereich des Beamten. Dagegen spricht hier allerdings, dass der Dienstgruppenleiter des Klägers dessen Kontakte ins "Milieu" nicht als problematisch, sondern als "durchaus hilfreich" angesehen hat (vgl. die Zeugenvernehmung des Verwaltungsgerichtshofs, Anlage zur Sitzungsniederschrift vom 16. März 2023 S. 11 ff.). Vor diesem Hintergrund erscheint nicht ausgeschlossen, dass der Dienstherr den Kläger bewusst und in Kenntnis seiner "Kontaktfähigkeit im Milieu" auf diesem Dienstposten eingesetzt hat. Sollte dies der Fall sein, erschiene der nachträgliche Vorwurf eines disziplinarwürdigen Fehlverhaltens widersprüchlich.
25 b) Auch wenn das Berufungsgericht in Bezug auf diesen Tatvorwurf zumindest wegen der insoweit unzureichenden Einleitungsverfügung nicht von einem erwiesenen Dienstvergehen ausgehen und insoweit keine rechtskraftfähige Feststellung treffen durfte, hat sich dieser Mangel nicht auf seine Entscheidung ausgewirkt, die Disziplinarverfügung aufzuheben. An der Ermessenserwägung, von einer Milderung nach § 21 Satz 2 AGVwGO BW abzusehen, weil insbesondere den bisher nicht einbezogenen Vorwürfen Nr. 1 und 2 ein so erhebliches disziplinarisches Gewicht zukomme, dass sie bei einer künftigen Gesamtschau weiterhin die Entfernung aus dem Beamtenverhältnis rechtfertigen könnten, würde sich nichts ändern, wenn das Gericht auch diesen Vorwurf als nicht wirksam einbezogen angesehen hätte.
26 3. Die vom Kläger zusätzlich zu der Aufhebung der Disziplinarverfügung begehrte Verfahrenseinstellung kommt ebenfalls nicht in Betracht, da ersichtlich kein Fall des § 37 Abs. 1 LDG BW vorliegt; insbesondere besteht kein dauerhaftes Verfahrenshindernis im Sinne des § 37 Abs. 1 Nr. 4 LDG BW.
27 a) Soweit die Vorwürfe nach Feststellung des Berufungsgerichts nicht wirksam zum Gegenstand des Disziplinarverfahrens gemacht wurden, ist zwar keine Belehrung und Anhörung des Klägers gemäß § 11 LDG BW erfolgt. Dieses Versäumnis wirkt sich aber im Ergebnis schon deshalb nicht aus, weil es nur denjenigen Teil des Disziplinarverfahrens betrifft, auf den sich nach den obigen Darlegungen die Rechtskraft des Urteils nicht erstreckt.
28 b) Ebenfalls nicht zur Einstellung des Disziplinarverfahrens führt die vom Kläger erhobene Rüge, dass das Berufungsgericht eine Beweiserhebung und rechtliche Bewertung in Bezug auf die Vorwürfe 1, 2, 3/2 und 5 bis 8 vorgenommen habe, obwohl es im angegriffenen Urteil selbst davon ausgegangen sei, dass diese kein wirksamer Gegenstand des Disziplinarverfahrens geworden sind. Ein gerichtlicher Verfahrensfehler kann in der Vernehmung von Zeugen zu den nicht einbezogenen Vorwürfen schon deshalb nicht gesehen werden, weil hinsichtlich der wirksamen Einbeziehung dieser Tatkomplexe die maßgebliche richterliche Überzeugungsbildung - ungeachtet des vorangehenden Hinweises des Berichterstatters - erst in der Schlussberatung erfolgen konnte. Auch die Würdigung der nicht als in das Verfahren einbezogen angesehenen Vorwürfe in den Urteilsgründen ist nicht zu beanstanden und begründet insbesondere nicht den Vorwurf der Befangenheit. Die insoweit vom Berufungsgericht angestellten Erwägungen betreffen ersichtlich die Begründung seiner Ermessensentscheidung nach § 21 Satz 2 AGVwGO BW und dienen nicht dazu, das künftige Verfahren zu determinieren.
29 Im Übrigen könnte sich hieraus in keinem Fall ein Grund für eine Einstellung des Verfahrens ergeben. Da es sich um nicht entscheidungstragende Ausführungen handelt, die rechtlich als nicht geschrieben gelten, wäre die Disziplinarbehörde daran in einem späteren Verfahren nicht gebunden. Selbst eine etwaige Befangenheit des Berufungsgerichts könnte daher nicht zu der vom Kläger begehrten Verfahrenseinstellung führen.
30 4. Ein revisibler Rechtsverstoß lag schließlich auch nicht darin, dass das Berufungsgericht von der Abänderungsbefugnis des § 21 Satz 2 AGVwGO BW keinen Gebrauch gemacht hat.
31 a) Die Anwendung der in § 21 Satz 2 AGVwGO BW eingeräumten Befugnis scheidet nicht bereits deshalb aus, weil das Berufungsgericht einzelne Tatkomplexe als nicht wirksam in das Disziplinarverfahren einbezogen angesehen hat (vgl. BVerwG, Beschluss vom 29. Oktober 2021 - 2 B 34.21 - juris Rn. 10 ff.). "Die Verfügung" im Sinne des § 21 Satz 2 AGVwGO BW besteht vielmehr fort; nicht einbezogen sind nur weitere Vorwürfe, die Begründungselemente der ursprünglichen Disziplinarverfügung dargestellt hatten. Dem steht der Grundsatz der Einheit des Dienstvergehens nicht entgegen; aus diesem folgt nicht das verfahrensrechtliche Gebot der gleichzeitigen Entscheidung über alle Pflichtenverstöße (vgl. BVerwG, Urteil vom 17. November 2017 - 2 C 25.17 - BVerwGE 160, 370 Rn. 97 m. w. N.).
32 Die grundsätzliche Teilbarkeit der Disziplinarverfügung ergibt sich auch aus dem Wortlaut des § 21 AGVwGO BW, der in Satz 1 eine Aufhebung vorsieht, "soweit" die Verfügung rechtswidrig ist und den Kläger in seinen Rechten verletzt. Wie die Entstehungsgeschichte der Vorschrift bestätigt, soll dies auch bezüglich der in Satz 2 vorgesehenen Bestätigung oder mildernden Änderung gelten (vgl. LT-Drs. 14/2996 S. 148). Zwar stellt die Entscheidung nach Satz 2 entgegen den Vorstellungen des Gesetzgebers keine "Teilaufhebung" der Verfügung dar, weil das Gericht - ungeachtet der dem Dienstherrn zugesprochenen Disziplinarkompetenz (vgl. LT-Drs. 14/2996 S. 147) – hierfür eine eigenständige Bemessungsentscheidung zu treffen hat. Gleichwohl zeigt die Gesetzeshistorie, dass der Gesetzgeber von der Möglichkeit einer gerichtlichen "Teilreparatur" nach Ermessen ausgeht.
33 b) Systematische und teleologische Erwägungen gebieten allerdings, dass die Gerichte nur zurückhaltend von der in § 21 Satz 2 AGVwGO BW eingeräumten Befugnis Gebrauch machen. Die gerichtliche Gestaltungsbefugnis nach § 21 Satz 2 AGVwGO BW (bzw. nach der bundesrechtlichen Parallelvorschrift des § 60 Abs. 2 Satz 2 BDG in der Fassung vom 20. Dezember 2023, BGBl. I Nr. 389) stellt eine Ausnahmeregelung dar, mit der ein Systembruch verbunden ist. Nach der Ausweitung der behördlichen Disziplinarkompetenz soll den Gerichten gerade keine originäre Disziplinargewalt mehr zukommen (vgl. LT-Drs. 14/2996 S. 53). Dementsprechend sieht § 21 Satz 1 AGVwGO BW im Fall der Rechtswidrigkeit der Disziplinarverfügung grundsätzlich ihre Aufhebung vor. Es ist dann Sache der Disziplinarbehörde, eine andere Abschlussverfügung zu erlassen (vgl. LT-Drs. 14/2996 S. 147). Für die Inanspruchnahme des in § 21 Satz 2 AGVwGO BW ausnahmsweise vorgesehenen Ausspruchs einer Disziplinarmaßnahme durch Richterspruch müssen daher besondere Gründe vorliegen. Sie kommt nur in Betracht, wenn die Rechtsverletzung mit der gerichtlichen Entscheidung beseitigt werden kann (vgl. LT-Drs. 14/2996 S. 148; BT-Drs. 20/6435 S. 44).
34 Dass das Berufungsgericht diesen begrenzten Anwendungsbereich verkannt hat und die Norm des § 21 Satz 2 AGVwGO BW entgegen Wortlaut und Zweck - allerdings im Einklang mit einer Bemerkung in den Gesetzesmaterialien (LT-Drs. 14/2996 S. 149) – als eine Sollvorschrift versteht (vgl. neben der angefochtenen Entscheidung etwa das Urteil vom 26. Juli 2017 - DL 13 S 552/16 - juris Rn. 45), hat sich im vorliegenden Fall nicht ausgewirkt, da das Gericht von einer Inanspruchnahme der Abänderungsbefugnis unter Hinweis auf die Aspekte der Verfahrensbeschleunigung und Prozessökonomie abgesehen hat.
35 5. Die Kostenentscheidung folgt aus § 22 AGVwGO BW i. V. m. § 154 Abs. 2 VwGO. Einer gerichtlichen Streitwertfestsetzung bedarf es nicht, weil für das Verfahren streitwertunabhängig Gerichtsgebühren aus den analog anzuwendenden Bestimmungen des Landesrechts erhoben werden (vgl. BVerwG, Urteil vom 21. April 2016 - 2 C 4.15 - BVerwGE 155, 6 Rn. 80 f. und Beschluss vom 29. Oktober 2021 - 2 B 34.21 - juris Rn. 24).